mochte, daß es an der Zeit war, Katharina mit ihrem Arzt allein zu lassen.
Gräsler beugte sich über die Kranke, streichelte ihr Wangen und Haare, küßte sie auf die Stirn, versicherte sie, daß sie in ein paar Tagen wieder gesund sein werde und daß sie dann gleich zu ihm zurück müsse; daß er sie überhaupt nie wieder von sich fortlassen und überallhin mitnehmen werde, wo sein Schicksal ihn hinführe; daß es ihn ja mit 204 aller Macht wieder hergetrieben habe und daß sie sein Kind sei und seine Geliebte und seine Frau, und daß er sie liebe, liebe, wie noch nie ein Wesen geliebt worden sei. Aber während er sie noch befriedigt lächeln sah, merkte er schon, daß alle seine Worte den Weg ins Tiefste ihrer Seele nicht mehr fanden, daß sie nur mehr als schwankende Schatten erfaßte, was ringsum sich bewegte, daß er am Beginn von Tagen stand, in denen jede Stunde erfüllt sein sollte von der grauenhaften Angst um etwas Geliebtes, das einem unsichtbar nahenden Feind verfallen ist; und daß er sich zu einem verzweifelten Ringen rüsten mußte, – das er doch schon in diesem Augenblick als nutzlos erkannte.
17.
Nach drei Tagen und drei Nächten, die Gräsler beinahe ununterbrochen am Bett der Kranken wachte, ohne daß sie noch einmal zu völligem Bewußtsein gekommen wäre, an einem trüben 205 Novemberabend schwand ihre fiebernde Seele dahin, und nach weiteren zwei Tagen, in denen Gräsler durch die Ordnung all der traurigen Geschäfte, die sich an das Unglück anschlossen, vollauf in Anspruch genommen war, wurde sie begraben. Gräsler ging hinter dem Sarg her, ohne mehr als das Notwendige mit ihren Verwandten zu sprechen, die ihm in all der gemeinsamen Trauer völlig fern geblieben waren. Er stand starr am Grabe, als der Sarg versenkt wurde, und dann, ohne sich von den anderen nur zu verabschieden, verließ er den Friedhof und fuhr in seine Wohnung. Bis zum Abend lag er auf dem Diwan seines Arbeitszimmers in dumpfem Schlaf. Es war dunkel, als er sich erhob. Er war allein, so allein, wie er es noch nie gewesen, nicht nach seiner Eltern, nicht nach seiner Schwester Tod. Sein Leben war mit einem Male allen Inhalts bar. Er begab sich auf die Straße, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er haßte die Menschen, die Stadt, die Welt, seinen Beruf, der am Ende doch zu nichts anderem gut gewesen 206 war als gerade dem Geschöpf den Tod zu bringen, das bestimmt schien, seinen alternden Jahren ein letztes Glück zu geben. Was blieb ihm nun auf Erden noch übrig? Daß er in der Lage war, seinen Beruf hinzuwerfen, und, wenn es ihm beliebte, nie wieder mit irgendeinem menschlichen Wesen ein Wort wechseln mußte, erschien ihm der einzige Trost, der einzige Gewinn seines Daseins. Die Straßen waren feucht, auf den Wiesen des Stadtgartens, in dem er sich wie zufällig fand, lag ein weißlicher Nebel. Er sah zum Himmel auf, an dem zerrissene Wolken trieben. Er fühlte sich müde werden, nicht nur von dem ziellosen Hin und Her, sondern auch von seiner eigenen Gesellschaft, die ihm mit einem Male unerträglich wurde. Ganz unmöglich erschien es ihm, nach Hause zu gehen, und in den Räumen, wo er mit Katharina glücklich gewesen, eine hoffnungslose einsame Nacht zu verbringen. Er ertrug es nicht, sich immer wieder mit den gleichen dürftigen Worten sein Schicksal vorzuerzählen, ohne daß von irgendwoher Antwort, Trost und Teilnahme kam, und ward sich der 207 Notwendigkeit bewußt, wenn er nicht im Freien zu schluchzen, zu schreien, dem Himmel zu fluchen anfangen wollte, noch in dieser Stunde einen Menschen aufzusuchen, dem er sich mitteilen konnte. Da sein alter Freund Böhlinger der einzige war, der hierfür in Betracht kam, so machte er sich auf den Weg zu ihm. Er hatte Angst, ihn nicht zu Hause anzutreffen, doch war das Glück ihm günstig, und der Rechtsanwalt saß, als Gräsler bei ihm eintrat, vor seinem aktenbedeckten Schreibtisch, im türkischen Schlafrock, von Rauchqualm umgeben.
»Du bist schon wieder hier?« empfing er ihn. »Was gibt’s denn? Eine ungewohnte Stunde.« Er blickte auf die Wanduhr, die zehn Uhr wies.
