den Mittagstisch besorgt hätte. Gräslers Blick schien sie so zu erschrecken, daß sie das Zimmer sofort verließ; er aber ging rasch in sein Arbeitszimmer, wo er einen verschlossenen Brief Katharinens vorfand. Er öffnete ihn und las. »Mein lieber, mein allerliebster Doktor. Es war so schön bei dir. Ich werde viel an dich denken müssen. Ich weiß ja, daß du morgen fortreist, da ist es wohl besser, ich störe dich heute nicht mehr. Laß es dir wohl ergehen. Und wenn du im nächsten Jahre wiederkommst, – aber bis dahin hast du mich ja längst vergessen. Ich wünsche dir auch, daß du eine schöne Fahrt übers Meer hast. Und ich danke dir für alles viele viele Male. Deine treue Katharina.« Gräsler war von den herzlichen Worten, von der unbeholfenen Kinderschrift in gleicher Weise ergriffen. »Liebes, gutes Wesen,« sagte er vor sich hin. Aber er wollte nicht weich werden; er begab sich wieder zurück ins Speisezimmer, ließ sich das Essen bringen und trug in den Zwischenpausen eifrig Bemerkungen in sein Notizbuch ein, um nur ja kein Wort an die 178 Buchdruckersfrau richten zu müssen, die er übrigens gleich nach Tische wieder entließ. Er selbst ging von einem Zimmer ins andere. Überall war die vollkommenste Ordnung, alles, was Katharinen gehörte, war fortgeschafft, nichts war zurückgeblieben als ein eigentümlicher Duft, besonders in dem Zimmer, das sie durch drei Wochen bewohnt hatte. Im übrigen erschien Gräsler die ganze Wohnung, obwohl gar nichts darin fehlte, unsäglich kühl und öde. Er fühlte sich so vereinsamt mit einem Male, daß ihm der Gedanke durch den Kopf fuhr, ob er nicht, alle übrigen Hoffnungen und Möglichkeiten in den Wind schlagend, sich Katharina einfach aus dem Elternhause wieder zurückholen sollte; doch sah er zugleich die Unklugheit, ja Lächerlichkeit eines solchen Einfalls ein, dessen Ausführung seine ganze Zukunft in Frage gestellt und ein Glück, das nun so nah herangerückt schien, für alle Zeit vernichtet hätte. Wundersam hell leuchtete mit einem Male Sabinens Bild in seiner Seele auf. Es fiel ihm ein, daß ihn nun nichts mehr abhielt, schon heute mit dem Abendzug abzureisen, und daß er schon 179 morgen früh Sabine wiedersehen könnte. Doch ließ er diesen Gedanken wieder fahren, weil er sich scheute, der Ersehnten nach einer vielleicht schlaflosen Nachtreise unfrisch und müd gegenüberzutreten, und so beschloß er, die gewonnene Zeit lieber zur Abfassung eines Briefes zu benützen, der seinen Besuch ankündigen und in günstiger Weise vorbereiten sollte. Aber als er vor dem Schreibtisch saß, die Feder in der Hand, wollte ihm auch nicht ein Satz gelingen, der den Zustand seines Innern auch nur annähernd auszudrücken vermocht hätte, und er begnügte sich mit den wenigen, aber groß und gleichsam leidenschaftlich hingeworfenen Worten: »Morgen abend bin ich bei Ihnen. Ich hoffe gütigen Empfang. In Sehnsucht E. G.« Dann faßte er ein Telegramm an Doktor Frank ab des Inhalts, daß er morgen früh ankäme und in seiner Wohnung Bescheid zu finden wünsche, ob mit den Bauarbeiten am 15. November begonnen werden könne. Er beförderte Brief und Telegramm persönlich zum Amt, begab sich wieder nach Hause, räumte, ordnete, verschloß, packte seine Handtasche und legte ganz 180 obenauf eine kleine antike, in Gold gefaßte Kamee, die das Haupt einer Göttin vorstellte. In der Nacht fuhr er wohl ein halbes Dutzend Mal auf, in einer wirren Traumangst, als wäre alles für immer verloren, Sabine und Katharina und das Sanatorium und sein Vermögen und seine Jugend und die schöne Sonne des Südens und die Kamee aus Elfenbein, – wenn er morgen die Abfahrtsstunde verschliefe.
15.
Es war ein später, aber mild sonniger Herbstnachmittag, als Doktor Gräsler in dem Badestädtchen ankam. Vor dem Bahnhofsgebäude stand wohl ein halbes Dutzend Hotelwagen und zwei Droschken; die Lohndiener riefen die Namen ihrer Gasthöfe aus, aber ohne rechte Überzeugung, da zu dieser vorgerückten Jahreszeit Kurbedürftige nicht anzukommen pflegten. Doktor Gräsler fuhr nach seiner Wohnung und wies den Kutscher an, zu warten. Er fragte vorerst nach 181 Briefen, war geärgert, daß keine Antwort von Doktor Frank, bitter enttäuscht, daß nicht eine begrüßende Zeile von Sabine da war, und erkundigte sich bei der gefälligen Hauswirtin, was es aus Stadt und Umgebung zu berichten gäbe, ohne Neues, auch aus dem Forsthause nicht, wie er dunkel gefürchtet hatte, zu erfahren. Endlich, schon im tiefen Abenddämmer, fuhr er die wohlbekannte Straße zwischen den zum größeren Teil verlassenen Villen und den finsteren Hügeln, unter einem sternenlosen Himmel, talaufwärts der Stätte zu, wo ihm – nun wußte er mit einem Male unerbittlich klar, was er sich tagelang und noch bis in die letzte Stunde töricht zu verhehlen gesucht hatte –, ein verzweifelter, wahrscheinlich hoffnungsloser Versuch bevorstand, die halb leichtfertig, halb feig verscherzte Gunst des herrlichsten Wesens neu zu erobern.
