Артур Шницлер

Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler


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als müßte aus der Wirrheit dieses Tages, der voll von Rätseln war, voll alter und neuer, endlich irgendwoher eine Antwort kommen. Sie griff mit beiden Händen in die Luft, als wollte sie dort irgend etwas Zerflatterndes fassen. Sie ließ sich von der Steuerbank heruntergleiten und saß nun zu Hugos Füßen. »So rede doch,« begann sie, »du kannst mir alles sagen, brauchst keine Scheu zu haben, ich versteh ja alles! Alles. Ich bin deine Mutter, Hugo, und ich bin eine Frau. Bedenke das, auch eine Frau bin ich. Du mußt nicht fürchten, daß du mich verletzen, mein Zartgefühl beleidigen könntest. Ich habe viel mitgemacht in dieser letzten Zeit. Ich bin ja noch keine … alte Frau. Ich verstehe alles. Zu viel, mein Sohn … Du mußt nicht denken, daß wir gar so weit voneinander sind, Hugo, und daß es Dinge gibt, die man mir nicht sagen darf.« Sie fühlte mit verwirrtem Staunen, wie sie sich preisgab, wie sie lockte. »Oh, wenn du wüßtest, Hugo, wenn du wüßtest.« Und die Antwort kam: »Ich weiß, Mutter.«

      Beate erbebte. Doch sie empfand keine Scham mehr, nur ein erlösendes Bewußtsein von Ihm-näher-sein und Zu-ihm-gehören. Sie saß ihm zu Füßen auf dem Grund des Bootes und nahm seine Hände in die ihren. »Erzähle«, flüsterte sie.

      Und er sprach, aber er erzählte nichts. Mit dumpfen abgerissenen Worten erklärte er nur, daß er niemals wieder unter Menschen sich zeigen könne. Was heute mit ihm geschehen war, das jagte ihn für immer aus dem Bereich alles Lebens.

      »Was, was ist geschehen?«

      »Ich bin nicht bei Sinnen gewesen. — Ich weiß nicht, was geschehen ist. Sie haben mich betrunken gemacht.«

      »Sie haben dich betrunken gemacht? Wer, wer? — Du warst — nicht allein mit Fortunata?« Es fiel ihr ein, daß sie ihn neulich in Gesellschaft von Wilhelmine Fallehn und dem Kunstreiter gesehen hatte. Die also waren dort gewesen? Und mit erstickender Stimme fragte sie noch einmal: »Was ist geschehen?« Doch ohne daß Hugo antwortete, wußte sie’s schon. Ein Bild malte sich vor ihren Augen in die Nacht, von dem sie entsetzt die Blicke fortwenden wollte, das ihr aber schamlos frech hinter die geschlossenen Lider folgte. Und in neuer schreckensvoller Ahnung, die Augen wieder öffnend und starr auf Hugos stumm gepreßte Lippen richtend, die sie doch nicht zu sehen vermochte, fragte sie: »Seit heute weißt du? Dort haben sie dir’s gesagt?«

      Er erwiderte nichts, doch ein Zucken lief durch seinen ganzen Körper, so wild, daß es ihn willenlos auf den Grund des Bootes warf, an Beatens Seite hin. Sie stöhnte einmal nur auf, verzweifelnd, und in einem Schauer unsäglicher Verlassenheit faßte sie von neuem nach Hugos fiebrig zitternden Händen, die ihr entglitten waren. Nun überließ er sie ihr, und das tat ihr wohl. Sie zog ihn näher zu sich heran, drängte sich an ihn; eine schmerzliche Sehnsucht stieg aus der Tiefe ihrer Seele auf und flutete dunkel in die seine über. Und beiden war es, als triebe ihr Kahn, der doch fast stille stand, weiter und weiter, in wachsender Schnelle. Wohin trieb er sie? Durch welchen Traum ohne Ziel? Nach welcher Welt ohne Gebot? Mußte er jemals wieder ans Land? Durfte er je? Zu gleicher Fahrt waren sie verbunden, der Himmel barg für sie in seinen Wolken keinen Morgen mehr; und im verführerischen Vorgefühl der ewigen Nacht gaben sie die vergehenden Lippen einander hin. Ruderlos glitt der Kahn fort, nach fernsten Ufern, und Beate war es, als küßte sie in dieser Stunde einen, den sie nie gekannt hatte und der ihr Gatte gewesen war, zum erstenmal. Als sie ihre Besinnung wiederkehren fühlte, war ihr noch so viel Seelenkraft geschenkt, um sich vor völligem Wachwerden zu bewahren. Hugos beide Hände gefaßt haltend, schwang sie sich auf den Rand des Kahnes. Als sich das Schiff zur Seite neigte, öffneten sich Hugos Augen zu einem Blick, in dem ein Schimmer von Angst ihn zum letztenmal mit dem gemeinen Los der Menschen verbinden wollte. Beate zog den Geliebten, den Sohn, den Todgeweihten, an ihre Brust. Verstehend, verzeihend, erlöst schloß er die Augen; die ihren aber faßten noch einmal die in drohendem Dämmer aufsteigenden grauen Ufer, und ehe die lauen Wellen sich zwischen ihre Lider drängten, trank ihr sterbender Blick die letzten Schatten der verlöschenden Welt.

