Sie drehte sich um und sah, wie er den Felsen erklomm, um ihr zu Hilfe zu kommen.
»Beeil dich, Danny. Es verschwindet im Schlamm.«
Die Gewitterwolken über ihnen grollten und übertönten ihre Stimme. Sarah sah zu den aufziehenden Wolken, die sich kräuselten wie schwarzer Rauch, und wusste schon jetzt, dass der Abstieg die Hölle werden würde. Sie drehte sich wieder zum Artefakt um. Kalte Tropfen malträtierten ihren Rücken und warnten sie, dass ein weiterer Erdrutsch bevorstand.
Schnaufend vom zu schnellen Aufstieg über anspruchsvolles Terrain ließ sich Daniel neben Sarah auf die Knie fallen. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er. »Wir müssen los, sonst nehmen wir den Schlammaufzug nach unten.«
»Nicht ohne das da.« Sie zeigte auf das Fragment.
»Grundgütiger, Sarah.« Er schüttelte den Kopf. »Wie überredest du mich immer zu solchen Sachen?«
Er hob sie hoch, bis sie ihre Füße gegen seine Hüfte stemmen konnte, und hielt sie fest. Sie beugte sich vor wie eine Akrobatin. Sie hatte das Fragment in der Hand und versuchte gerade, es zu lösen, als ein Dröhnen vom Gipfel der Felswand erklang.
»Wir verschwinden«, rief er über den Lärm hinweg. »Sofort.«
Der Schlamm bewegte und löste sich. Sie schaffte es, den Gegenstand in dem Moment herauszuziehen, als eine Schlammlawine auf sie zugerast kam. Sie steckte es in ihr Shirt.
Er nahm ihre Hand und versuchte dem Ansturm davonzurennen. Sarah sah über ihre Schulter. Die Schlammlawine kam mit der Wildheit eines Wolfsrudels, das seine Beute zur Strecke bringt. Sie gaben ihr Bestes, um ihr aus dem Weg zu gehen, doch sie war zu schnell, zu hungrig. Sie konnten nicht davonlaufen.
Im Nu verschlang die Lawine sie. Ihre Hände wurden von der Wucht getrennt und ihre Körper in entgegengesetzte Richtungen gefegt. Sarah sah Daniels Kopf in der Ferne, rief seinen Namen. Sie konnte kaum ihre eigene Stimme hören.
Der Schlamm stürzte über den Berghang hinunter, riss jeden Baumstumpf, Stein und jedes Lebewesen mit sich, nahm an Fahrt auf, während er auf einen Arroyo am Boden der Schlucht zusauste. Nachdem er durch das alte Flussbett gebraust war, schlug er heftig gegen einen Findling und kam zum Halten.
Sarah war bis zum Kinn eingesunken. Zu ihrer Erleichterung war das Holzstück noch bei ihr. Sie versuchte, sich hoch- und rauszuziehen, aber der Schlamm saugte an ihrer Haut und hielt sie gefangen. Sie spürte, wie sie zentimeterweise tiefer sank, bis ihr der Schlick zu den Lippen reichte. Treibsand. Flüssige Erde.
Sie rief nach Daniel, Nakai, Phoebe, nach jedem in Rufweite. Sie hörte Daniels Stimme hinter sich, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
Ein Automotor heulte auf, als ein Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten wurde. Ein staubiger SUV näherte sich vom anderen, trockeneren Teil des Tals her.
»Sarah, Daniel. Haltet durch!« Phoebe beugte sich aus dem Fenster des Jeeps. Nakai saß am Steuer.
Sarah sank tiefer, schmeckte die sandige Brühe aus verflüssigter Erde. Das Fahrzeug blieb stehen und Nakai stieg mit einem Seil aus. Er band ein Gewicht ans eine Ende und befestigte das andere an der Wagenfront. Er warf es Sarah zu.
»Das Gewicht wird das Seil versenken, dann kannst du danach greifen. Sag Bescheid, wenn du es hast, dann zieh ich dich raus.« Nakai kehrte auf den Fahrersitz zurück.
Sarah bezweifelte, dass das klappen würde, aber sie hatte keine andere Wahl, als dem jungen Assistenten zu vertrauen. Es war vermutlich nicht das erste Mal, dass er so etwas tat. Tatsächlich war es genau, wie er versprochen hatte: Das beschwerte Seil senkte sich in den Schlamm und sie griff danach, wickelte es um ihr Handgelenk, damit es besseren Halt hatte. »Okay«, sagte sie und schluckte einen Mundvoll Schlamm.
Er fuhr langsam rückwärts, ermöglichte es ihr, Stück für Stück aufzutauchen. Als sie sicher draußen war, tat er dasselbe für Daniel.