Während er in seiner Seele so unablässig wie vergeblich nach unwiderleglichen Worten der Rechtfertigung, unwiderstehlichen der Zärtlichkeit suchte, hielt plötzlich der Wagen – wie Doktor Gräsler vorkam, – mitten auf der Landstraße –; 182 und mit einem Male, als wäre eben erst das Haus erleuchtet worden, fiel ein rötlicher Schein über den Fußpfad zu ihm her. Er stieg aus; langsam, um sein heftig klopfendes Herz zu beruhigen, schritt er bis zum Eingang, auf sein Klingeln wurde geöffnet, zugleich tat sich die Tür des Wohnzimmers auf, aus der eben Frau Schleheim trat, während am Tische, den Blick von einem Buch erhebend, Sabine ruhig sitzen geblieben war. »Das ist ja hübsch,« sagte die Mutter, ihm herzlich die Hand entgegenstreckend, »daß Sie sich um uns arme, verlassene Frauen kümmern.« – »Ich war so frei, Fräulein Sabine durch ein Wort zu verständigen.« Nun hatte auch Sabine sich erhoben und, dem Doktor, der bis an den Tisch herangetreten war, freundlich die Hand reichend, sagte sie: »Seien Sie willkommen.« Er versuchte in ihrem Blick zu lesen, der klar, allzu klar auf ihm ruhen blieb. Er fragte nach dem Herrn des Hauses. »Er ist auf Reisen,« erwiderte Frau Schleheim. »Und darf man wissen, wo er sich zurzeit befindet?« fragte Doktor Gräsler weiter, während er auf 183 Sabinens Einladung Platz nahm. Frau Schleheim zuckte die Achseln. »Wir wissen es selber nicht. Das passiert zuweilen. Er kommt schon wieder nach ein paar Wochen. Wir kennen das,« schloß sie mit einem verständnisinnigen Blick zu ihrer Tochter hin. »Sie bleiben längere Zeit hier, Herr Doktor?« fragte diese. Er sah sie an, aber ihr Blick blieb ihm die Antwort schuldig. »Es kommt darauf an,« sagte er. »Nicht allzulange wohl, – bis ich eben meine Angelegenheiten erledigt habe.« Sabine nickte wie abwesend.
Das Mädchen trat ein, um den Tisch zu decken. »Sie bleiben doch zum Abendessen bei uns?« fragte die Mutter. Er zögerte mit der Antwort; wieder fragte sein Blick bei Sabine an. »Natürlich ißt der Herr Doktor mit uns. Wir haben mit Sicherheit darauf gerechnet.« Gräsler fühlte: Nicht Güte erweist sie mir – Gnade vielleicht. Und er neigte stumm sein Haupt.
Da nun alle schwiegen, und ihm das besonders peinlich war, begann er lebhaft. »Vor allem muß ich morgen den Doktor Frank aufsuchen. Denn denken Sie, meine Damen, er hat mir auf 184 meine letzten Briefe nicht einmal geantwortet. Aber ich hoffe noch immer, daß wir uns einigen werden.« – »Zu spät,« warf Sabine kühl ein, und Gräsler fühlte gleich, daß sich dies nicht allein auf das versäumte Geschäft bezog. »Doktor Frank,« erklärte Sabine dann, »hat sich entschlossen, die Anstalt selbst weiterzuführen. Seit ein paar Tagen wird schon fleißig renoviert. Ihr Freund, der Baumeister Adelmann, hat die Arbeiten übernommen.« – »Mein Freund ist er nicht,« sagte Gräsler, »sonst hätte er mich wohl irgendwie verständigt.« Und er schüttelte den Kopf, schwer und langsam, als hätte er an dem Baumeister eine bittere Enttäuschung erlebt. »Unter diesen Umständen,« bemerkte Sabine höflich, »werden Sie wohl wieder nach dem Süden gehen?« – »Natürlich,« erwiderte Gräsler rasch. »Nach meiner guten Insel Lanzarote. Ja. Überhaupt dieses Klima hier! Wer weiß, ob ich solch einem mitteleuropäischen Winter noch gewachsen wäre.« Es fiel ihm ein, daß er bei der mangelhaften Schiffsverbindung vor Mitte November auf der Insel nicht eintreffen 185 und daß er bis dahin, da er sich weder angekündigt noch entschuldigt hatte, seinen Platz schon ausgefüllt finden könnte. Nun, glücklicherweise war er nicht mehr darauf angewiesen. Wenn es ihm beliebte, konnte er sich ein halbes Jahr und länger Ferien gönnen; ja, wenn er sich nur ein wenig einschränkte, durfte er seine Praxis gänzlich aufgeben. Aber der Gedanke machte ihm bang. Er war ja gar nicht imstande, ohne Beruf zu leben. Er mußte arbeiten, Menschen gesund machen, das Dasein eines edeln, tätigen Mannes führen – und am Ende war ihm dies Los doch noch an dieses wundersamen, reinen Wesens Seite bestimmt, das ihn für sein Zögern vielleicht nur ein wenig strafen, ihn vielleicht noch einmal prüfen wollte. Und so erklärte