Артур Шницлер

Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler


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Da eine Antwort ausblieb, sandte er ein Telegramm nach, ob er darauf rechnen dürfe, Direktor Frank an diesem und diesem Tage anzutreffen. Daß auch diesmal keine Erwiderung kam, machte ihn ärgerlich, aber nicht eigentlich besorgt, da ihm das verdrossene, unhöfliche Wesen des Mannes in widerwärtig deutlicher Erinnerung geblieben war. Sabinen selbst sein Kommen in einem Briefe anzukündigen, fühlte er sich nach seinen bisherigen Erfahrungen gänzlich außerstande; – er würde einfach hinfahren, da sein, ihr gegenüberstehen, ihre beiden Hände in die seinen nehmen, und ihr klarer Blick sollte – mußte ihm die erlösende Antwort geben. 160

       Inhaltsverzeichnis

      Der Tag, an dem Katharinens Urlaub ablief, und an dem sie Gräslers Haus verlassen mußte, um wieder bei den Eltern zu wohnen, war von Beginn an natürlich festgestanden; aber wie auf Verabredung sprachen sie beide mit keiner Silbe von dem nahen und immer näher rückenden Abschied, und Katharinens ganzes Gehaben ließ Trennungsgedanken irgendwelcher Art so wenig erraten, daß Gräsler zu besorgen anfing, ob das anhängliche Geschöpf, so wie sie eines Abends ungebeten mit ihrem kleinen Koffer angerückt war, nicht etwa daran dächte, sich ihm ohne weiteres als Reisegefährtin fürs Leben anzuschließen. So reifte der Plan in ihm, eines Morgens, während sie noch schliefe, aus Wohnung und Stadt zu fliehen; und ohne daß sie es merken durfte, begann er mit den Vorbereitungen zu seiner Abreise. Er hatte der Geliebten nach dem indischen Schal noch mancherlei anderes aus dem Nachlaß seiner 161 Schwester geschenkt, – auch ein oder das andere bescheidene Schmuckstück war darunter, während er einige kostbarere Stücke für Sabine aufzubewahren dachte. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise, in einer regentrüben Nachmittagsstunde, während Katharina sich. wie manchmal um diese Zeit, in das ihr eingeräumte Gemach zurückgezogen hatte, trieb es Gräsler noch einmal hinauf in den Bodenraum, als müßte er dort irgendein letztes Andenken finden, durch dessen Überreichung er nicht nur sein eigenes Gewissen beruhigen, sondern das sogar geeignet sein könnte, Katharina über sein Verschwinden einigermaßen zu trösten. Wie er nun oben suchte und wühlte, einen Koffer nach dem anderen aufschloß; Seidenstoffe, Linnenzeug, Bildermappen, Schleier, Taschentücher, Bänder, Spitzen betrachtete und prüfte, geriet ihm unversehens das Päckchen wieder in die Hände, das nach der Verstorbenen Weisung ungelesen zu verbrennen war. Zum erstenmal, wie in der Ahnung, daß er nun lange Zeit oder nie wieder diesen dahindämmernden Raum betreten würde, verspürte er eine Regung der 162 Neugier. Er legte das Päckchen beiseite, sich fürs erste vorspiegelnd, daß er es an sicherem Orte aufbewahren und einem späteren Erben hinterlassen wollte, der es ja eröffnen dürfte, ohne damit Rücksichten gegenüber einer nie Gekannten, längst Verstorbenen zu verletzen. So nahm er denn mit ein paar hübschen Kleinigkeiten, die er für Katharina gefunden, vor allem ein zartes Bernsteinkettchen und eine vergilbte orientalische Stickerei, die er übrigens, wie so manches andere, zu Lebzeiten Friederikens niemals an ihr gewahrt hatte, diesmal auch jenes ziemlich gewichtige Päckchen mit sich hinab und legte es mit den anderen Dingen auf seinen Schreibtisch, ehe er sich in Katharinens Zimmer begab.

