Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik


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Ring. Davor klaffte ein Abgrund über unendlicher Schwärze. Ein schmaler Übergang, der ständig in Bewegung war, führte auf einen zweiten kleineren Ring. Im Zentrum, verbunden durch eine starre Steinbrücke, ragte eine monolithische, kreisrunde Plattform in die Höhe. Ein goldenes Licht beschien das Zentrum, in dem etwas stand.

      Jen kniff die Augen zusammen.

      Alex bemerkte sofort, dass sie ihren Weitblick einsetzte, den er bisher noch immer nicht meistern konnte. Abgesehen von einem leichten Zoom auf bestimmte Stellen, wirkte alles andere unscharf.

      »Da liegt ein verkorkter Glaszylinder«, flüsterte sie. »Im Inneren befindet sich eine klare Flüssigkeit, in der Buchstaben schwimmen.«

      »Bitte?«

      »Wirklich. Schwarze Buchstaben aus Tinte. Aber sie zerfließen nicht. Das ist brillant. Man muss den Zauber trinken.«

      Alex lachte auf. »Hoffentlich hat er einen guten Geschmack.«

      Die Schattenfrau war ebenfalls nicht zu übersehen. Sie verharrte bewegungslos auf den Bodenplatten des zweiten rotierenden Steinrings.

      Jen und er sprangen gleichzeitig voran, hielten die Spitzen ihrer Essenzstäbe auf die schwarz-umwölkte Silhouette gerichtet. Doch nichts geschah.

      »Was ist mit ihr?«, flüsterte Alex.

      »Sie hängt wohl fest«, gab Jen zurück. »Wir hätten Nostradamus fragen sollen, was er da angestellt hat.«

      »Wir könnten einfach einen Kraftschlag abfeuern«, schlug er vor.

      »Und sie damit versehentlich befreien?«

      »Gutes Argument.« Langsam pirschten sie sich heran. Als der Steg an ihnen vorbeiglitt, sprangen sie auf und rannten darüber hinweg zum zweiten Ring. Beinahe wäre Jen gestolpert, doch Alex griff zu und bewahrte sie so vor einem Sturz.

      »Puh, das sieht tief aus. Der Aufprall tut bestimmt weh.«

      »Wenn es einen Aufprall gibt.«

      »Bitte?«

      »Dimensionsfalten«, erklärte Jen. »Theoretisch könntest du ewig fallen, unbemerkt wieder höher ankommen und wiederum tiefer fallen. Ein ewiger Kreislauf.«

      »Echt, manchmal habt ihr Magier einen an der Klatsche.«

      »Wir, mein lieber Ex-Nimag, wir.«

      »Ah, richtig. Aber hey, ich bin noch nichtmagisch geerdet.«

      »Manch einer wäre nicht stolz darauf.« Sie zwinkerte frech.

      Sie erreichten die Schattenfrau.

      Einer Statue gleich stand sie auf dem zweiten Ring. Das Nebelfeld um sie herum schien in der Luft eingefroren zu sein. Trotzdem war das Feld dicht, nur ihre Silhouette erkennbar.

      »Kannst du den Nebel irgendwie entfernen?«, fragte Alex. »Ich würde zu gerne wissen, wer da druntersteckt.«

      »Wüssten wir alle gerne«, seufzte sie. »Aber das ist zu riskant.« Sie ging ganz nah heran, bis ihr Gesicht direkt vor dem der unbekannten Frau schwebte. »Man sieht nicht das Geringste.«

      »Das ist der Sinn davon«, meinte die Schattenfrau.

      Aufschreiend sprang Jen zurück, krachte gegen Alex. Mit rudernden Armen kippten sie nach hinten.

      Sein Essenzstab fiel über den Rand des Stegs und segelte in den Abgrund, direkt neben jenem von Jen.

      »Oh nein, die braucht ihr noch.« Sie machte eine Handbewegung, worauf die beiden Stäbe zu ihren Besitzern zurückkehrten.

      Jen kam in die Höhe, sprang zurück und wob blitzartig eine Schutzsphäre. Alex wollte zur Seite rollen, besann sich dann aber des Abgrunds und kam stattdessen neben ihr zum Stehen.

      »Überrascht?«, drang eine verzerrte Stimme aus dem Schatten. »Dachte Nostradamus tatsächlich, dass mich diese kleine Falle aufhalten könnte? Ich muss wirklich sagen, seine Vorgänger besaßen mehr Einfallsreichtum.«

      »Scheinbar hat es dir ja lange genug Einhalt geboten.« Fieberhaft suchte Alex nach einem guten Angriffszauber.

