zu beschäftigen begann. Er führte nicht nur die Krankengeschichten seiner Patienten auf das sorgfältigste, sondern war auch bemüht, die allmählich entstandenen Lücken seines theoretischen Wissens durch 55 das Studium medizinischer Werke und Zeitschriften so sehr als möglich auszufüllen. Aber wenn er sich auch klar darüber war, daß all dies auf die Wirkung von Sabinens Persönlichkeit zurückzuführen sei, so wehrte er sich doch weiter dagegen, eine ernstliche Hoffnung auf den Besitz des jungen Mädchens in sich aufkommen zu lassen; und selbst wenn er ganz leicht, im Spiel der Gedanken, die Möglichkeit einer Werbung erwog und nun den weiteren Verlauf eines mit Sabinen gemeinsamen Schicksals innerlich zu verfolgen suchte, so erschien ihm ungerufen die in diesem Zusammenhang höchst unliebsame Gestalt des Hoteldirektors auf Lanzarote, wie er den ältlichen Doktor und dessen junge Frau mit einem impertinenten Lächeln an der Türe des Hotels empfing; und diese Erscheinung zeigte sich so regelmäßig, als wäre Lanzarote der einzige Ort, an dem Gräsler im Winter seine Praxis ausüben, und als wäre der Direktor der einzige lebende Mensch, der sein junges Eheglück gefährden könnte.
Gegen Ende der Woche einmal begegnete Gräsler Sabinen vormittags im Städtchen, wo sie 56 Einkäufe zu besorgen hatte. Sie fragte ihn, warum er sich so lange nicht sehen ließe. »Es kommen so wenig Menschen zu uns,« sagte sie, »und mit wenigen läßt sich was Gescheites reden. Das nächste Mal müssen Sie uns auch mehr aus Ihrem Leben erzählen. Man möchte doch auch was von all den Dingen zu hören bekommen!« Ihre Augen erglänzten in milder Sehnsucht.
»Wenn Sie glauben, Fräulein Sabine, daß das Leben draußen in der Welt soviel Interessantes zu bieten hat, wie kommt’s nur, daß Sie hier so in der Stille sitzen?«
»Es wird vielleicht nicht immer so bleiben,« erwiderte sie einfach. »Und es war ja einmal schon ein wenig anders. Im übrigen wünsche ich mir’s für die Gegenwart kaum besser, als ich’s habe.« Und die Sehnsucht in ihren Augen war verglommen.
5.
Seinen nächsten Besuch im Forsthause unternahm Doktor Gräsler nicht ganz unvorbereitet. Aus 57 seinen Erinnerungen hatte er allerlei zusammengesucht, das des Erzählens wert erscheinen mochte, und war freilich anfangs ein wenig betrübt gewesen, daß ein äußerlich leidlich bewegtes Leben bei näherer Betrachtung an eigentlichem Inhalt sich so ärmlich erwies. Immerhin gab es den einen oder den andern Vorfall, der einem Abenteuer zum mindesten recht ähnlich sah. So hatte er auf einer Südseeinsel einen kleinen Überfall durch Eingeborene mitgemacht, bei welcher Gelegenheit sogar ein Schiffsleutnant getötet worden war; der Selbstmord eines Liebespaares auf hoher See, ein Zyklon in den indischen Gewässern, die Landung in einem japanischen Küstenort, der tags zuvor durch ein Erdbeben zerstört worden war, die Nacht in einer Opiumhöhle, deren Abschluß man allerdings zum Vortrag im Familienkreis ein wenig verändern mußte, all dies mochte sich anregend genug berichten lassen; überdies waren ihm manche seiner Patienten aus Badeorten, – Hochstapler, Sonderlinge, sogar ein russischer Großfürst, der im Winter darauf ermordet worden war und es vorhergeahnt hatte – mit genügender 58 Deutlichkeit im Gedächtnis geblieben. Und als er an einem linden Sommerabend bei Schleheims, lässig an die Brüstung der Veranda gelehnt, auf eine zufällige Frage Karls hin zu erzählen anfing, da merkte er, daß ihm während des Erzählens manche seiner verblaßten Erinnerungen heller und lebendiger wurden, daß allerlei längst Vergessenes aus der Tiefe seiner Seele emporstieg; und in irgend einem Augenblick war er sogar von einer ihm bisher unbekannt gebliebenen Fähigkeit zwiespältig überrascht: daß er nämlich seinem Gedächtnis, wenn es da oder dort versagen wollte, durch freie Erfindung nachzuhelfen imstande war. Doch nahm er dies um so weniger schwer, als er auf solche Art das lange nicht mehr genossene Vergnügen kosten durfte, eine gute Weile die Hauptperson eines wohlgeneigten Kreises zu bedeuten und es ihm vorbehalten war, in die verträumte Waldhausstille den verführerischen Nachhall eines für ihn selbst beinahe verklungenen Lebens zu bringen.