       Der Sohn

       Inhaltsverzeichnis

      Aus den Papieren eines Arztes

      Ich sitze noch um Mitternacht an meinem Schreibtisch. Der Gedanke an jene unglückliche Frau läßt mich nicht zur Ruhe kommen… Ich denke an das düstere Hofzimmer mit den altertümlichen Bildern; an das Bett mit dem blutgeröteten Polster, auf dem ihr blasser Kopf mit den halbgeschlossenen Augen ruhte. Ein so trüber Regenmorgen war es überdies. Und in der andern Zimmerecke, auf einem Stuhle, die Beine übereinandergeschlagen, mit trotzigem Gesichte, saß er, der Unselige, der Sohn, der das Beil gegen das Haupt der Mutter erhoben… Ja, es gibt solche Menschen, und sie sind nicht immer wahnsinnig! Ich sah mir dieses trotzige Gesicht an, ich versuchte darin zu lesen. Ein böses, bleiches Antlitz, nicht häßlich, nicht dumm, mit blutleeren Lippen, die Augen verdüstert, das Kinn in dem zerknitterten Hemdkragen vergraben, um den Hals eine flatternde Binde, deren eines Ende er zwischen den schmalen Fingern hin und her drehte. – So wartete er auf die Polizei, die ihn wegführen sollte. Unterdessen stand einer, der achthatte, vor der Türe draußen. Ich hatte die Schläfe der unglücklichen Mutter verbunden; die Arme war bewußtlos. Ich verließ sie, nachdem eine Frau aus der Nachbarschaft sich erboten, bei ihr zu wachen. Auf der Stiege begegneten mir die Gendarmen, welche den Muttermörder abholen kamen. Die Bewohner des Vorstadthauses waren in heftiger Erregung; vor der Wohnungstüre standen sie in Gruppen und besprachen das traurige Ereignis. Einige fragten mich auch, wie es da oben stehe und ob Hoffnung für das Leben der Verletzten vorhanden sei. Ich konnte keine bestimmte Antwort geben.

      Eine mir bekannte, nicht mehr ganz junge Person, die Frau eines kleinen Beamten, zu dem ich früher als Arzt gekommen war, hielt mich etwas länger auf. Sie lehnte am Stiegengeländer und schien ganz vernichtet. »Das ist noch weit schrecklicher als Sie denken, Herr Doktor!« sagte sie, den Kopf schüttelnd. – »Noch schrecklicher?« fragte ich. – »Ja, Herr Doktor! – Wenn Sie wüßten, wie sie ihn geliebt hat!« – »Sie hat ihn geliebt?« – »Ja, sie hat ihn verwöhnt, verzärtelt.« – »Diesen Burschen!? Und warum?« – »Ja, warum!… Sehen Sie, Herr Doktor, der Junge war ungeraten von Kindesbeinen auf. Aber alles ließ sie ihm hingehen… die schlimmsten Streiche verzieh sie ihm… Wir im Hause mußten sie oft warnen, der Tunichtgut betrank sich schon als Knabe, und erst als er älter wurde… diese Geschichten!« – »Was für Geschichten?« – »Für kurze Zeit war er in einem Geschäft, aber er mußte wieder weg!« – »Er mußte?« – »Ja, er stellte alles mögliche an; er bestahl sogar seinen Dienstherrn… Die Mutter ersetzte das Geld, die arme Frau, die kaum selbst zu leben hatte!« –

      »Was ist sie den eigentlich?«

      »Sie nähte und stickte; es war ein recht karges Auskommen. Und der Junge, statt sie zu unterstützen, trug ihr das bißchen, was sie verdiente, ins Wirtshaus und weiß Gott wohin. Damit war’s aber nicht genug. Das Eßzeug, zwei, drei Bilder, die Wanduhr, fast alles, was nicht angenagelt war, wanderte ins Leihhaus… !« –

      »Und sie hat es geduldet?« –

      »Geduldet?! – Sie liebte ihn immer mehr! Wir alle haben es nicht begriffen… Und nun wollte er Geld… Sie gab ihm, was sie hatte… Er drohte ihr, er mußte Geld haben!«

      »Woher wissen Sie das alles?«

      »Man erfährt das so im Hause. Sein Schreien hörte man oft durchs Stiegenhaus, und wenn er in der Nacht oder auch bei Tag betrunken nach Hause kam, fing er schon bei der Türe an zu brummen und zu schelten. Die arme Frau hatte Schulden überall: es gab manchmal kein Brot da oben… Wir im Hause halfen ihr manchmal aus, obwohl es unter uns keine Reichen gibt. Aber es wurde nur ärger. Sie schien ganz verblendet zu sein. Alles hielt sie für Jugendstreiche; sie bat uns manchmal um Entschuldigung, wenn der Bursch in der Nacht über die Stiege torkelte und Lärm machte. Ja, so ein Sohn war das, Herr Doktor. – Aber daß es so weit gekommen ist…« Und nun erzählte sie mir die ganze Geschichte: »Er kam heute erst früh am Morgen heim; ich hörte ihn hier vor unserer Wohnung über die Stufen stolpern. Dabei sang er etwas mit seiner heiseren Stimme. Nun, und oben wird er wieder Geld verlangt haben. Die Türe hat er offen gelassen – bis zu uns herab… denken Sie, vom vierten bis in den zweiten Stock – hörte man sein