Nacht, die schon weit vorgeschritten war, bei ihm zu verbringen. Ja, er erklärte sich bereit, ihm sein eignes Bett zur Verfügung zu stellen. Aber Gräsler zog es vor, sich, angekleidet wie er war, in dem raucherfüllten Zimmer auf den Diwan hinzulegen, wo er sofort in schweren Schlaf verfiel. Böhlinger breitete eine Decke über ihn, dann öffnete er für eine Weile die beiden Fenster, brachte seine Akten in Ordnung, schloß die Fenster wieder zu und ließ den ruhenden Freund allein.
Als Gräsler erwachte, stand Böhlinger vor ihm teilnahmsvoll lächelnd: »Guten Morgen,« sagte er mit einem guten Blick, – wie ein Arzt, so dachte Gräsler, dem ein krankes Kind aus dem Genesungsschlummer erwacht. Eine kühle Herbstsonne schien ins Zimmer herein. Gräsler spürte, daß er sehr lange geschlafen haben mußte, und fragte: »Wie spät ist es denn?« Da begannen eben die Mittagsglocken zu läuten.
Gräsler erhob sich und reichte dem Freunde die Hand. »Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Nun ist es Zeit nach Hause zu gehen.«
»Ich begleite dich,« sagte Böhlinger, »es ist 213 Sonntag, ich habe in der Kanzlei nichts zu tun. Vor allem aber wirst du frühstücken, auch ein Bad ist für dich bereitgemacht.«
Gräsler nahm alles mit Dank an. Nach dem Bad, das ihn sehr erfrischte, begab er sich in das Speisezimmer, wo das Frühstück wartete. Böhlinger saß neben ihm, teilte ihm vor und plauderte indes, in der offenbaren Absicht, den Freund von traurigen Gedanken abzuziehen, von allerlei gleichgültigen politischen und städtischen Neuigkeiten. Was ist mir die Welt, dachte Gräsler, der Staat, die Menschen? Ja, wenn man Sabine wieder zum Leben auferwecken könnte, – er verbesserte sich sofort innerlich – Katharina! Die andere lebt ja … gewissermaßen. Er lächelte und wußte selbst nicht recht warum.
Die Freunde verließen das Haus, Spaziergänger, sonntäglich angetan, belebten die Straßen, und Böhlinger hatte viele Leute zu grüßen. Sie kamen an dem Handschuhladen in der Wilhelmstraße vorbei. Gräsler betrachtete die herabgelassenen Rolläden feindselig und mit Grauen. Endlich standen sie vor dem Hause, in dem Gräsler 214 wohnte. »Wenns dir recht ist, begleite ich dich hinauf,« sagte Böhlinger. In diesem Augenblick trat aus dem Tor eine hübsche rundliche Dame, in anständiger Trauerkleidung, deren Ernst durch einen anmutig und fröhlich geschwungenen Hut ein wenig gemildert schien; sie führte ein kleines Mädchen an der Hand, und ihre Augen leuchteten überrascht, als sie des Doktors ansichtig wurde. »Schau, wer da kommt,« sagte sie laut und erfreut zu ihrer Kleinen. Gräslers Augen aber weiteten sich wie in Entsetzen, als er Frau Sommer erkannte, auf das Kind richtete er einen raschen, aber völlig unbeherrschten Blick des Hasses; und jedes Grußes vergessend, an Mutter und Kind vorbei, trat er unters Tor. Böhlinger aber merkte, daß die Frau, ihre Kleine immer an der Hand, stehengeblieben war und seinem Freund verständnislos, ja wie verzweifelt nachschaute. Mit unzufriedenem Kopfschütteln folgte er Gräsler über die Treppe, zu einer Frage entschlossen; doch kaum hatte sich die Wohnungstür hinter ihnen zugetan, so stieß Gräsler schon die Worte hervor: »Das war das Kind. Das war die 215 Mutter und das Kind. Dieses Kind ist schuld daran! Katharina hat sterben müssen, und dieses Kind hab’ ich gesund gemacht.«
»Von Schuld kann hier wohl nicht die Rede sein,« erwiderte Böhlinger. »So beklagenswert die Sache auch sein mag, die Kleine kann doch nichts dafür – und die Mutter gewiß nicht. Dein Benehmen dürfte ihr kaum recht verständlich gewesen sein.«
»Sie weiß ja auch nicht, was indes vorgefallen ist,« sagte Gräsler.
»Du hast sie angestarrt wie ein Gespenst. Und erst das Kind –! Du hättest das Gesicht der Mutter sehen sollen. Sie war zu Tode erschrocken.«
»Das tut mir leid. Aber sie wird sich schon wieder fassen. Ich will es ihr bei Gelegenheit aufklären.«
»Das solltest du gewiß tun,« und in einem unangemessen heiteren Tone fügte er hinzu, »um so mehr, als es eine sehr hübsche und appetitliche kleine Frau ist.« Gräsler runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann 216 bat er Böhlinger um Entschuldigung: er wolle nur rasch die Post der letzten Tage durchsehen, um die er sich nicht gekümmert hatte. Eine leise Hoffnung, daß Sabine ihn rufen könnte, vermochte er nicht völlig zu unterdrücken, trotzdem er die Unsinnigkeit eines solchen Gedankens empfand. Es war keine Zeile von ihr, noch irgend anderes von Bedeutung eingelangt.