Ein nächstes Mal, während Sabine und ihre Mutter, was selten genug geschah, im Garten 59 Besuch empfingen, saß er auf der Veranda allein mit dem alten Sänger, der heute lebhafter als je von seinem früheren Wirken an Stadttheatern und kleineren Hofbühnen erzählte, immer in einem Ton, als wäre es ein besonders reiches und stolzes Leben, dem er nun nachzuklagen hätte. Obzwar ihm nach dem allzufrühen Verlust der Stimme durch Vermittelung seines wohlhabenden Schwiegervaters, eines Weinhändlers aus den Rheinlanden, der Übergang in einen bürgerlichen Beruf offen gestanden wäre, hatte er sich doch für die Flucht in die Natur und in die Einsamkeit entschieden, wo er nicht unaufhörlich wie im städtischen Leben daran gemahnt werden konnte, was ihm verloren, und sich ungestörter an dem freuen durfte, was ihm geblieben war: am Glück der Häuslichkeit – was er nicht ohne Ironie aussprach – und an der Vortrefflichkeit seiner Kinder, welche Eigenschaft er wieder fast bedauernd festzustellen schien. »Ja, wenn Sabine,« bemerkte er dunkel, »mit meiner Begabung auch mein Temperament geerbt hätte, welch eine Zukunft wäre ihr erblüht!« Und er erzählte, daß 60 sie in Berlin, wo sie bei Verwandten seiner Frau ein seines Erachtens allzu bürgerliches Heim gefunden, eine Zeitlang Gesangs-und Bühnenstudien getrieben, diese aber aus einer unüberwindlichen Abneigung gegen den freien Ton ihrer jungen Kollegen und Kolleginnen wieder aufgegeben hätte. »Fräulein Sabine,« bemerkte darauf Gräsler – und nickte zustimmend –»hat eine wahrhaft reine Seele.«
»Ja, die hat sie wohl! Aber was will das besagen, mein bester Herr Doktor, gegenüber dem ungeheueren Gewinn, das Leben kennenzulernen in all seinen Höhen und Tiefen! Ist das nicht besser, als seine Seele rein zu bewahren?« Er blickte ins Weite; dann in verdrossenem Tone fuhr er fort: »So hat sie denn eines Tages all ihre oder vielmehr meine Pläne von Kunst und Ruhm fahren lassen und – wohl mit bewußter Betonung des Gegensatzes – sich in einen Kursus über Krankenpflege einschreiben lassen, für welchen Beruf sie plötzlich besondere Eignung in sich zu entdecken glaubte.«
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Es scheint 61 aber, daß auch dieser Beruf Fräulein Sabine keine völlige Befriedigung verschafft hat; da sie ihn nach wenigen Jahren aufgab, wenn ich neulich recht verstanden habe?«
»Damit hat es eine eigene Bewandtnis,« erwiderte Schleheim. »Als Pflegerin lernte sie einen jungen Arzt kennen, mit dem sie sich verlobte. Ein sehr tüchtiger junger Arzt, wie behauptet wurde, der zu den größten Hoffnungen berechtigte. Ich selbst hatte nicht mehr Gelegenheit, ihn kennenzulernen …« Er endete leise und rasch, da Karl eben vorbeigelaufen kam. »Der junge Mensch ist leider gestorben.«
»Gestorben,« wiederholte Gräsler vor sich hin und ohne tiefere Anteilnahme.
Karl hatte zu melden, daß unter den Tannen der Kaffee bereit stände. Die Herren begaben sich in den Garten, und der Doktor wurde den Besucherinnen vorgestellt, einer Witwe mit ihren zwei Töchtern, die, beide etwas jünger als Sabine, ihm vom Angesichte wohlbekannt waren, gleich wie er ihnen, so daß bei Kaffee und Kuchen bald eine unbefangen heitere Unterhaltung in Gang kam. 62 Die beiden Fräulein hatten Gelegenheit, den Herrn Doktor an jedem Nachmittag um dreiviertel drei von ihrem Fenster aus, wo sie zu dieser Zeit natürlich immer mit Näharbeiten beschäftigt wären, aus dem Gasthof treten zu sehen, wobei er, wie sie behaupteten, ganz regelmäßig seine Taschenuhr heraus zu nehmen, ans Ohr zu halten, den Kopf zu schütteln und mit höchster Eile den Weg nach seiner Wohnung einzuschlagen pflegte. Was denn der Herr Doktor daheim so Wichtiges zu tun hätte? fragte die Jüngere mit lustigen Augen. Ordination halten? Das sei doch wohl ein Spaß! Kranke kämen bekanntlich nie in diesen sogenannten Kurort. Der interessante junge Mann, der immer im Rollstuhl zur Trinkhalle hin gefahren werde, der sei von der Kurverwaltung engagiert, eigentlich sei es ein Schauspieler aus Berlin, der in den Ferienmonaten gegen freie Station hier immer den Kranken zu spielen habe. Ebenso wie die elegante Dame mit den siebzehn Hüten keineswegs eine Amerikanerin sei oder gar eine Australierin, wie die Fremdenliste behauptete, sondern so gut eine Europäerin wie sie alle, und daher gestern abend mit 63 dem Offizier in Zivil, der zu ihrem Besuch aus Eisenach hier eingetroffen, auf der Bank im Kurgarten keineswegs englisch, sondern ein ganz unzweifelhaftes Wienerisch gesprochen habe. Der Doktor gab die eine Amerikanerin preis, die ohnedies in der Behandlung eines Kollegen stand, hatte aber dafür mit einem französischen