Süden verzichten, um eine so wichtige Angelegenheit gleich hier an Ort und Stelle weiterzubetreiben. Davon aber wollte Doktor Gräsler durchaus nichts wissen. Er könne seine Verbindlichkeiten in Lanzarote nicht so ohne weiteres lösen; und wenn er die Sache hier einem tüchtigen Manne, wie es der Baumeister doch sei, überließe, dürfe er sich wohl beruhigt fortbegeben. Nun erbot sich Sabine in ihrer einfachen Art, während Gräslers Abwesenheit die Arbeiten zu überwachen und ihm regelmäßig über den Fortgang Bericht zu erstatten. Die Eltern begaben sich bald, wie auf Verabredung, ins Haus, und Sabine ging mit dem Doktor, wie sie es gern zu 73 tun pflegte, in der Tannenallee, die vom Haus zur Straße führte, langsam auf und ab. Sie hatte allerlei kluge Vorschläge für die Umgestaltung des alten Gebäudes bereit, die beinahe vermuten ließen, daß sie sich mit dieser Frage schon früher beschäftigt hatte. Für unerläßlich hielt sie übrigens die Anstellung einer Dame, einer wirklichen Dame, wie sie hinzufügte, als oberster Hausverwalterin; denn offenbar wäre es eine solche Oberaufsicht von gewissermaßen gesellschaftlichem Charakter, die der Anstalt im Laufe der letzten Jahre vor allem gefehlt habe. Nun war das Wort gesprochen – Doktor Gräsler fühlte es mit klopfendem Herzen –, an das er anknüpfen durfte und mußte; ja schon glaubte er sich dazu bereit, als Sabine, wie wenn sie ihn selbst daran verhindern wollte, ungewohnt hastig ergänzte: »Das machen Sie am besten durch die Zeitung. Ich würde an Ihrer Stelle sogar eine Reise nicht scheuen, um eine geeignete Person für diesen wichtigen Posten zu gewinnen. Sie haben ja jetzt eine ganze Menge Zeit zur Verfügung. Ihre Patienten sind fast schon alle fort, 74 nicht wahr? … Wann gedenken Sie denn eigentlich abzureisen?«
»In – vier bis fünf Tagen. Vor allem muß ich aber natürlich nach Hause, in meine Vaterstadt, meine ich. Meine Schwester hat kein Testament hinterlassen; es wird notwendig sein, so schreibt mir auch mein alter Freund Böhlinger, verschiedenes an Ort und Stelle ins reine zu bringen. Vorher aber will ich die Anstalt noch einmal bis ins kleinste besichtigen. Eine endgültige Entscheidung werde ich keineswegs treffen können, ehe ich mit meinem Freund Böhlinger gesprochen habe.« So redete er noch eine ganze Weile hin und her, vorsichtig und ungeschickt zugleich, und immer höchst unzufrieden mit sich selbst, denn er verhehlte sich nicht, daß Klarheit und Bestimmtheit sich in dieser Stunde besser geziemt hätten. Da Sabine völlig verstummt war, hielt er es für das klügste, sich unter dem Vorwande eines Krankenbesuches zu verabschieden, ergriff Sabinens Hand, hielt sie eine Weile gefaßt, führte sie mit einemmal an seine Lippen und drückte einen langen Kuß darauf. Sabine ließ es 75 geschehen; und als er aufblickte, schien ihm der Ausdruck ihrer Mienen befriedigter, ja heiterer als vorher. Er wußte, daß er nun nichts mehr sprechen durfte, ließ ihre Hand los, stieg in den Wagen, zog den Plaid über seine Knie und fuhr davon. Und als er sich umsah, stand Sabine noch immer da, im matten Lichtschein, regungslos. Doch es war, als schaute sie anderswohin, in die Nacht, ins Leere, keineswegs nach der Richtung, in der er ihr allmählich entschwand.
7.
Am nächsten Vormittag schon, in trübseligem Regengeriesel, begab sich Doktor Gräsler ohne rechte Freude, beinahe pflichtgemäß, in die Anstalt, ließ sich zum drittenmal durch die Räume führen, mußte sich aber diesmal mit der Begleitung eines sehr jungen Assistenzarztes begnügen, dessen allzu beflissene Höflichkeit nicht so sehr dem älteren Kollegen, als dem vermuteten künftigen Direktor gelten mochte, und der jede Gelegenheit benützte, 76 seine Vertrautheit mit den allermodernsten Heilmethoden durchscheinen zu lassen, zu deren Anwendung nur vorläufig leider jede Möglichkeit fehle. Dem Doktor Gräsler erschien das ganze Gebäude noch vernachlässigter, der Garten noch ungepflegter als gestern, und als er endlich in dem kahlen Büro dem Besitzer gegenübersaß, der zwischen Rechnungen und Amtspapieren eben sein Frühstück verzehrte, erklärte er, sich eine Entscheidung bis nach seiner Rückkehr aus der Vaterstadt, das wäre in etwa drei Wochen, vorbehalten zu müssen. Der Besitzer nahm dies mit gewohnter Gleichgültigkeit auf und bemerkte nur, daß er sich selbstverständlich gleichfalls nicht für gebunden erachte. Gräsler wandte nichts weiter ein und fühlte sich geradezu befreit, als er wieder auf der Straße stand und dann mit aufgespanntem Schirm dem Städtchen zuschritt. Schwere Regentropfen flossen vom Schirmrand rings um ihn her; und alle Hügel standen tief im Nebel. Überdies war es so kühl geworden, daß ihm die Finger zu frieren anfingen und er, mit einiger Mühe den Schirm über sich haltend, sich die Handschuhe 77 anziehen mußte. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. Es war doch sehr fraglich, ob er sich überhaupt noch gewöhnen könnte, Spätherbst und Winter statt im Süden in der mit Unrecht so genannten gemäßigten Zone zu verbringen, und fast wünschte er Sabinen schon heute abend mitteilen zu können, daß ihm das Sanatorium sozusagen vor der Nase von einem flinkeren, aber wahrlich nicht beneidenswerten Käufer weggeschnappt worden sei.
