Alexander von Ungern-Sternberg: Historische Romane, Seesagen, Märchen & Biografien
jüngster Sohn ist dein Vater.«
»Und weshalb hat man mich so lange in Elend und Dunkelheit gelassen?«
»Ein Auge wachte über dich! Es ist das des Onofrius. Er wußte das Geheimnis deiner Geburt, er stand mit jenem Arzte in Verbindung, der dich aufnahm und dich erzog. Er nannte niemand deinen Namen, weil er dich selbst erretten wollte. Er hat redlich Wort gehalten.«
»O, wo ist er, daß ich ihm danken kann!« rief der junge Mann freudig.
»Er hat die Insel bereits wieder verlassen,« erwiderte der Graf, »du wirst ihn nicht wiedersehen. Betrage dich, so wie ich es von dir erwarte, und nach Ablauf eines Jahres sollst du deinen Verwandten übergeben werden. Aber nur, wenn du dich so führst, wie ich es von dir erwarte. Geschieht es nicht, so bleibst du für immer in dem Schoße dieser Berge verborgen. Die Gesellschaft gibt kein unwürdiges Glied der Welt her, sie bewahrt den Irrenden so lange, bis sie gewiß ist, daß er nicht mehr zu straucheln imstande ist.«
»Wer ist diese Gesellschaft?« fragte der Jüngling in bescheidenem Tone.
»Noch bist du nicht würdig, sie zu nennen!« erwiderte der Greis, und ein dunkler Schatten glitt über seine hohe Stirn. »Einst wirst du sie lieben und verehren lernen. Jetzt geh und beginne deine Lehrzeit!«
12.
Die Lehrjahre
Dicht an dem Schlosse, nach der Nordseite hin, stieß an die Mauern der uralte, heilige See von Canongate. Seine schwarzen Gewässer lagen ewig unbewegt in der sichern Umfriedung der himmelhohen Felsen, die ihre zackigen Kronen in dem düstern Spiegel beschauten. Wenn der Mond die hohe Gebirgszinne überragte, ließ er das Silber seines Lichts nur mit Scheu in die Tiefe niedergleiten, gleichsam als fürchte er die Strahlen, die wie liebliche Kindergeister in die Nacht sich verirrten, um sich nicht wieder zurückziehen zu können. Ewiges Schweigen umgab die Ufer des Sees von Canongate. Als die Küsten Caledoniens noch von den Urbewohnern der Insel bevölkert wurden, geschahen an diesem See Taten ebenso finsterer Natur, wie das Element und seine Umgebung es sind. Heidnische Mysterien wurden hier gefeiert, die, soviel die Sage von ihnen berichtet, grausenerregende Erscheinungen bildeten. Der See von Canongate war berüchtigt durch die seltsamen Gebilde, die im Nebel über seine Fläche dahinschwebten, sowie die Felsenwände von einem ungewöhnlichen Echo; das die Geisterstimmen grauer Jahrhunderte vernehmen ließ, widertönten. In der ersten Mainacht war es nicht ratsam, sich weit weg von dem Schlosse zu verirren, um den Windungen zu folgen, die das geheimnisvolle Wasser weithin im Gebirge machte. Es hieß dann, daß die Zauberer, die früher diese Küste beherrschten, sich hier versammelten und daß selbst Merlin es nicht verschmähte, in diesen Versammlungen den Vorsitz zu führen. In dieser Nacht hörte man Gesänge, deren Töne nicht über irdische Lippen glitten, und es war gefährlich, diesen Tönen zu lauschen. Aus der Tiefe des Wassers schossen Lichtstrahlen, sie kamen aus den Straßen und Häusern der versunkenen Stadt Hath, die in der Tiefe des Sees ruhte. Erreichte der nächtliche Pilger die Kapelle des heiligen Dunstan, die in der tiefsten Schlucht versteckt war und den finstersten Wasserspiegel zu ihren Füßen sah, so erbebte er und erschaute Dinge, die ihm das Herz erstarren machten. Er sah die Geschicke, die vergangenen und die künftigen, in wundersamen und schreckenerregenden Gebilden an sich vorübergehen, und wehe ihm, wenn er den Anwandlungen eines Zauberschlafes unterlag, die Geister führten ihn in den Lüften fort, und nie ward seine Spur wieder gefunden.
