Tom hatte die Tüten ins Haus gebracht und war jetzt noch mal schnell zu Arno gelaufen, dem er etwas besorgt hatte.
Bettina hörte derweil ihren Anrufbeantworter ab. Es war nichts Wichtiges drauf, meistens Vertreter, die ihr etwas aufschwatzen wollten, jemand bat sie, eine bestimmte Nummer anzurufen, weil sie entweder dreißigtausend Euro oder einen Sportwagen gewonnen habe.
Welche Bauernfängerei!
Gab es tatsächlich Leute, die auf so etwas hereinfielen? Nun, sie nicht. Unabhängig davon, dass sie an keinem Glücksspiel teilnahm, würde sie gewiss nicht anrufen.
Der letzte Anrufer war Linus gewesen, und ihn verpasst zu haben, bedauerte sie zutiefst.
Sie hatte lange nichts von ihrem Neffen gehört, der sich bis zu seiner Volljährigkeit irgendwo versteckt hielt. In England vermutlich. Er hatte panische Angst davor, von seinen Eltern, die er zutiefst hasste, gefunden zu werden und vermied alles, was ihn verraten könnte. Bettina war glücklich, dass Linus sich wenigstens hier und da bei ihr meldete.
»Mist, Tante Bettina, dass du nicht da bist. Ich hab schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe. Aber ich muss sehr viel lernen, weil ich nämlich vorzeitig zur Abschlussprüfung zugelassen werden will, damit ich, wenn ich achtzehn bin, nach Deutschland kommen kann.
Es geht mir gut, dir hoffentlich auch. Auf jeden Fall melde ich mich wieder, bis bald, Tante Bettina. Schön, dass du meine Tante bist.«
Das war’s.
Schön, er sagte, dass es ihm gut ging. Sie musste sich also seinetwegen keine Sorgen machen. Aber sie hätte gern endlich etwas mehr erfahren, wo er war, wie es ihm ging. Sie glaubte nicht, dass Frieder nach seinem einzigen Kind fahndete, falls er es überhaupt getan hatte, und Mona? Die ohnehin nicht. Die hatte mittlerweile bestimmt sogar vergessen, dass sie einen Sohn hatte.
Sowohl Frieder als auch seine Exfrau Mona waren grauenvolle Eltern gewesen, die ihr Kind in ein streng geführtes Internat gesteckt hatten und dann, als er in größter seelischer Not gewesen war, über ihn hergefallen waren und ihn, statt ihm zu helfen, in ein noch strengeres Internat gesteckt hatten.
Bettina konnte gut verstehen, dass Linus von dort abgehauen war. Allerdings hatte er da Unterstützung gehabt, allein hätte er es niemals gepackt. Doch wer hatte ihm geholfen?
Sie hielt noch immer den Anrufbeantworter im Auge, als könne daraus noch eine Nachricht von Linus gehüpft kommen, als Tom zur Tür rein kam.
»Schlechte Nachrichten?«, wollte er wissen, als er Bettinas betrübtes Gesicht sah.
»Nicht wirklich«, antwortete sie, dann erzählte sie ihm von Linus’ Anruf und wie traurig sie war, ihn nicht persönlich gesprochen zu haben.
»Es geht ihm doch gut«, versuchte er sie zu trösten, »und bald muss er sich nicht mehr verstecken. Pass mal auf, die Zeit vergeht wie im Fluge.«
»Ja, ich weiß, aber …«
Er hielt ihr den Mund zu.
»Kein aber … es ist, wie es ist. Übrigens«, versuchte er sie abzulenken, »guck mal was da an meinem linken Ringfinger blitzt.«
Sie musste lachen.
»Mann, du bist klein, über so was freuen sich normalerweise doch nur Frauen, aber guck mal«, sie hielt ihm ihre linke Hand entgegen, »bei mir blitzt er nicht minder. Ach, ist es schön, verlobt zu sein, und das noch mit dem tollsten Mann der Welt.«
Sie küssten sich, doch eh sie in ihre Glückseligkeit versinken konnte, schrillte laut das Telefon und ließ sie auseinanderfahren.
Linus?, dachte Bettina alarmiert, der es noch einmal versuchen wollte?
Sie drehte sich um, griff nach dem Telefon und meldete sich hastig.