In seiner Wohnung fand er einen Brief vor, der auf der Adresse die Handschrift Sabinens zeigte. Er fühlte, wie ihm das Herz plötzlich stillestand. Was hatte sie ihm zu schreiben? Es konnte nur eines sein. Sie bat ihn, nicht mehr zu kommen. Der Handkuß gestern, er hatte es ja gleich gefühlt, der hatte alles verdorben. Solche Dinge standen ihm nun einmal nicht zu Gesicht. Er mußte unsäglich lächerlich gewesen sein in jenem Augenblick. Der Umschlag war plötzlich offen, Gräsler wußte selbst nicht wie, und er las:
»Lieber Freund! So darf ich Sie doch wohl nennen, nicht wahr? Heute abend kommen Sie 78 wieder, und Sie sollen diesen Brief noch früher haben. Denn wenn ich Ihnen nicht schreibe, wer weiß, ob Sie nicht heute abend gerade so fortgehen, wie Sie alle diese Tage und Abende von mir fortgegangen sind, und endlich wären Sie abgereist und hätten nichts gesprochen und sich am Ende noch eingebildet, daß es sehr klug und recht von Ihnen gewesen ist. So bleibt mir denn nichts übrig, als selbst zu sprechen oder vielmehr, da ich ja das doch nicht über mich brächte, Ihnen zu schreiben, was mir auf der Seele liegt. Also, lieber Herr Doktor Gräsler, mein lieber Freund Doktor Gräsler, hier schreibe ich es her, und Sie werden es lesen, und Sie werden sich vielleicht ein wenig freuen und werden es hoffentlich nicht unweiblich finden, und ich fühle, daß ich es niederschreiben darf – ich habe nichts dagegen, gar nichts, falls Sie mich etwa fragen wollten, ob ich Ihre Frau werden möchte. Da steht es nun einmal. Ja, ich will gern Ihre Frau werden. Denn ich empfinde eine so tiefe, herzliche Freundschaft zu Ihnen, wie noch zu keinem Menschen, den ich gekannt habe. Liebe ist es wohl nicht. Noch nicht. 79 Aber gewiß irgend etwas, was sehr nahe daran ist und es sehr wohl einmal werden könnte. Die letzten Tage, wenn Sie vom Abreisen sprachen, da ist mir wahrhaftig ganz sonderbar ums Herz geworden. Und als Sie heute abend meine Hand küßten, das war sehr schön. Aber als Sie dann davonfuhren, ins Dunkel hinein, da war mir mit einemmal, als wäre es aus, und ich hatte eine wahre Angst, daß Sie nie mehr zu uns wiederkommen wollten. Nun, das ist natürlich schon vorüber. Das sind so Nachtgedanken, nicht wahr? Ich weiß, Sie kommen wieder. Morgen abend schon. Ich weiß ja auch, daß Sie mir gerade so gut sind wie ich Ihnen. So was muß man ja wirklich nicht erst mit Worten sagen. Manchmal aber scheint mir, daß Sie an einem gewissen Mangel an Selbstvertrauen leiden. Ist es nicht so? Ich habe auch darüber nachgedacht, woher das kommen mag. Und ich glaube, es kommt daher, daß Sie noch nirgends Wurzel gefaßt, und weil Sie sich doch eigentlich Ihr ganzes Leben noch gar nicht Zeit genommen haben, darauf zu warten, daß sich Ihnen jemand so 80 recht von Herzen anschließt. Ja, das mag es wohl sein. Und vielleicht ist es noch etwas anderes, was Sie zögern macht. Es wird mir freilich etwas schwer, Ihnen das zu schreiben. Aber da ich nun einmal angefangen habe, kann ich doch wohl nicht mehr auf halbem Wege stehenbleiben. Also, Sie wissen, lieber Freund, daß ich einmal verlobt gewesen bin. Das sind nun vier Jahre her. Er war ein Arzt wie Sie. Mein Vater hat Ihnen wohl Andeutungen gemacht. Ich hab’ ihn sehr liebgehabt, und es war ein großer Schmerz, als ich ihn verlor. Er war so jung. Achtundzwanzig Jahre. Ich habe damals gedacht, daß nun alles für immer vorüber sei, wie man das eben so denkt in solchen Tagen. – Übrigens muß ich der Wahrheit gemäß gestehen, daß das nicht meine erste Liebe war. Vorher war es ein Sänger, für den ich geschwärmt hatte. Das war zu der Zeit, da mein Vater in allerbester Absicht mich in eine Laufbahn hineintreiben wollte, zu der ich gar nicht geboren war. Und das ist eigentlich das Leidenschaftlichste gewesen, was ich erlebt habe. Erlebt, das kann man zwar nicht sagen. Aber doch – 81 gefühlt. Und es hat recht dumm geendet. Der meinte eben ein Geschöpf von der Art vor sich zu haben,