Daphne Niko

DER FEUERVOGEL


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Ohne ihre staubige Tageskleidung auszuziehen, legte sie sich mit einer Hand unterm Kopf hin und dachte darüber nach, was sie am Morgen zu Phoebe sagen würde.

      Abwesend sah sie zum Holzofen in der Mitte des Raums und dem Rauchrohr, das ihn mit dem Loch in der Decke verband. Direkt unter der Öffnung stieß ein senkrechter Stützbalken auf das Ende des Rohrs, was dem Gebilde eine merkwürdige, kreuzartige Erscheinung verlieh.

      Mit weit aufgerissenen Augen setzte sich Sarah auf und flüsterte: »Das ist es.«

      Kapitel 4

      Selbst die vollkommene Stille des Ödlands konnte die Unruhe in Phoebes Kopf nicht mindern. Der gehärtete Lehm kühlte ihren Rücken, während sie an der Außenwand des Hogan lehnte und zum Horizont blickte. Sternschnuppen schossen über den mitternächtlichen Himmel. Ihre platingrauen Schweife lösten sich schneller in der Schwärze auf, als man blinzeln konnte. Hier war Schönheit flüchtig: Man durfte sie nicht für selbstverständlich halten.

      Sie konnte nicht aufhören, über den Zwischenfall im Blue Canyon nachzudenken. Nicht wegen der Panik, die sie auf dem Rücken eines mit Höchstgeschwindigkeit rennenden Pferdes verspürt hatte, obwohl das auch zutraf, sondern wegen der Beförderung an einen Ort, dessen Zweck ihr unmissverständlich war. Sie wusste es, und der Hopi-Führer wusste es.

      Was sie am meisten beunruhigte war die Vision. Sie hatte keine mehr gehabt, seit sie in Delphi unter der Erde gefangen gehalten worden war, wo sie nur an die Oberfläche gekommen waren, wenn die Wölfe heulten und Flammen zu Ehren eines falschen Gottes brannten. In der ununterbrochenen Dunkelheit ihrer Gefangenschaft floh sie in Träume – vom Sonnenschein, vom Geruch des Meeres, von Gelächter, von einer Mutter, die sich mit ihr in einem Mohnblumenfeld drehte.

      Wird der Verstand aller Stimuli beraubt, erschafft er seine eigenen. In sechs Jahren der Isolation unter dem Vorwand, sie sei das leibhaftige Orakel von Delphi, hatte Phoebe ihren Sinn für Intuition so sehr geschärft, dass es beinahe an Telepathie grenzte. Der Mann, der sie gefangen hielt, war damit zufrieden gewesen. Es bedeutete, dass sie bereit war für, wie er es nannte, »die Rolle, für die sie bestimmt war«; dem Allerheiligsten der Kultstätte Delphi vorzustehen und die Zukunft zu prophezeien. Um sicherzustellen, dass die Wahnbilder ungehindert flossen, hatte er sie gezwungen, Ethylen einzuatmen, und behauptet, so hätten die Priesterinnen der Antike ihre Fertigkeiten verbessert.

      Sie hatte ihm glauben wollen. Er war schließlich ihr Vater.

      Das Knacken eines brechenden Zweiges ließ sie hochfahren. Sie machte zwei Schritte vom Hogan weg, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie es wieder hörte, diesmal näher. Ihre Haut kribbelte und ihr Verstand sprang zwischen Angst und Neugier hin und her.

      Sie sprach leise. »Wer ist da?«

      Keine Antwort. Sie trat tiefer in die Schatten und wartete darauf, dass wer – was – auch immer dort draußen war, sich zeigte.

      »Hast du Angst?« Eine männliche Stimme erklang irgendwo rechts von ihr.

      Sie drehte sich in seine Richtung. »Zeig dich.«

      Die Gestalt trat vor und blieb in zehn Schritten Entfernung stehen. Er trug einen grauen Hoodie, dessen Reißverschluss bis oben zugezogen war und dessen Kapuze seinen Kopf bedeckte, aber sein Gesicht war unverkennbar, selbst im Licht der Sterne. Seine Augen, schmal und länglich wie die einer wütenden Katze, saßen tief zwischen dunkeln, schrägen Brauen und definierten Wangenknochen. Als er die Kapuze abzog, spiegelte sich ein kleiner Streifen Mondlichts in den Ringen an seinen Fingern.

