Артур Шницлер

Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler


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Obzwar er sein Eintreffen erst in letzter Stunde angezeigt hatte, fand er seine Wohnräume nicht nur in schönster Ordnung vor, sondern weit freundlicher hergerichtet, als er sie vor einem Jahr verlassen hatte. Jetzt erst erinnerte er sich, daß Friederike im vergangenen Herbst sich ein paar Tage allein hier aufgehalten und, wie sie ihm später erzählt, mancherlei Hausrat neu angeschafft sowie tüchtigen Handwerkern Aufträge erteilt hatte, über deren Ausführung sie noch während der Wintermonate mit Freund Böhlinger in Briefwechsel gestanden. Und als Gräsler die Wohnung zum zweiten Male durchmaß und zum Schlusse das dem Hof zu gelegene Gemach der verstorbenen Schwester betrat, seufzte er leise auf; – ein wenig mit Rücksicht auf die seit Jahren das Haus betreuende Setzersgattin, die ihn durch die Wohnung 100 geleitete, aber auch in ehrlicher Trauer der teuern Dahingegangenen gedenkend, der es nicht mehr beschieden war, den wohlvertrauten Raum in der gefälligen neuen Ausstattung und im Schein elektrischer Lichter wiederzusehen.

      Doktor Gräsler packte aus, spazierte dazwischen in den Zimmern hin und her, nahm gelegentlich ein oder das andere Buch aus der Bibliothek, um es wieder ungelesen an seinen Ort zu stellen, blickte hinab auf die enge, wenig belebte Straße, in deren feuchtem Pflaster die Ecklaterne sich spiegelte, setzte sich in den alten, noch vom Vater ererbten Schreibtischsessel, las Zeitung und war, wie er selbst mit wehmütigem Staunen fühlte, so fern von Sabinen, als lägen nicht nur viele Meilen zwischen ihm und ihr, sondern als wäre auch der Brief, in dem sie ihm ihre Hand angetragen, und der ihn in die Flucht getrieben hatte, nicht gestern, sondern vor vielen Wochen an ihn gelangt. Als er ihn hervornahm, schien ihm ein herber, beunruhigender Duft daraus emporzusteigen, und in einer ängstlichen Scheu, ihn wieder lesen zu müssen, sperrte er ihn in eine Lade.

      101 Am nächsten Morgen fragte er sich, wie er denn eigentlich diesen Tag und alle die nächsten verbringen sollte. Längst war er ein Fremder in seiner Vaterstadt geworden, die meisten Freunde waren ihm weggestorben, die Verbindungen mit den wenigen Überlebenden hatten sich allmählich gelockert und gelöst, nur seine Schwester hatte immer wieder ihre gelegentliche Anwesenheit zum Besuch von irgendwelchen uralten Leuten zu benützen gepflegt, die dem Bekanntenkreis der längst verstorbenen Eltern angehörten. So hatte denn Gräsler im Grunde daheim kein anderes Geschäft, als die Unterredung mit seinem alten Freund, dem Rechtsanwalt Böhlinger, die ihm aber keineswegs dringend erschien.

      Nachdem er seine Wohnung verlassen, machte er zuerst einen Gang durch die Stadt, wie meistens, wenn er nach langer Zeit wieder einmal zu kurzem Aufenthalt in die Heimat zurückgekehrt war. Eine gewisse leichte und beinahe wohltuende Rührung pflegte sich sonst bei solchen Wanderungen regelmäßig einzustellen, heute aber, unter dem schweren grauen Regenhimmel, blieb sie völlig 102 aus. Ohne innere Bewegung ging er an dem alten Haus vorbei, von dessen schmalem hohen Eckfenster aus die Jugendgeliebte dem Gymnasiasten auf dem Wege von und zur Schule verstohlen zugewinkt und zugelächelt hatte, gleichgültig rauschte ihm der Brunnen im herbstlichen Park, den er in den alten Stadtgräben selbst hatte langsam entstehen sehen; und als er, aus dem Hof des altberühmten Rathauses hervortretend, um die Ecke in dem schmalen versteckten Gäßchen das uralte, fast verfallene Häuschen gewahrte, hinter dessen halbblinden, durch rote Vorhänge deutlich gekennzeichneten Fenstern er sein erstes armseliges, von wochenlanger Angst gefolgtes Abenteuer erlebt hatte, da war ihm, als höb’ es sich von seiner ganzen Knabenzeit wie verstaubte und zerrissene Schleier.

      Der erste Mensch, den er sprach, war der weißbärtige Tabakhändler in dem Laden, wo er sich mit Zigarren versorgte; als jener ihm sein Beileid zu dem Tode der Schwester in etwas weitschweifiger Weise aussprach, wußte Gräsler kaum, was er erwidern sollte, und er fürchtete sich 103 davor, noch anderen Bekannten begegnen und die gleichen nichtssagenden Worte anhören zu müssen. Aber der nächste, den er traf, erkannte ihn nicht, und an einem dritten, der Miene machte, stehenzubleiben, ging er selbst mit eiligem, fast unhöflichem Gruß vorüber.

