Артур Шницлер

Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler


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und die freundliche Behaglichkeit ihres Städtchens, das sich erst dann in seiner ganzen Anmut entfalte, wenn die Fremden über alle Berge wären. Und Frau Schleheim, sich an den Doktor wendend, bekräftigte: »Sie sollten wirklich einmal einen Winter hier verbringen, da wüßten Sie erst, wie schön es hier sein kann.« Doktor Gräsler erwiderte nichts; doch alle konnten merken, daß in seinen Augen sich Fernen spiegelten, die den übrigen sich bisher noch nicht aufgetan hatten und kaum jemals auftun würden.

      Als man sich eine Weile später zu einem 64 Spaziergang bereit machte, erklärte der Hausherr, lieber daheim zu bleiben und in einer Geschichte der französischen Revolution weiterzulesen, für welche Epoche er sich ganz besonders zu interessieren behauptete. Anfangs hielt sich die kleine Gesellschaft eng zusammen, später aber, wie mit Absicht, ließ man Gräsler mit Sabine vorangehen, und heute fühlte er sich ihr gegenüber sicherer, überlegener und vertrauter als je vorher. Es erschien ihm nicht unmöglich, daß Sabinen mit jenem jungen Arzte, der ihr Bräutigam gewesen und gestorben war, in innigeren Beziehungen gestanden hatte, als Vater und Mutter ahnen mochten. In diesem Falle durfte sie als junge Witwe gelten, was den Altersunterschied zwischen ihm und ihr immerhin ein wenig ausglich.

      Man beschloß den freundlichen Tag bei den Klängen des Badeorchesters auf der großen Terrasse des Kurhauses mit einem gemeinsamen Abendessen, zu dem sich auch Herr Schleheim einfand, so elegant, ja geckenhaft gekleidet, daß sich der Doktor ihn nicht recht aus den Unbilden der französischen Revolution emportauchend 65 vorstellen konnte. Die Freundinnen Sabinens gaben ihrer Vewunderung zwar scherzhaften, aber unverhohlenen Ausdruck, während Sabine selbst, wenn der Doktor ihren Blick richtig deutete, mit dem Aufzug ihres Vaters nicht völlig einverstanden schien. Im übrigen war die Laune allerseits die beste, und das kleine Fräulein ließ es an spaßig-boshaften Bemerkungen über die anderen Gäste nicht fehlen. So hatte sie bald die Dame mit den siebzehn Hüten entdeckt, die in Gesellschaft von drei jungen und einem älteren Herrn an einem Nebentisch saß und zu einem Wiener Walzer in einer in Australien sicher nicht üblichen Weise den Kopf hin und her wiegte. Als Doktor Gräsler in irgendeinem Augenblick fühlte, wie ganz flüchtig ein Fuß den seinen berührte, erschrak er beinahe. Sabine? Nein, die war es gewiß nicht. Auch hätte er das selbst nicht gewünscht; eher war es wohl das lustige kleine Fräulein, das ihm gegenüber saß und ein so besonders unschuldiges Gesicht machte. Da die sanfte Berührung sofort wieder aufhörte, konnte sie freilich auch zufällig gewesen sein, und in Doktor 66 Gräslers Natur lag es sowohl, daß er sich dieser Annahme zuneigte, als auch, daß er sich darum keineswegs befriedigter fühlte. Allzu große Bescheidenheit, ja eine gewisse Selbstunterschätzung, die war zeitlebens sein schlimmster Fehler gewesen; sonst säße er wohl heute nicht als Badearzt in diesem lächerlichen kleinen Kurstädtchen, sondern in Wiesbaden oder Ems als Geheimer Sanitätsrat. Und trotzdem Sabine manchmal mit offenbarer Freundlichkeit die Augen auf ihn gerichtet hielt, ihm sogar einmal lächelnd zutrank, so spürte er auch diesmal wieder, daß er selbst mit jedem Tropfen immer nur melancholischer wurde. Seine sinkende Laune schien sich dem ganzen Kreise allmählich mitzuteilen; die älteren Damen wurden sichtlich müde, das Gespräch der jüngeren stockte; der Sänger, düster um sich blickend, rauchte stumm eine schwere Zigarre, und als man sich endlich voneinander verabschiedete, fühlte sich Gräsler so einsam wie nur je. 67

       Inhaltsverzeichnis

      Die Schulferien gingen zu Ende, und Karl wurde von seiner Mutter nach Berlin gebracht, von wo sie nach wenigen Tagen und, wie nicht anders erwartet wurde, mit einer Magenverstimmung zurückkehrte. Doktor Gräsler, nun auch wieder ärztlich gewünscht, erschien Abend für Abend im Forsthaus, wobei es auch verblieb, nachdem Frau Schleheim vollkommen genesen war. Nun fügte es sich öfters, daß er stundenlang mit Sabinen allein im Haus oder im Freien plauderte, da die Eltern, ein ihnen wahrscheinlich nicht unwillkommenes Einverständnis vermutend, sich gerne abseits hielten. Gräsler sprach von seiner Jugend, von seiner alten wallumgebenen, vielgetürmten Heimatstadt und von seinem Elternhaus mit der altväterischen Wohnung, die jahraus, jahrein geduldig wartete, um für ein paar Wochen oder Tage ihn – und bis vor kurzem auch die Schwester – zu kurzer Frühjahrs-oder Herbstrast zu 68 beherbergen. Und wenn ihm Sabine aufmerksam und nicht unbewegt zuhörte, so mußte er sich vorstellen, wie schön das wäre, wenn er mit ihr zusammen heimkehrte, und was sein alter Freund, der Rechtsanwalt Böhlinger, für Augen dazu machen würde, – der einzige Mensch übrigens, der noch eine gewisse lose Verbindung zwischen ihm und der Vaterstadt aufrecht erhielt.