Sarah kroch auf festen Boden und zog das Holzstück aus ihrem Shirt. Der Regen, wütender denn je, malträtierte ihre Haut wie tausende kalte Nadeln. Daniel kam herübergestolpert und setzte sich neben sie. Ströme schlammigen Wassers rannen von seinen Haaren in sein Gesicht und über seinen Hals.
Sie setzte sich auf. »Es ist meine Schuld. Ich hätte nicht …«
Er zeigte auf den Gegenstand neben ihr. »Und, war es das Risiko wert?«
Sie fuhr mit dem Finger über die raue Holzfaser. »Ich glaube, es hat eine Geschichte zu erzählen.«
Er lächelte schief, ein vertrauter Gesichtsausdruck, der ihr verriet, dass er eher amüsiert als verärgert war. »Tja, dann schätze ich, wir sollten es ins Labor schaffen.«
Ein Blitz teilte den stahlgrauen Himmel. Ein Windstoß wehte Sarah den Regen ins Gesicht. Sie stand mit zitternden Beinen auf, streckte ihm eine Hand entgegen. Sie konnte es kaum erwarten, nach Ganado zu kommen.
Kapitel 2
Die Artefakte, welche die Schlammlawine hervorgebracht hatte, lagen unter einem Meterstab auf dem Probentisch, alle in einer Reihe wie Todesopfer eines sinnlosen Massakers. Nichts passte zusammen: Türkisperlen, höchstwahrscheinlich aus einer längst stillgelegten Mine in New Mexiko; eine aus Europa stammende Glasperle, die Händler mitgebracht hatten; eine hellrote Arafeder, vermutlich von südlich der Grenze; ein Stück Holz, an dem gerade noch so eine dünne Schicht weißer Farbe haftete; und ein Fragment einer Kürbisflasche mit oberflächlichen Kratzern, für das bloße Auge unsichtbar, die ihren rituellen Einsatz bestätigten.
Die Pueblo-Indianer der Four-Corners-Gegend trieben eifrig Handel, insbesondere mit ihren mesoamerikanischen Pendants, die die Fähigkeit und die Ressourcen besaßen, die Wüstengegenden des Nordens zu bereisen, und so war das Sammelsurium aus Gegenständen nicht besonders ungewöhnlich. Viel ungewöhnlicher war etwas, das Sarah aus dem Amatl-Kodex übersetzt hatte.
So sicher, wie die Sonne hinter die Hügel sinkt, so nähert sich der Untergang des Heilers.
Das war die allererste Zeile. Ob sie von jemandem geschrieben worden war, der Kenntnis vom Ableben eines anderen hatte oder von seinem eigenen, war unklar. Aber der Hinweis auf den Heiler in Kombination mit der Nähe, in der die Artefakte gefunden worden waren, ließen Sarah eine Beziehung zwischen den Gegenständen vermuten. Sie las die übersetzten Zeilen des Manuskripts wieder und wieder, auf der Suche nach Hinweisen.
Das Gefäß der Geheimnisse ist übergelaufen, jedes aus freien Stücken anvertraute Wort zum Dolch geworden, der auf das Herz des Betrachters zielt.
Und ich sage: Es existiert! Lasst die Tyrannen nicht davon erfahren, sondern behaltet es für unser Volk.
Die Wahrheit hat sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut und allein dem Rechtschaffenen wird sie gehören.
Sarah hatte die Worte so oft betrachtet, dass sie nun miteinander verschmolzen, sie verhöhnten. Wer war dieser Heiler, dem man Geheimnisse anvertraut hatte, und wie führte das zu seinem Tod? Bezeichnete »unser Volk« andere Ureinwohner oder jene, die die Sprache des Autors sprachen? Und die Tyrannen – war das ein Bezug auf die Spanier?
Die Einheimischen waren keine Hilfe. Alle Pueblo-Völker hatten ihre mündlichen Überlieferungen, aber wenige waren gewillt, diese mit Außenstehenden zu teilen. Selbst Daniel, dessen Erfahrung als Kulturantropologe ihm dabei half, Informationen durch das Beobachten von Stammespraktiken zu sammeln, stand mit leeren Händen da.
Der beste Hinweis, den sie hatten, war die Sprache selbst: eine frühe Konsonantenschrift, die älter war als Tifinagh, die Sprache der Stämme des Maghreb. Obwohl sie hauptsächlich von den Tuareg und später den Berbern gesprochen wurde, ordnete Sarah diesen speziellen Dialekt der Bergregion des Hohen Atlas zwischen Marokko und Algerien zu. Die Assoziation schien unmöglich, von einem Faktor abgesehen: den Sklaven der spanischen Konquistadoren. Das Problem bei dieser Theorie lag darin, dass beinahe alle Sklaven Analphabeten gewesen waren und somit unfähig, etwas derart Komplexes zu verfassen.