Es war Linde, und deren Stimme klang so, dass selbst der unsensibelste Mensch daraus schließen konnte, dass etwas nicht in Ordnung war.
Bettina ahnte etwas und wünschte sich insgeheim, dass sich das, was sie dachte, nicht bewahrheiten würde.
»Kannst du zu mir kommen?«, bat Linde. »Wenigstens für ein halbes Stündchen?«
Bettina antwortete ohne zu zögern: »Aber ja, ich komme sofort.«
»Es war Linde«, erklärte sie, »ich muss zu ihr, sie braucht mich jetzt.«
»Kein Problem«, erwiderte Thomas, »ich gehe dann solange zu den Dunkels, kannst mich dort ja abholen. Um acht werde ich aber auf jeden Fall wieder zu Hause sein, weil ich dann einen Dokumentarfilm sehen will.«
»Bis dahin bin ich längst zurück«, sagte Bettina, winkte ihm zu, dann verließ sie das Haus.
»Fahr vorsichtig«, rief er ihr hinterher, war sich aber nicht sicher, ob sie das noch gehört hatte.
*
Linde saß am Stammtisch, vor sich ein Glas Cognac. Das war schon mal kein gutes Zeichen, denn Linde trank, wenn sie arbeitete, prinzipiell keinen Alkohol. Außerdem sah sie schrecklich aus, sie war blass und es war unschwer zu erkennen, dass sie geweint hatte.
Bettina begrüßte ihre Freundin und setzte sich.
Geräusche, Gesprächsfetzen, Lachen von anderen Tischen im Raum drangen zu ihnen hinüber, umso bedeutsamer war das zunächst zwischen ihnen herrschende Schweigen.
Bettina wusste nicht, ob Linde erwartete, dass sie Fragen zu stellen begann.
Was sollte sie fragen?
So, wie Linde dasaß, so wie sie aussah, konnte man nur das Schlimmste annehmen, und das war etwas, was Bettina traurig machen würde, denn sie hatte an eine gemeinsame Zukunft von ihrer Freundin Linde und ihrem Halbbruder Christian geglaubt.
Eine der Bedienungen kam an den Tisch, fragte, ob sie Bettina etwas zu trinken bringen dürfe.
Bettina nickte und bestellte eine Apfelschorle.
Die Bedienung entfernte sich, und zwischen ihnen war es noch immer still, was Bettina jetzt beinahe schon unheimlich vorkam.
Ihre Apfelschorle wurde serviert.
Linde begann so unvermittelt zu sprechen, dass Bettina ihr Glas, aus dem sie gerade hatte trinken wollen, beinahe erschrocken wieder auf den Tisch stellte.
»Es ist so«, sagte Linde.
Sie trank von ihrem Cognac.
»Ich habe ihn angerufen und es ihm auf den Kopf zugesagt. Er war so perplex, dass er es nur bestätigen konnte.«
Bettina musste schlucken. Sie hätte es nicht für möglich gehalten.
»Dass er dich betrogen hat«, bemerkte Bettina überflüssigerweise.
Linde nickte.
»Genau …, mit dieser Genevieve. Ich hab’s gefühlt.«
»Du, Linde …«
»Bettina, Christian ist auch nur ein Mann«, sagte Linde, »du musst dich jetzt nicht für ihn verantwortlich fühlen.«
»Tu ich nicht, nur, es ist mir so unbegreiflich, ich habe ihn ganz anders eingeschätzt … Er hat mit dieser Genevieve tatsächlich ein Techtelmechtel angefangen?«
»Na ja, das ist wohl zu viel gesagt. Er hat Stein und Bein geschworen, dass es ein einmaliger Ausrutscher war, dass jetzt nichts mehr läuft.«
Bettina atmete insgeheim auf.
»Nun, dann ist doch alles in Ordnung … Nein, in Ordnung ist es nicht, aber einen einmaligen Ausrutscher kann man doch verzeihen.«
Konsterniert blickte Linde ihre Freundin an.
»Ist das deine ehrliche Meinung, oder sagst du das nur, weil Christian dein Bruder ist.«
Jetzt, da Linde es ausgesprochen hatte, fragte sie sich das auch. Was würde sie tun, wenn es hier nicht um Linde und Christian ginge,