Labor, das sich in einem Trailer auf der anderen Seite des Camps befand, jenseits eines Felds von Korbblütlern und Pinyon-Kiefern. Unterwegs schrieb sie Daniel, dass er sie dort treffen solle; sie habe etwas Wichtiges zu besprechen. Mit jedem Schritt war sie überzeugter, dass ihre Theorie begründet war.
Die roten Hügel am Rand des Camps, wo die frühen Pueblo-Indianer – ehemals als Anasazi bekannt, aber niemand benutzte diesen abfälligen Ausdruck noch – vor hunderten von Jahren gesiedelt hatten, verdunkelten den Weg, ein Zeichen dafür, dass der Vollmond tief am Himmel stand. Sarah hielt sich im Schatten des Massivs, wollte niemanden im Camp stören, da es nach Mitternacht war.
Phoebes Hogan lag auf Sarahs Weg. Als sie sich näherte, verspürte sie einen Anflug von Bedauern – nicht wegen dem, was sie früher am Abend gesagt hatte, sondern wegen ihres vollständigen Mangels an mütterlicher Diplomatie. Vielleicht hatte sie zu lange einzelgängerisch gelebt und verstand nicht, wie Kinder tickten. Vielleicht war sie in ihrem Alter – ihr vierzigster Geburtstag stand in drei Monaten bevor – zu sehr in ihren Gewohnheiten festgefahren. Woran es auch lag, sie wollte es in Ordnung bringen. Zu wissen, dass böses Blut zwischen ihnen herrschte, verletzte sie tief.
Sie ging nah genug an den Hogan heran, um ihn zu berühren. Sie hatte den Drang, an die klapprige Tür zu klopfen, Phoebe zu sagen, dass sie verstand, wie es war, wenn man sich ganz allein auf der Welt fühlte. Doch Sarah zögerte; sie sollte sie wirklich nicht aufwecken.
Sie glaubte, Stimmen zu hören, und lauschte. Ja, Stimmen, und eine davon gehörte Phoebe. Sie hörte genauer hin und begriff, dass sich das Mädchen mit Nakai unterhielt. Sarah sah sich nach einem alternativen Weg um, den sie nehmen konnte, ohne gehört oder gesehen zu werden. Es fehlte ihr gerade noch, dass Phoebe dachte, sie würde ihr hinterherspionieren.
»Sie hat vor, dich nach Griechenland zurückzuschicken«, hörte sie Nakai sagen. »Ich hab gehört, wie sie mit Daniel gesprochen hat.«
Was sollte das? Sie entschied, dass es in ihrem eigenen Interesse lag, und in Phoebes, aufzupassen.
»Sie hat etwas darüber gesagt, dass es schwer ist, sich um ein Kind zu kümmern«, fuhr er fort. »Ihr gefällt nicht, dass euer Verhältnis so angespannt geworden ist.«
»Aber mein Bruder ist im Krankenhaus … ich kann nirgendwo hin.« Phoebe klang entsetzt.
»Einem Navajo würde es nie in den Sinn kommen, ein Kind wegzuschicken. Aber diese Menschen sind anders.«
Dieser Lump. Er kannte Phoebes schlimmste Ängste und quälte sie damit – mittels Lügen. Aber warum?
»Ich will allein sein«, sagte das Mädchen.
»Das verstehe ich. Wir reden morgen weiter.« Eine kurze Pause entstand. »Hey. Danke, dass du mir von der Vision im Canyon erzählt hast. Ich werde es keiner Menschenseele verraten.«
Sie hatte es ihm erzählt? Sarah wusste nicht, ob sie enttäuscht oder empört sein sollte. Als sie hörte, wie seine Stiefel über die schlammige Erde schmatzten, glitt sie in die Schatten, bis er weg war. Die Tür zum Hogan wurde mit Phoebes gesammeltem Frust zugeschlagen.
Sie musste mit ihr reden, die Sache richtigstellen. Aber jetzt war nicht der geeignete Augenblick; die Wunde klaffte zu weit offen. Sarah verschob das Gespräch auf den nächsten Tag, um ihnen beiden Zeit zum Nachdenken zu lassen. Sie ging wieder zurück und nahm einen anderen Weg zum Labor.
Daniel war vor ihr dort angekommen. Er saß am Computer und las E-Mails.
Der Wasserkessel war heiß, also goss sie sich eine Tasse Tee ein. »Gibt’s was Neues vom C14-Labor?«
»Wir sind aber ungeduldig. Du weißt, dass es einige Wochen dauert.«
Sarah ging zum Behälter, in dem das wassergetränkte Holz stabilisiert war, und betrachtete die scheinbar abgebrochenen Ränder genauer. Wieso war ihr das vorher nicht aufgefallen?
