Артур Шницлер

Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler


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Hugo, geradeso wie er gekommen, aus dem Haus wieder verschwinden konnte zu einer, die ihm heute mehr bedeutete als sie —? Es war nicht viel Zeit zu versäumen. Rasch riegelte sie ihre Türe auf, trat in den kleinen Salon und stand vor Hugos Tür. Einen Augenblick zögerte sie, horchte, hörte nichts und öffnete hastig.

      Hugo saß auf seinem Diwan und starrte der Mutter entgegen, wie aus wüstem Schlafe aufgeschreckt, mit weiten Augen. Über seine Stirne huschten sonderbare Schatten von dem unsichern Licht der elektrischen Lampe, die, grün beschirmt, auf dem Tisch mitten im Zimmer stand. Beate blieb eine Weile an der Türe stehen, Hugo warf den Kopf zurück, es schien, als wollte er sich erheben; doch er blieb sitzen, die Arme von sich gestreckt, die Hände flach auf den Diwan gestützt. Beate fühlte die Starrheit dieses Augenblickes mit herzrührender Pein. Ein Schreck ohnegleichen griff an ihre Seele; und sie sagte sich: er weiß alles. Was wird geschehen? dachte sie noch im selben Atemzug. Sie trat auf ihn zu, zwang sich zu einer heitern Miene und fragte: »Du hast geschlafen, Hugo?« »Nein, Mutter,« erwiderte er, »ich bin nur so gelegen.« Sie blickte in ein blasses, zerquältes Kindergesicht; ein unsägliches Mitleid, in dem ihr eigner Jammer untergehen wollte, stieg in ihr auf, sie legte, schüchtern noch, die Finger auf seine wirren Haare, umfaßte seinen Kopf, setzte sich neben ihn, und zärtlich begann sie: »Na, mein Bub«, — doch wußte sie nichts weiter zu sagen. Seine Mienen verzerrten sich gewaltsam; sie nahm seine Hände, er drückte sie wie zerstreut, streichelte ihre Finger, blickte nach der Seite, sein Lächeln wurde maskenhaft, seine Augen röteten sich, seine Brust begann sich zu heben und zu senken, mit einemmal glitt er vom Diwan, lag der Mutter zu Füßen, den Kopf in ihrem Schoß und weinte bitterlich. Beate, zutiefst erschüttert und doch irgendwie befreit, da sie fühlte, daß er ihr nicht entfremdet war, sprach vorerst kein Wort, ließ ihn weinen, wühlte sanft in seinen Haaren und fragte sich in Herzensangst: Was mag geschehen sein? Und tröstete sich gleich wieder: vielleicht nichts Besonderes. Nichts anderes vielleicht, als daß ihm die Nerven versagen. Und sie erinnerte sich ganz ähnlicher krampfhafter Anfälle, denen ihr verstorbener Gatte unterworfen gewesen war, aus scheinbar nichtigen Gründen; nach der Erregung durch irgendeine große Rolle, nach irgendeinem Erlebnis, das seine Komödianteneitelkeit verletzt hatte, oder scheinbar ganz ohne Grund, wenigstens ohne einen, den sie zu entdecken vermochte. Und mit einemmal stieg es in ihr auf, ob sich Ferdinand nicht am Ende manchmal in ihrem Schoß von Enttäuschungen und Qualen ausgeweint, die er bei einer andern Frau erduldet hatte? Aber was kümmerte sie das! Was immer er begangen, er hatte gesühnt, und alles das war weit, so weit. Ihr Sohn war es ja, der heute in ihrem Schoße weinte, und sie wußte nun, daß er’s um Fortunatens willen tat. Mit welchem Weh griff dieser Anblick an ihr Herz. In welche Tiefen versank ihr eigenes Erlebnis nun, da sie sich der Seelenpein ihres Sohnes gegenüberfand. Wohin schwand ihre Schmach und Qual und Todessehnsucht vor dem brennenden Wunsch, das geliebte Menschenkind aufzurichten, das in ihrem Schoße weinte. Und im überquellenden Drang ihm wohlzutun, flüsterte sie: »Wein nicht, mein Bub. Es wird schon alles wieder gut werden.« Und wie er den Kopf in ihrem Schoß zu einem »Nein« bewegte, wiederholte sie in festerem Ton: »Alles wird wieder gut, glaube mir.« Und sie erkannte, daß sie dies Wort des Trostes nicht nur an Hugo, daß sie es auch an sich selber gerichtet hatte. Wenn es in ihrer Macht stand, ihrem Sohne wieder aus der Verzweiflung emporzuhelfen, ihn mit neuem Daseinsmut zu erfüllen, so mußte aus diesem Bewußtsein allein, mehr noch aus seinem Dank, aus seinem Wieder-ihr-gehören ihr selbst Möglichkeit, Pflicht und Kraft des Weiterlebens neu erstehen. Und mit einemmal tauchte das Bild jener phantastischen Landschaft in ihr empor, in der mit Hugo wandelnd sie sich früher geträumt hatte; und verheißungsvoll mit heraufschwebte der Gedanke: wenn ich mit Hugo die Reise unternähme, die ich ja schon geplant, ehe die furchtbare Stunde an mir vorbeigezogen? Und wenn wir von dieser Reise nicht in die Heimat wiederkehrten? Und draußen in der Fremde, fern von allen Menschen, die wir gekannt haben, in einer reinen Luft, ein neues, ein schöneres Leben anfingen?