»Entschuldige,« sagte Gräsler heiser, »ich störe dich hoffentlich nicht.« – »Was fällt dir ein? Willst du nicht Platz nehmen? Eine Zigarre gefällig?«
»Danke,« sagte Gräsler, »ich kann jetzt nicht rauchen. Ich habe nämlich noch nicht zu Nacht gegessen.« Böhlinger betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »So, so,« sagte er, 208 »es handelt sich wohl um eine wichtige Sache. Nun, wie steht es denn mit dem Sanatorium?«
»Mit dem Sanatorium ist es nichts.«
»Ah, hat sich das also zerschlagen? Sollte das dich doch so schwer treffen? Sag’ doch! Du dürftest doch nicht ganz ohne Grund – dein Besuch freut mich selbstverständlich sehr – sprich dich nur aus. Oder soll ich raten? Weibergeschichten?« Er lächelte. »Untreue?«
Gräsler machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie ist tot,« sagte er hart, stand plötzlich auf und ging im Zimmer hin und her.
»Oh,« sagte Böhlinger. Dann schwieg er; und als Gräsler eben wieder an ihm vorbei kam, ergriff er seine Hand und drückte sie einige Male. Gräsler aber sank auf einen Stuhl, und den Kopf in beiden Händen weinte er bitterlich, wie er seit seinen Knabenjahren nicht mehr geweint hatte. Böhlinger wartete geduldig und rauchte. Zuweilen warf er einen Blick in den Akt, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und machte Notizen an den Rand. Nach einiger Zeit, da Gräsler sich allmählich zu beruhigen schien, 209 fragte er sanft: »Wie ist es denn geschehen? Sie war ja so jung.«
Gräsler sah auf. Er verzog seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »An Altersschwäche ist sie allerdings nicht gestorben. Scharlach. Und ich bin schuld daran. Ich, ich bin schuld.«
»Du bist schuld? Aus dem Spital?« Gräsler schüttelte den Kopf, stand wieder auf, lief im Zimmer hin und her, griff mit den Armen wie verzweifelt in die Luft und atmete tief. Böhlinger lehnte sich zurück und folgte ihm mit den Blicken. »Wie wär’s,« sagte er, »wenn du mir alles erzähltest. Es wird dich vielleicht ein wenig beruhigen.«
Und Doktor Gräsler begann, zuerst stockend, dann immer fließender, wenn auch nicht geordnet, die Geschichte seiner letzten Monate zu erzählen. Bald ging er auf und ab, bald blieb er stehen, in einer Ecke, am Fenster, oder an den Schreibtisch gelehnt; er erzählte nicht nur von Katharina, auch von Sabinen sprach er; von seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seiner neuen Jugend; – von seinen Träumen hier und dort, – und wie sie am Ende alle zunichte geworden 210 waren. Manchmal hatte er die Empfindung, als wären beide tot, Katharina und Sabine, und er wäre es, der ihnen den Tod gebracht hätte. Zuweilen warf Böhlinger eine neugierige oder teilnahmsvolle Frage dazwischen. Und als ihm die Erlebnisse des Freundes in ihrem Zusammenhange klar geworden waren, wandte er sich an ihn mit den Worten: »Bist du denn eigentlich in die Stadt zurückgekommen mit der Absicht – sie zu heiraten?«
»Gewiß bin ich das. Meinst du etwa, daß ihre Vergangenheit mich gehindert hätte?«
»Das meine ich keineswegs. Denn ich weiß, die mit der Zukunft sind im allgemeinen nicht vorzuziehen.« Und er sah vor sich hin.
»Da dürftest du recht haben,« sagte Gräsler, und indem er ihn ins Auge faßte, fügte er hinzu: »Was ich dir übrigens auch noch sagen wollte« – er brach ab.
Der Tonfall hatte Böhlinger befremdet: »Was meinst du?« fragte er.
»Ich habe deine Briefe an Friederike gelesen, deine und – auch andere.«
211 »So?« sagte Böhlinger unerschüttert und lächelte trüb. »Das ist lange her, mein Freund.«
»Ja, es ist lange her,« wiederholte Gräsler. Und in einem Bedürfnis, seine Stellungnahme zu der Angelegenheit in Kürze und endgültig auszusprechen, setzte er hinzu: »Es ist mir natürlich nach Lektüre der Briefe ganz klargeworden, warum ihr euch nicht geheiratet habt.«
Böhlinger sah ihn zuerst wie verständnislos an. Dann, mit zuckenden Mundwinkeln, sagte er: »Ach so, du denkst – weil sie – mich betrog. So nennt man’s ja wohl. Herrgott, was macht man daraus für Geschichten in jungen Jahren. In Wirklichkeit hat sie nur sich selber und ich – mich betrogen! Ja, das ganz besonders. Na, nun ist’s wohl zu spät.« Und beide schwiegen eine Weile.
»Es ist lange her,« sagte Gräsler dann noch einmal, aber wie