      Nach dem Mittagessen, das er in einem ihm wohlbekannten alten, nunmehr aber allzu prunkvoll neu hergerichteten Gasthof einnahm, begab er sich zu Böhlinger, der, von seinem Eintreffen in der Stadt schon unterrichtet, ihn mit freundlicher Gelassenheit begrüßte und nach einigen teilnahmsvollen Worten Näheres über den Tod Friederikens zu erfahren wünschte. Doktor Gräsler berichtete dem Jugendfreund mit gedämpfter Stimme und gesenktem Blick den traurigen Fall, und als er wieder aufsah, war er etwas verwundert, sich einem ältlichen beleibten Herrn gegenüber zu sehen, dessen bartloses Gesicht, das er immer noch als ein jugendliches im Gedächtnis bewahrt hatte, sich recht fahl und verwittert ausnahm. Böhlinger zeigte sich zuerst sehr bewegt, schwieg lange, endlich zuckte er die Achseln und setzte sich an den 104 Schreibtisch, als wollte er ausdrücken, daß den Überlebenden auch einem so beklagenswerten Ereignis gegenüber nichts anderes übrigbleibe, als sich den Forderungen des Tages entschlossen zuzuwenden. Dann öffnete er eine Lade, entnahm ihr eine Aktenmappe und machte sich daran, unter Vorweis des Testaments sowie anderer wichtiger Papiere die Erbschaftsangelegenheit in ausführlicher Weise zu behandeln. Da die Verstorbene erheblichere Ersparnisse hinterlassen hatte, als Gräsler vermutete, und er der einzige Erbe war, lag die Sache so, daß er von nun ab, ohne seine Praxis weiter auszuüben, einfach von seinen Renten bescheiden, doch immerhin behaglich hätte leben können, was ihm der Rechtsanwalt zum Schlusse seiner Auseinandersetzungen zu verstehen gab. Aber gerade durch diese Eröffnung ward sich der Doktor bewußt, daß für ihn noch lange nicht die Zeit der Ruhe gekommen, ja, daß ihm sogar ein heftiger Trieb zur Tätigkeit eingeboren wäre; und dies mit Lebhaftigkeit versichernd, stand er nicht länger an, dem alten Freund von der Heilanstalt zu berichten, über deren Ankauf er kurz 105 vor Verlassen des Badestädtchens in aussichtsvolle Unterhandlungen eingetreten sei. Der Rechtsanwalt hörte aufmerksam zu, ließ sich über manche Einzelheiten nähere Aufklärung geben, schien anfangs den Absichten des Doktors zustimmend gegenüberzustehen, zögerte aber am Ende doch, den Freund ernstlich zu einem Unternehmen anzueifern, das, abgesehen von ärztlicher Geschicklichkeit und gewandten Verkehrsformen, die er ihm natürlich in weitestem Ausmaß zugestehen wolle, eine gewisse ordnende und geschäftliche Begabung erforderte, von deren Vorhandensein Gräsler bisher keine ausreichenden Proben abgelegt habe. Der Doktor, der diese Einwendung mußte gelten lassen, fragte sich, ob es nicht geraten wäre, nun von Fräulein Schleheim zu sprechen, die ja diesem Teil der ihm vielleicht bevorstehenden Aufgabe durchaus gewachsen wäre. Aber der alte Junggeselle, der ihm hier gegenübersaß, wäre wohl der letzte gewesen, für eine Herzensgeschichte so besonderer Art das richtige Verständnis aufzubringen. Allzu gut kannte Gräsler Böhlingers Eigenheit, sich über die 106 Frauen bei jeder Gelegenheit in wegwerfender, ja zynischer Weise auszulassen, und er hätte es nicht über sich gebracht, eine leichtfertige Bemerkung über Sabine ruhig hinzunehmen. Aus dem Erlebnis, durch das er zu einem solchen Weiberverächter geworden, hatte Böhlinger dem Jugendfreund seinerzeit kein Geheimnis gemacht. Auf einer Redoute hier in der Stadt, wo einmal jedes Jahr die bürgerliche Gesellschaft sich mit der Welt des Theaters, aber auch mit sittlich noch bedenklicheren Elementen zu begegnen pflegte, hatte Böhlinger, im Fluge gleichsam, die vollkommene Gunst einer Dame gewonnen, der niemand, auch in den phantastischesten Träumen solche Verwegenheit und solchen Leichtsinn zugetraut hätte. Sie selbst, die auch im letzten Rausch die Maske nicht fallen ließ, hatte sich damals und so für alle Zeit unerkannt gehalten; durch einen merkwürdigen Zufall aber war es Böhlinger nicht verborgen geblieben, wer in jener Nacht die seine geworden war. Da er dem Freunde wohl das Abenteuer erzählt, den Namen der Geliebten aber dauernd verschwiegen hatte, gab es bald 107 nicht ein weibliches Wesen in der Stadt, Frau oder Mädchen, auf das Gräsler nicht einen Verdacht geworfen hätte, der sich um so dringender meldete, je tadelloser Ruf und Lebenswandel der betreffenden Dame für die Welt sich darstellen mochte. Jenes Abenteuer war es auch gewesen, das Böhlinger davon abhielt, mit irgendeiner seiner Mitbürgerinnen eine innigere oder gar eine auf Ehe hinzielende Verbindung einzugehen, und so war er, als geschätzter Rechtsanwalt in einer auf Anstand und Sittenreinheit sehr bedachten Mittelstadt, genötigt, auf häufig wiederholten kurzen und geheimnisvollen Urlaubsreisen weitere Erfahrungen zu sammeln, die ihn in seiner bitteren Auschauung vom weiblichen Geschlecht nur bestärken mußten. Daher wäre es von Gräslers Seite unklug gewesen, Sabinens Namen in dieses Gespräch zu ziehen, doppelt unklug sogar, da er das anmutige, reine Geschöpf, das sich ihm gewissermaßen an den Hals geworfen, doch wieder freigegeben, ja vielleicht schon für immer verloren hatte. Aus diesen Erwägungen ließ sich Gräsler in eine weitere Unterhaltung 108 über seine Zukunftspläne lieber nicht mehr