      Da hob er plötzlich das Haupt aus ihrem Schoß, mit irren Augen, verzerrten Lippen, und heiser schrie er: »Nein, nein, es wird nicht wieder gut.« Und erhob sich, sah die Mutter wie abwesend an, tat ein paar Schritte zum Tisch hin, als suchte er dort etwas, ging dann einige Male im Zimmer hin und her mit gesenktem Kopf und blieb endlich regungslos am Fenster stehen, den Blick in die Nacht gewandt. »Hugo«, rief die Mutter, die ihm mit den Augen gefolgt war, aber sich nicht fähig fühlte, vom Diwan aufzustehen. Und noch einmal flehend: »Hugo, mein Bub!« Dann wandte er sich nach ihr um, wieder mit jenem starren Lächeln, das ihr nun schon weher tat als sein Aufschrei. Und bebend fragte sie wieder: »Was ist geschehen?«

      »Nichts, Mutter«, erwiderte er mit einer Art von entrückter Heiterkeit.

      Nun stand sie entschlossen auf und trat zu ihm. »Weißt du denn, warum ich zu dir hereingekommen bin?« Er sah sie nur an. »Nun, rat einmal.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab dich fragen wollen, ob du nicht mit mir eine kleine Reise machen möchtest.« »Eine Reise«, wiederholte er scheinbar verständnislos.

      »Ja, Hugo, eine Reise — nach Italien. Wir haben ja Zeit, die Schule beginnt erst in drei Wochen. Bis dahin können wir lange zurück sein. Nun, wie denkst du darüber?« »Ich weiß nicht«, antwortete er. Sie legte den Arm um seinen Hals. Wie ähnlich er Ferdinand sieht, dachte sie plötzlich. Einmal hat er einen ganz jungen Burschen gespielt, da hat er geradeso ausgesehen. Und sie scherzte: »Also, wenn du’s nicht weißt, Hugo, ich weiß es ganz bestimmt, daß wir reisen werden. Ja, mein Bub, darüber ist gar nichts mehr zu reden. Und jetzt, trockne dir deine Augen, kühl’ dir deine Stirn, und wir wollen zusammen fortgehen.« »Fortgehen?« »Ja, natürlich! Es ist Sonntag, und es gibt zu Hause kein Nachtmahl. Auch haben wir ja Rendezvous mit den andern, unten im Hotel. Und die Mondscheinpartie über den See! weißt du denn nicht, die soll doch auch heute stattfinden.« »Willst du nicht lieber allein gehen, Mutter? Ich könnte dir ja später nachkommen.« Eine wahnwitzige Angst ergriff sie plötzlich. Wollte er sie forthaben? Und warum? Um Himmels willen! Sie drängte den entsetzlichen Gedanken zurück. Und beherrscht sagte sie: »Du hast wohl noch keinen Appetit?« »Nein«, erwiderte er. »Ich eigentlich auch nicht. Wie wär’s, wenn wir zuerst ein bißchen spazieren gingen?« »Spazieren?« »Ja, und dann auf einem kleinen Umweg ins Seehotel.« Er zögerte eine Weile. Sie stand da in angespannter Erwartung. Endlich nickte er. »Gut, Mutter. Mach dich nur fertig.« »Oh, ich bin’s, ich muß nur den Mantel umnehmen.« Sie rührte sich nicht fort. Er schien darauf nicht achtzuhaben, trat an sein Waschbecken, goß sich aus dem Krug Wasser in die Hand und kühlte sich Stirn, Augen und Wangen. Dann strich er mit dem Kamm flüchtig ein paarmal durch die Haare. »Ja, mach’ dich nur schön«, sagte Beate. Und beklemmend fiel ihr ein, wie oft sie diese gleichen Worte in längstvergangenen Zeiten zu Ferdinand gesagt hatte, wenn er sich bereitete fortzugehen … weiß Gott wohin … Hugo nahm seinen Hut und sagte lächelnd: »Ich bin fertig, Mutter.« Sie eilte nun rasch in ihr Zimmer, holte ihren Mantel und knöpfte ihn erst zu, als sie wieder bei Hugo im Zimmer war, der sie ruhig erwartet hatte. »Also komm«, sagte sie dann.

      Als sie beide aus dem Hause traten, kam eben das Mädchen von seinem Sonntagsausgang zurück. So untertänig es grüßte, Beate erkannte mit einemmal an einem fast unmerklichen Augensenken dieser Person, daß sie alles wußte, was im Laufe der letzten Wochen hier im Hause vorgegangen war. — Doch lag ihr wenig daran. Alles war ihr nun gleichgültig gegenüber dem Glücksgefühl, dem langentbehrten, daß sie Hugo an ihrer Seite hatte.

      Sie spazierten zwischen den Wiesen weiter, unter dem stummen Nachtblau des Himmels, nahe nebeneinander, und so rasch, als hätten sie ein Ziel. Anfangs sprachen sie kein Wort. Doch ehe sie in das Dunkel des Waldes traten, wandte sich Beate an ihren Sohn: »Willst du dich nicht einhängen, Hugo?« Er nahm ihren Arm, und ihr ward wohler zumut. Sie gingen weiter im schweren Schatten der Bäume, durch deren dichtes Geäst von Stelle zu Stelle ein Lichtschein aus einer der in der Tiefe liegenden Villen durchbrach. Beate ließ ihre Hand auf die Hugos gleiten, streichelte sie, hob sie dann zu ihren Lippen und küßte sie. Er ließ es geschehen. Nein, er wußte nichts von ihr. Oder nahm er es nur hin? Verstand er es, obwohl sie seine Mutter war? Bald kamen sie durch einen breiten grünlich-blauen Lichtstreifen, der vor das Parktor der Welponerschen Villa fiel. Nun hätten sie einander von Angesicht zu Angesicht sehen können, aber sie blickten weiter vor sich ins Dunkle, das sie gleich wieder aufnahm. In diesem Teil des Waldes war die Finsternis so dicht, daß sie ihre Schritte verlangsamen mußten, um nicht zu