Dann begab er sich mit Böhlinger in einen Gasthof, und während des Mittagessens, im Zwielicht einer warmen, traulichen Nische, bei einer Flasche guten Rheinweins, riet ihm der Freund, sich keinem unfruchtbaren Schmerz hinzugeben, sondern sich sobald als irgend möglich innerhalb seines Berufes zu betätigen. Gräsler versprach, heute noch nach Lanzarote seine Ankunft für Ende des Monats anzukündigen. Er war überzeugt, daß er willkommen sein würde. Später, bei Kaffee und Zigarre, sprachen sie von Friederike. Der Bruder hielt ihr, während Böhlinger mit halbgeschlossenen Augen, den Rauch langsam vor sich her ringelnd, lauschte, einen gerührten Nachruf, rühmte ihre Fürsorglichkeit und 217 Treue, – ja, er wollte es sogar für möglich halten, daß sie bei der Neuausstattung ihres alten Zimmers hier in der Stadt nicht mehr an sich selbst, sondern gütig ahnungsvoll und in Selbstaufopferung, an irgendein anderes Wesen gedacht hatte, das bestimmt sein mochte, dem Bruder Gefährtin und Geliebte zugleich zu bedeuten. Böhlinger nickte nur; manchmal blickte er den alten Freund, den er nie so gesprächig gesehen, mit einer von Bedauern nicht ganz freien Verwunderung an, endlich schien er zerstreut und etwas ungeduldig zu werden, und, plötzlich aufstehend, verabschiedete er sich unvermutet rasch, mit der Entschuldigung, daß er über die Abendstunden leider schon verfügt habe.
Gräsler spazierte allein nach Hause. Ruhelos ging er in dem Zimmer hin und her und spürte, wie sein Kummer allmählich in Langeweile hinzufließen begann. Er setzte sich an den Schreibtisch und teilte der Hoteldirektion in Lanzarote mit, daß seine Ankunft sich wohl einige Wochen verzögern würde, doch hoffe er, damit der Leitung um so weniger Ungelegenheiten zu bereiten, als 218 vor Mitte, ja Ende November der Besuch der Insel ohnedies kein reger zu sein pflege. Nach Beendigung dieses Briefes war er mit seinem Tagewerk zu Ende. Er nahm Hut und Stock, verließ seine Wohnung neuerdings, und als er im Treppenflur an der Tür der Frau Sommer vorbei kam, zögerte er zuerst einen Augenblick, dann aber drückte er auf die Klingel. Die Hausfrau selbst öffnete. Sie empfing ihn viel freundlicher, als er es hätte erwarten dürfen, ja mit einem Ausdruck von Freude. Er war gekommen, so bemerkte er gleich, sein mehr als sonderbares Benehmen von heute vormittag aufzuklären. Aber Frau Sommer wüßte wahrscheinlich schon, was für ein großes Unglück ihm begegnet sei – so werde sie ihn vielleicht entschuldigen. Sie wußte nichts, wahrhaftig gar nichts, und sie bat ihn, sich doch vor allem mit ihr ins Wohnzimmer zu bemühen. Und dort erzählte er ihr, daß seine liebe kleine Freundin, dieselbe, die sie noch vor wenigen Wochen im chinesischen Schlafrock mit den goldgestickten Drachen am Treppengeländer gesehen hätte, nach einer Krankheit von 219 wenigen Tagen dahingeschieden sei. Erst auf die teilnahmsvolle Frage der Frau Sommer ergänzte er, daß ein tückisches Scharlachfieber das junge Geschöpf dahingerafft habe. Es kämen jetzt viele Fälle in der Stadt vor, ja, man könnte fast von einer Epidemie sprechen. Und irgendein Zusammenhang zwischen der Krankheit seiner Freundin und dem Fall der kleinen Fanny sei um so weniger anzunehmen, als der Scharlach des Kindes so leicht verlaufen sei, daß er an der Richtigkeit seiner Diagnose beinahe zweifeln möchte. Und er nahm das Kind, das eben hereingelaufen kam, zwischen die Knie, streichelte dessen Locken und küßte es auf die Stirn. Dann weinte er leise vor sich hin, und als er wieder aufblickte, sah er Tränen im Auge der jungen Frau.
Am nächsten Tage besuchte er Katharinens Grab, auf dem noch einige bescheidene Kränze mit Schleifen lagen. Frau Sommer hatte ihn mit dem Kind auf den Friedhof begleitet; und während Gräsler stumm und gebeugten Hauptes dastand und Frau Sommer die Aufschriften der Schleifen betrachtete, hielt die Kleine die Hände im 220 stillen Gebet gefaltet. Auf dem Heimweg hielt man sich eine Weile beim Konditor auf, und Fanny kam mit einer großen Tüte Bonbons nach Hause.
Von nun an nahm sich Frau Sommer des vereinsamten Junggesellen mit unaufdringlicher Güte an; er verbrachte viele Stunden, insbesondere jeden Abend in ihrer Wohnung und brachte der Kleinen, die er immer zärtlicher liebgewann, allerlei Spielzeug mit, darunter wilde Tiere aus Holz und Pappe, von denen er dann überdies Geschichten erzählen mußte, als wären es eigentlich wirkliche, aber verzauberte Bestien. Frau