      »Nakai.« Sie rollte mit den Augen, aber insgeheim war sie froh, ihn zu sehen. Er war ihr einziger Freund an diesem trostlosen Ort. »Was willst du hier?«

      Er lachte. »Nur mal nach dir sehen, Dummchen. Du hast beim Abendessen keine zwei Worte gesagt, und dann war da dieser Streit mit Sarah. Worum ging’s da?«

      »Das Übliche. Sie hat mich wie ein Kind behandelt.«

      »Sie ist ein bisschen überfürsorglich. Ich schätze, so sind Vormunde eben.«

      »Sie ist nicht mein Vormund.« Phoebe sprach lauter, als sie es beabsichtigt hatte. »Ich soll nur den Sommer mit ihr und Daniel verbringen. Bald werde ich zu meiner eigenen Familie nach Hause gehen.«

      »Familie? Erzähl mir von ihnen.«

      »Es gibt keine sie. Nur meinen Bruder. Halbbruder, eigentlich. Wir haben verschiedene Mütter.«

      »Ich hab auch einen Halbbruder. Und ein paar Halbschwestern.« Er kicherte. »Mein alter Herr ist viel rumgekommen.«

      »Tja, weißt du, mein alter Herr ist im Knast.«

      Nakais Auge zuckte. Er sah weg, änderte das Thema. »Hör mal, es tut mir leid, was im Blue Canyon passiert ist. Ich hätte nicht darauf bestehen sollen, die anspruchsvollere Route zu nehmen.«

      »Es ist nicht deine Schuld. So was passiert.«

      »So was passiert? Du wärst fast gestorben.« Er beugte sich näher. »Was hat der Führer zu dir gesagt?«

      »Können wir über was anderes sprechen?«

      »Phoebe, ich kenne den Kerl. Er ist ein kompromissloser Traditionalist aus Oraibi, einem alten Hopidorf. Leute wie mich hat der auf dem Kieker. Er denkt, dass wir alle Schafe hüten oder Mais pflanzen sollten, denn ansonsten sind wir nicht indianisch genug. Was immer er zu dir gesagt hat, es ist Gift. Spuck es aus.«

      Die Erinnerung an die Begegnung ließ sie erschaudern. Tocho hatte gewusst, was sie gesehen hatte, sogar schon, bevor sie damit herausgeplatzt war. Die Worte, die er gesagt hatte, brannten ihr noch immer im Bewusstsein. Sie schlang sich die Arme um die Brust und richtete ihren Blick zu Boden.

      Nakai griff nach ihren Armen. »Ich will nicht, dass er deinen Verstand verdirbt, Phoebe. Erzähl mir, was er gesagt hat.«

      In den Augen des jungen Navajo funkelte etwas, das sie als Aufrichtigkeit auslegte. Vielleicht konnte er ihr helfen, es zu verstehen. »In Ordnung. Er hat etwas von einem Mönchskreuz gesagt.«

      »Tatsächlich.« Er wich zurück. Sein Ausdruck war plötzlich ernst. »Was ist damit?«

      Eine unsichtbare Hand drehte ihr den Magen um. Sie hatte Angst, zu viel gesagt zu haben. Die Vision wiederholte sich in ihrem Kopf: Ein Holzkreuz, weiß bemalt und mit merkwürdigen Buchstaben beschrieben, erhob sich aus den Findlingen und barst mit einer Explosion in Stücke, die nichts als Licht zurückließ.

      Sie verspürte einen Stich von Schuldgefühl. »Vielleicht sollte ich erst Sarah und Daniel davon erzählen.«

      »Denkst du, sie werden dir glauben? Ich meine, du hast doch gesagt, sie tun deine Ideen ab und behandeln dich wie ein Kind.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist deine Entscheidung. Aber wenn du mit jemandem reden willst … ich bin immer für dich da.«

      Obwohl sie ein vager, ungestalter Gedanke in ihrem Hinterkopf dafür schalt, erzählte Phoebe Nakai von der Vision, ließ kein Detail aus. Sie erzählte ihm sogar, was Tocho gesagt hatte: »Halte dich vom Mönchskreuz fern. Es bringt nichts außer Verderben.«

      Nakai schüttelte den Kopf. »Er redet nur Mist. Die Geschichte des Kreuzes ist ein alter Mythos, den die Großmütter den Kindern erzählten, um sie vor den Unterdrückern zu warnen. So etwas gibt es nicht.«

      Sie wollte ihm glauben, damit sie nicht länger von einem Bild verfolgt würde, das so real erschien, wie der matschige Lehm unter ihren Füßen. Sie wollte es mit einem Lachen abtun, es auf das Regalbrett der schlechten Träume stellen, es in einem Kessel voller Realität und Vernunft auflösen. Sie hatte geglaubt, es jemandem zu erzählen, würde ihr dabei helfen. Aber trotz ihrer größten Anstrengungen, es zu verdrängen, blieb es.

      »Da du dich mir anvertraut hast, will ich dir auch etwas anvertrauen«, sagte er. »Ich hab vor ein paar Tagen etwas gehört, das du wissen solltest. Es geht um Sarah.«

      Kapitel 5