Daniel kam zu ihr an den Probentisch. »Willst du mir sagen, was los ist?«
»Erinnerst du dich an die Geschichte über den Franziskaner Marcos de Niza und seine Expedition in den wilden Norden Neuspaniens?«
»Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Red weiter.«
»Er hatte einen Führer dabei. Einen Mauren.«
»Richtig. Einen Sklaven aus Azzemour namens Esteban de Dorantes.«
»Esteban freundete sich mit den Ureinwohnern an, richtig?«
»Seine Geschichte ist recht unklar. Jede Menge Lücken. Er war Teil einer Expedition auf der Suche nach den sogenannten Städten aus Gold. Angeblich ging er der Gruppe voraus und schickte Nachrichten zurück.«
»Ja.« Sarah deutete auf das Holzfragment. »Laut einiger Berichte verlangte der Mönch von ihm, seine Nachrichten in der Form von Kreuzen zu versenden.«
»Und du glaubst, das ist es? Ein Stück von einem Kreuz?«
»Sieh dir das an.« Sie umriss eine der Kanten mit einem ausziehbaren Zeigestock. »Es ist abgerundet, als sei es geformt worden. Franziskanerkreuze hatten eine Art geschwungenes Ende, etwa wie bei einem dreiblättrigen Kleeblatt.«
Daniel nahm es in Augenschein. »Könnte sein. Die Karbondatierung wird uns mehr verraten.«
»Natürlich werden wir sehr viel recherchieren müssen. Wir fangen mit dem Archiv der Universität an.«
»Ich werde Nakai morgen damit beauftragen.«
»Nein.« Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich. »Nein?«
»Ich vertraue ihm nicht, Danny.«
»Ist was passiert? Erzähl mir davon.«
»Auf dem Weg hierher kam ich an Phoebes Hogan vorbei. Ich schnappte ihre Unterhaltung auf. Er hat ihr Lügen darüber aufgetischt, dass wir vorhaben, sie wegzuschicken. Sie war deswegen ziemlich bestürzt.«
»Das ist merkwürdig. Warum sollte er das tun?«
»Ich weiß es nicht.« Sie nahm einen großen Schluck Tee. »Manchmal glaube ich, dass er andere Pläne verfolgt.«
»Du musst ihn deswegen zur Rede stellen. Entweder sagt er Phoebe die Wahrheit, oder du tust es.«
Sarah dachte über die Tücken dieses Gesprächs nach. Er könnte den Spieß umdrehen und sie beschuldigen, eine private Unterhaltung belauscht zu haben. Damit würde er direkt zu Phoebe rennen und die wäre außer sich. Daniel hatte recht – es musste passieren –, aber es gab keinen guten Weg, es zu tun.
»Ich kümmere mich morgen darum.« Sie strich ihm über den Arm. »Warum schläfst du nicht ein bisschen? Es tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt hab.«
»Du kannst mich jederzeit aufwecken.« Sein neckisches Zwinkern gab ihr den Trost, der sich ihr an diesem Abend entzogen hatte. »Wir seh’n uns in ein paar Stunden.«
Nachdem Daniel gegangen war, stürzte sich Sarah in die Archive und suchte nach sämtlichen Informationen über den Mönch und den charismatischen Sklaven, der sich, obwohl rätselumwoben, einen Weg in die Geschichte Arizonas gebahnt hatte.
Bei Tagesanbruch hatte sie viele Theorien entdeckt, von denen keine mit der anderen übereinstimmte, außer in einem Punkt: Esteban starb in den Händen seiner Zuñi-Gefährten. Die Motive schwankten zwischen unerlaubten Liebschaften mit Zuñi-Jungfrauen bis hin zu Demonstrationen von Hexerei, die die Einheimischen verängstigten. Aber hatte Esteban Cibola gefunden, eine der Städte aus Gold, auf die die Spanier so versessen gewesen waren? Was das betraf, waren die Aufzeichnungen unverbindlich.
Eine Textnachricht von Daniel ließ Sarahs Handy klingeln. Es ist 5:23. Leistest du uns Gesellschaft?
Sie hatte sich zur Fahrt in den Canyon verspätet. Sie schrieb zurück: Wir treffen uns in einer Stunde vor Ort. Da gab es noch etwas, das sie neugierig machte, und es konnte nicht warten.
Sie öffnete