      Und als nun diesmal ungewöhnlich früh und mit besonderer Macht der Herbst einbrach, die meisten Kurgäste vor der Zeit entflohen und für Doktor Gräsler alle Stunden, die er nicht im Forsthaus verbringen durfte, leer und verödet waren, da überkam ihn eine solche Angst davor, sein einsames, sinn-und hoffnungsloses Wanderleben von neuem zu beginnen, daß er sich manchmal geradezu für entschlossen hielt, in aller Form um Sabine anzuhalten. Doch statt geradeaus eine Frage an sie selbst zu richten, wozu er den Mut nicht aufzubringen vermochte, kam er auf den Einfall – als wäre dies eine Art, sich beim Schicksal Rats zu erholen – Umfrage zu halten, ob die Heilanstalt des Doktor Frank, von der Sabine neulich zum 69 zweitenmal flüchtig gesprochen hatte, ernstlich, und zu welchen Bedingungen sie zum Verkaufe stünde. Als nichts Bestimmtes zu erfahren war, suchte er den Besitzer auf, der ihm persönlich bekannt war, fand den verdrossenen, alten Mann in einem schmutzig gelben Leinenanzug, eher einem bäuerischen Sonderling als einem Arzt ähnlich, eine Pfeife rauchend, auf einer weißen Bank vor dem Sanatorium sitzend und fragte ihn geradezu, was es denn eigentlich mit jenen Gerüchten auf sich hätte. Es zeigte sich, daß auch Direktor Frank nur beiläufig da und dort seine Absicht verraten und anscheinend auch seinerseits irgend etwas wie einen Schicksalswink erwartet hatte. Jedenfalls war er durchaus gesonnen, seinen Besitz je eher je lieber loszuschlagen; da er die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in möglichster Entfernung von wirklichen und eingebildeten Kranken zu verbringen und sich von den hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte. »Sie können’s auf sich nehmen,« sagte er, »Sie sind noch jung,« was Doktor Gräsler zu einer 70 melancholisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte. Er besichtigte die Anstalt in allen ihren Räumen, fand sie aber zu seinem Bedauern noch vernachlässigter und verfallener, als er gefürchtet hatte. Auch machten die wenigen Patienten, denen er im Garten, auf den Gängen und im Inhalationssaal begegnete, auf ihn keineswegs den Eindruck zufriedener oder hoffnungsvoller Menschen; ja es war ihm, als läge in den Blicken, mit denen sie ihren Arzt grüßten, Mißtrauen, beinahe Feindseligkeit. Aber als Gräsler von dem kleinen Balkon aus, der zu der Privatwohnung des Direktors gehörte, die Augen über den Garten und weiter hinaus über das freundliche Tal bis zu den gelind aufstrebenden und etwas umnebelten Hügeln schweifen ließ, an deren Rand er das Forsthaus ahnte, da fühlte er sich plötzlich von einer so heißen Sehnsucht nach Sabinen erfaßt, daß er sein Gefühl für sie zum ersten Male mit völliger Sicherheit als Liebe erkannte und es wie ein wunderbares Ziel vor sich sah, bald mit Sabinen eng umfaßt auf der gleichen Stelle zu stehen und ihr den ganzen Besitz erneut und verschönt als seiner 71 Gefährtin und Frau gleichsam zu Füßen zu legen. Er bedurfte einiger Selbstbeherrschung, um sich scheinbar unschlüssig von Direktor Frank zu verabschieden, der übrigens diese Haltung höchst gleichgültig aufnahm. Im Forsthause desselben Abends hielt er es für richtig, von seinem Besuch in der Anstalt keine Erwähnung zu tun; doch schon am nächsten Tage nahm er den Baumeister Adelmann, seinen täglichen Tischgenossen aus dem »Silbernen Löwen«, mit sich in das Sanatorium, um einen Fachmann zu hören. Es erwies sich, daß weniger eingreifende und kostspielige Veränderungen notwendig waren, als Doktor Gräsler gefürchtet hatte, ja der Baumeister wollte jede Verantwortung dafür übernehmen, daß sich die Anstalt am ersten Mai nächsten Jahres wie neu präsentieren würde. Doktor Gräsler spielte weiter den Zögernden und entfernte sich mit dem Baumeister, der nun, unter vier Augen ihm mit noch größerer Entschiedenheit zu dem vorteilhaften Kaufe zuredete.

      Am selben Abend noch, der heute wieder einmal von wahrhaft sommerlicher Wärme war, mit 72 Sabinen und ihren Eltern auf der Veranda des Forsthauses sitzend, begann er wie beiläufig von seiner Unterredung mit Doktor Frank zu erzählen, die er als eine zufällige darstellte, indem er nämlich mit dem Baumeister eben am Tor der