In dieser Umgebung wuchs jetzt der junge Georg auf. Sein Tag war regelmäßig eingeteilt, er mußte fleißig in den Schriften lesen und sich in den Wissenschaften unterrichten, die der Graf für seine fernere Ausbildung und zu seiner dereinstigen Bestimmung unerläßlich erachtete. Meister Ulrich hieß der Mann, der ihn und noch einen Jüngling zu Schülern hatte. Früher Mönch eines schottischen Klosters, war er zum Orden übergegangen und hatte sich der freien Wissenschaft gewidmet. Finster und verschlossen sah er auf strengen Gehorsam und auf unausgesetzten, unermüdlichen Fleiß. Trat dieser düstere Schulmonarch ab, so nahm ein Mann seine Stelle ein, dessen Amt es war, die Spiele, die Spaziergänge und die freien Stunden der beiden Jünglinge zu überwachen. Dieser Mann hieß Antonius; es schwebte ein Dunkel über seinem eigentlichen Namen und über seinen früheren Schicksalen. Der Graf ließ sich nie über ihn aus, und im Schlosse folgte man seinem Beispiel. Antonius war klein von Gestalt, und da sein Körper dabei untersetzt und muskulös war, so machte er den Eindruck eines Zwerges oder wunderlichen Kobolds; dazu trug die feuerrote Kleidung, die er anhatte, das ihrige bei. Auf den alten Bildern war man gewohnt, die »kleinen Leute«, wie die Gnomen hießen, die das Innere der Gebirge bewohnten, in einem Scharlachgewande abgebildet zu sehen, wenn sie nicht in ihrer Amts- und Geschäftstracht, das heißt, mit dem schwarzen Schurzfell bekleidet und in dem Kittel der Grubenarbeiter erschienen. Die wenigen Bewohner des Schlosses waren überzeugt, und ließen sich für diese Überzeugung das Leben nehmen, daß Meister Antonius, oder wie er auch genannt wurde, Master Toni, ein Gnom von vornehmer Abstammung sei und mit den Menschen auf der Oberfläche der Erde nichts gemein habe als die zufällige Ähnlichkeit mit der menschlichen Körperbildung. Denn es konnte zufällig genannt werden, daß der dicke Kopf des Masters sich mehr einem Menschenschädel als einem Ochsenkopfe ähnelte, eine kleine Änderung der Form oder auch nur die Verschiebung von ein paar Linien, ein geringer Zusatz an einem Höcker hier oder einem Büschel Haare dort konnten den Ausschlag für die Tierbildung geben. Aber wenn dieses Wesen sprach, und es sprach oft, viel und mit großer Lebendigkeit, so war kein Zweifel weiter gestattet, daß es dem höhern Wesensrange angehörte. Toni hatte Verstand, Witz und eine wahrhaft blendende Gabe des Vortrags. Man mußte ihn von den alten Tagen seiner Heimat erzählen, mit nicht ganz anmutiger Stimme die kaledonischen Lieder singen hören, um zu erfahren, was eine Erzählung und ein Lied zu wirken imstande waren. Auch ließ sich Toni herab, den Narren zu machen, wenn es die Gelegenheit erforderte, das heißt einmal im Jahre, wenn der Patrickstag eintraf und das schon erwähnte Bankett im Rittersaale gegeben wurde.
Das Amt, das Master Toni bei den beiden Jünglingen verwaltete, haben wir in seinen äußeren Umrissen bereits angegeben, doch die vorgeschriebenen, umgrenzenden Linien füllte er auf seine Weise aus. Wenn es ihm anbefohlen war, daß er die Knaben nicht dürfe müßig dahinschlendern lassen, so war damit noch nicht gesagt, womit er ihnen die Stunden zu füllen habe. Das war Master Tonis Sache und er ließ sich hier auch nichts vorschreiben. Jeder andere, der nicht die unerschöpflichen Fundgruben des Witzes hatte, die dem Zwerge zu Gebote standen, würde auf einem Schauplatz wie dem, den wir eben geschildert, bei der Einförmigkeit und der Stille dieser »ewig unveränderten« Natur um den Stoff verlegen gewesen sein, mit dem er den Geist seiner Zöglinge zerstreuen und laben solle; Master Toni wußte stets Auskunftsmittel. Er kletterte mit seinen jungen Genossen im Gebirge umher, stieg auf die Höhenzüge und ließ sich in die Schluchten hinab. Das Dorf Canongate mit seiner am Bergeshange gelegenen Meierei und seinem alten in Trümmer fallenden Kloster war zweimal die Woche der Zielpunkt der Wanderungen, die früh in den Nachmittagsstunden und, wenn der Sommer vorrückte, nach der Abendvesper unternommen wurden. Im Mondschein kehrte dann die kleine, wandernde Gesellschaft, zu der sich oft einige Knechte des Schlosses oder der Pfarrer des Kirchsprengels von Heathwood gesellte, zurück. Meistenteils machte Antonius seine Streifereien mit seinen jungen Gefährten allein.
Wenn dann der Mond über die Bergspitzen, die den See von Canongate einschlossen, emporstieg, oder wenn er sich auf die weithin schimmernden Wiesen der westlichen Talfläche mit seinem Glanz hinbreitete, so saß der Zwerg an irgendeiner bequemen Stelle und erzählte seine Geschichten. Am häufigsten sah man ihn auf einem kleinen Felsenplateau Platz nehmen, das hoch oben über dem See befindlich war und nicht ganz ohne Gefahr von rüstigen Kletterern erreicht wurde. Hier schwebte die kleine Gesellschaft, wenn die Nebel des Sees aufstiegen, wie in einer Wolke, und die Lieder, die das Landvolk hörte und den Geistern des Gebirges zuschrieb, tönten dann von den Lippen der drei nächtlichen Genossen.
Auf die an wilde, wechselnde Genüsse gewöhnte Seele Georgs fiel diese Einsamkeit zu Anfang wie eine Art Qual und wie ein Unglück. Erst nach und nach gewöhnte er sich, aus dem Fenster seines kleinen Studierzimmers, das einen Erker nach Sem See