      Als er eintrat, saß sie auf dem Lehnstuhl, ganz eingewickelt in einen rötlichbraunen, mit goldgestickten Drachen durchwirkten chinesischen Schlafrock, den er ihr neulich geschenkt hatte, eine illustrierte Romanlieferung auf dem Schoß, wie sie sie gerne zu lesen pflegte, und war eingeschlummert. Gräsler betrachtete sie gerührt, vermied es, sie aufzuwecken, ging zurück in sein Arbeitszimmer, setzte 163 sich an seinen Schreibtisch und spielte halb gedankenlos mit den lockeren Fäden, die das Päckchen umschlangen, bis die Siegel knackten und brachen. Er zuckte die Achseln. Warum nicht? sagt er sich dann. Sie ist tot, an eine persönliche Unsterblichkeit glaube ich nicht, und sollte es wider mein Erwarten eine geben, so wird mir Friederikens Seele, die nun in so hohen Regionen schwebt, nichts übelnehmen. Allzu düstere Geheimnisse werden da drin wohl nicht enthalten sein. Das Umschlagpapier war bald entfaltet, und was nun vor ihm lag, waren Briefe in großer Zahl, geschichtet, und einzelne Schichten durch weiße Blätter getrennt; im ganzen, wie bald zu bemerken war, sorgfältig geordnet. Der erste, den Gräsler aufnahm, war über dreißig Jahre alt und von einem jungen Menschen geschrieben, der den Vornamen Robert trug und offenbar die Berechtigung hatte, Friederike in sehr zärtlichen Worten anzureden. Der Inhalt ließ erkennen, daß dieser Robert im Elternhause verkehrt hatte; doch konnte sich Gräsler durchaus nicht besinnen, wer es gewesen sein mochte. Es waren wohl ein 164 Dutzend Briefe von ihm da: verliebtes, aber doch im ganzen recht unschuldiges Geschreibsel, das den Lesenden nicht sonderlich fesselte. Es folgten andere Briefe, aus der Zeit, da Gräsler als Schiffsarzt in der Welt herumgesegelt war und nur alle zwei Jahre auf kurze Frist die Heimat besucht hatte. Doch wechselten hier verschiedene Schriften miteinander ab, und Gräsler vermochte anfangs nicht klug zu werden, was all diese leidenschaftlichen Versicherungen, Treueschwüre, Anspielungen auf schöne Stunden, Wallungen von Eifersucht, Warnungen, unklare Drohungen, ungeheuerliche Beschimpfungen eigentlich zu bedeuten hatten, ja, was diese ganze wüste Angelegenheit überhaupt für einen Bezug auf seine Schwester haben könnte. Und er war schon nahe daran zu glauben, daß diese Briefe an jemanden andern, vielleicht an eine Freundin Friederikens, gerichtet und dieser nur zur Aufbewahrung übergeben worden waren, bis ihm gewisse Schriftzüge plötzlich bekannt vorkamen, und bald, auch nach anderen Anzeichen, kein Zweifel mehr übrig blieb, daß die Briefe von Böhlinger herrührten. Nun entwirrten sich bald 165 die ineinander geflochtenen Fäden des sonderbaren Romans, und es wurde Gräsler klar, daß seine Schwester vor mehr als zwanzig Jahren, also schon als ziemlich reifes Mädchen, mit Böhlinger im geheimen verlobt gewesen war, daß dieser mit Rücksicht auf irgendeine früher vorgefallene Herzensgeschichte Friederikens die Heirat hinausgezögert, daß Friederike ihn dann mit irgend jemandem aus Ungeduld, Laune oder Rache betrogen, und daß sie endlich eine Versöhnung angestrebt, welche Versuche Böhlinger nur mit Ausbrüchen des Hohns und der Verachtung beantwortet hatte. Der Ton seiner letzten Briefe war jeder Mäßigung, ja jedes Anstandes so bar, daß Gräsler nicht recht begreifen konnte, wie sich allmählich doch wieder eine leidliche Beziehung, am Ende sogar eine Art von Freundschaft, zwischen den beiden hatte entwickeln können. Es war eher Spannung als Staunen, was Gräsler während des Lesens empfunden hatte, und so forschte er denn nur in gesteigerter Neugier, ohne tiefere Erschütterung, was für Geheimnisse aus Friederikens Leben ihm die nächsten Blätter verraten würden. Es blieben 166 nicht mehr viele übrig, doch da die Handschriften nun sehr rasch zu wechseln begannen, so durfte Gräsler vermuten, daß Friederike immer nur einzelne Proben zur Aufbewahrung ausgewählt hatte. Da lagen vorerst ein paar Briefe, die nichts enthielten als Buchstaben und Zahlen, offenbar Zeichen geheimer Verständigung. Nun gab es eine Pause von Jahren, dann erschienen Briefe aus der Zeit, da Friederike sich mit dem Bruder zusammengetan hatte, auch französische, englische waren darunter, und zwei in einer vermutlich slawischen Sprache, von der er gar nicht gewußt hatte, daß sie seiner Schwester bekannt gewesen war. Es gab Briefe, die warben, andere, die dankten, es gab achtungsvoll-vorsichtige und verliebt-unzweideutige, in einem und dem anderen Falle tauchte vor Gräsler die verblaßte Erscheinung irgendeines seiner Patienten auf, dem er wohl selbst, ein ahnungsloser Kuppler, die Bekanntschaft mit Friederike vermittelt haben mochte. Der letzte Brief aber, glühend, wirr und voll Todesahnungen, ließ keinen Zweifel übrig, daß ihn der brustkranke neunzehnjährige Jüngling geschrieben, den 167 Gräsler vor zehn Jahren etwa als einen beinahe Sterbenden aus dem Süden nach der Heimat hatte schicken müssen; und unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob nicht die vielerfahrene, liebesdurstige Frau, als die sich seine scheinbar so tugendstill gewesene Schwester vor ihm nun entschleierte, jenem armen, jungen Menschen ein allzu frühes Ende bereitet hatte. Aber wenn auch brüderliche Beschämung, daß sie ihn des Vertrauens so wenig würdig, daß sie ihn wohl auch, wie eine andere, für einen Philister gehalten; – wenn auch ein verspäteter Groll, daß er den Leuten so lächerlich erschienen sein mochte, wie ein betrogener Ehemann, ihm das Bild der Verstorbenen anfangs verzerren wollte, am Ende überwog doch all dies ein Gefühl der Befriedigung, daß Friederike ihr Leben nicht versäumt hatte, daß er selbst von jeder Verantwortung ihr gegenüber sich frei erkennen durfte, und daß sie, wie nun klar zutage lag, aus einem Dasein geschieden war, das ihr die Freuden, die sie wahrlich im Überfluß genossen, nicht länger bieten wollte. Und als er die Briefe noch einmal betrachtete, den einen und anderen 168 in die Hand nahm, da und dort etliche Zeilen wieder las,