      Irgendwie hatte er einen Teil von diesen aber wieder vergessen. Es war tückisch. Zuerst kam das Wissen einfach so, dann verschwand es jedoch, vertiefte man es nicht durch Studien. Da er bisher keinen Essenzstab besessen hatte, war ihm die Vorlesung in Offensivmagie überflüssig erschienen.

      »Sieh an, unser kleiner, vorlauter Neuerweckter«, säuselte die Schattenfrau. »Alexander Kent. Wie immer hast du ein großes Mundwerk.«

      »Wie immer?«

      Sie lachte. Es war ein böses, tiefgehendes Lachen. »Es wird Zeit, dass ich den Plan vollende und euch endlich erledige. Also, wer will anfangen?«

      18. Contego Maxima

      Eine Gänsehaut kroch Jens Arme empor. Sie konnte den Hass spüren, der von der Schattenfrau ausging. Eine tiefsitzende Abscheu, die sich gegen Alex und sie richtete. Nun, wohl eher gegen das, was sie repräsentierten: die Lichtkämpfer, den Wall, das Gute.

      Bevor Jen eine Strategie durchdenken konnte, preschte Alex vor. Er hob den Essenzstab und feuerte einen Kraftschlag gegen die Schattenfrau ab. Sie konterte ihn mühelos mit ihrem Stab, der ebenfalls von Schatten verborgen war. Sie legte großen Wert darauf, nicht den Hauch eines Hinweises auf ihre wahre Identität preiszugeben. Vermutlich hatte sie deshalb so lange überleben können.

      »Niedlich. Aber wenn Erwachsene reden, sollten kleine Schmarotzer aus den Slums schön brav und still sein.« Sie machte einen Schwenk mit ihrem Stab, der eine graue Spur in der Luft hinterließ. Dazu murmelte sie ein Wort.

      Der Effekt auf Alex hätte nicht schlimmer sein können.

      Eine unsichtbare Kraft packte ihn am Hals und hob ihn in die Luft. Wieder fiel sein Stab zu Boden, als er gegen den grauenhaften, ungreifbaren Feind anzukämpfen versuchte. Langsam schwebte er seitlich über die Stege und den Abgrund, röchelte, weil er kaum noch Luft bekam.

      Jen wollte den Zauber zerstören, doch jeder Versuch prallte davon ab.

      »Also, wo waren wir? Richtig, ich will das Contego Maxima, und ich bekomme es auch, dank euch.«

      »Wir werden dir keinesfalls helfen.«

      »Jennifer, Jen, das habt ihr doch schon«, frohlockte die Feindin. »So berechenbar, wirklich peinlich. Warum glaubst du, habe ich Nostradamus gefangen und sein Blut hinterlassen. Oh ja, das war ich. Nach seiner Bewusstlosigkeit habe ich ihm einen Schnitt verpasst und Blutstropfen zurückgelassen.«

      »Du wolltest, dass wir eine Spur erschaffen?«

      »Offensichtlich.« Langsam ging die Schattenfrau auf den Steg zu, der auf das innere Podest führte. Sie feuerte einen Kraftschlag aus, der gegen ein unsichtbares Hindernis prallte. »Auf dem Weg zu Nostradamus seid ihr durch den Raum der Erinnerungen gegangen. Ich wusste, dass euch das entzweit. Und damit blieb nur eine Möglichkeit, euch beide wieder zu einem Team zu machen.«

      »Das Unum«, flüsterte Jen. »Du wolltest, dass Nostradamus die Diskrepanzen zwischen Alex und mir aufhebt.«

      Die Schattenfrau klatschte, wobei ihr Essenzstab einfach vor ihr in der Luft hängen blieb. »Schlau. Nein, ehrlich gesagt ist es nur offensichtlich, da ich es dir ja gerade erkläre.«

      »Wozu?«

      »Tja, das ist die entscheidende Frage, nicht wahr, ihr zwei? Ich würde dir so gerne die einzig wahre Antwort auf diese Frage geben.« Die Stimme der Schattenfrau vibrierte voll angestautem Hass. »Aber ein wenig Geduld muss ich da wohl noch beweisen. Ihr beiden seid eine Pest. Unkraut, das ich ausmerzen werde. Doch heute brauche ich eure Hilfe. Die Hilfe der Magier mit den seelenverwandten Stäben.«

      Jen zuckte zusammen. Wie konnte sie das wissen? Alex hatte seinen Stab erst vor