Eckhart Tolle

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart


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da überhaupt? Er versetzt sich selbst immer wieder in die Zukunft, um sein Überleben zu sichern und um dort eine Art von Befreiung und Erfüllung zu finden. Er sagt: „Eines Tages, wenn dies, das oder jenes geschieht, dann wird es mir gut gehen und ich werde glücklich sein, in Frieden.“ Selbst wenn sich das Ego scheinbar um die Gegenwart kümmert, nimmt es die Gegenwart nicht wahr: Das kann es auch gar nicht, weil es sie durch die Augen der Vergangenheit betrachtet. Oder es benutzt die Gegenwart als Mittel, um ein Ziel zu erreichen, das immer in der vorgestellten Zukunft liegt. Beobachte deinen Verstand und du wirst sehen, dass es so ist.

      Der gegenwärtige Moment enthält den Schlüssel zur Befreiung. Aber du kannst den gegenwärtigen Moment nicht finden, solange du der Verstand bist.

      Ich möchte meine Fähigkeit zu analysieren und zu unterscheiden nicht verlieren. Gegen mehr Klarheit und mehr Fokus im Denken hätte ich nichts einzuwenden, aber meinen Verstand möchte ich nicht verlieren. Das Geschenk des Denkens ist die wertvollste Sache, die wir besitzen. Ohne es wären wir nicht mehr als ein Tier.

      Die Vorherrschaft des Verstandes ist nichts weiter als ein Stadium in der Evolution des Bewusstseins. Es ist eine absolute Notwendigkeit, dass wir jetzt zur nächsten Phase weitergehen; andernfalls werden wir vom Verstand, der zu einem Monster herangewachsen ist, zerstört werden. Darüber werde ich im Detail später noch sprechen. Denken und Bewusstsein sind nicht synonym. Denken ist nur ein kleiner Aspekt des Bewusstseins. Gedanken können ohne Bewusstsein nicht existieren, aber Bewusstsein benötigt keine Gedanken.

      Erleuchtung bedeutet, sich über die Gedanken zu erheben, sie bedeutet nicht, auf eine Ebene unterhalb der Gedanken zurückzufallen, auf die Ebene der Tiere oder Pflanzen. Im erleuchteten Zustand wirst du den denkenden Verstand immer noch benutzen, wenn nötig, aber auf wesentlich konzentriertere und effektivere Weise als vorher. Du benutzt ihn dann hauptsächlich für praktische Zwecke, aber du bist frei von dem unwillkürlichen inneren Dialog, und innere Stille ist gegenwärtig. Wenn du deinen Verstand dann gebrauchst, besonders zu Zeiten, wo eine kreative Lösung gefragt ist, dann schwankst du alle paar Minuten zwischen Gedanken und Stille, zwischen Verstand und Nicht-Verstand hin und her. No-mind ist Bewusstheit ohne Gedanken. Nur auf diese Weise ist kreatives Denken möglich, denn nur dann ist das Denken wirklich kraftvoll. Denken allein, nicht länger mit der Weite von Bewusstsein verbunden, wird schnell sinnlos, krank, zerstörerisch.

      Der Verstand ist grundsätzlich eine Überlebensmaschinerie. In Angriff und Verteidigung gegenüber einem anderen Verstand, im Sammeln, Speichern und Analysieren von Informationen – darin ist er gut, aber er ist absolut nicht schöpferisch. Alle wahren Künstler, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, erschaffen auf einer Ebene von No-Mind, von innerer Stille. Der Verstand gibt den kreativen Impulsen oder Erkenntnissen dann eine Form. Selbst große Wissenschaftler haben berichtet, dass ihre kreativen Durchbrüche in Zeiten geistiger Ruhe geschahen. Eine landesweite Umfrage unter den angesehensten Mathematikern Amerikas – einschließlich Einsteins – zu ihren Arbeitsmethoden brachte das Resultat, dass Denken „nur eine untergeordnete Rolle in der kurzen, entscheidenden Phase des eigentlichen kreativen Akts spielt.“1 Somit würde ich behaupten, dass es den meisten Wissenschaftlern nicht deshalb an Kreativität mangelt, weil sie nicht denken können, sondern weil sie nicht aufhören können zu denken!

      Es war nicht der denkende Verstand, der das Wunder des Lebens auf der Erde und dieses Körpers erschaffen hat und immer noch aufrechterhält. Da ist eindeutig eine Intelligenz am Werk, die wesentlich größer ist als der Verstand. Wie kann eine einzelne menschliche Zelle mit einem Durchmesser von 20-30 µm die Menge von Informationen in ihrer DNA enthalten, die tausend Bücher mit je sechshundert Seiten füllen würde? Je mehr wir über die Funktionsweise des Körpers lernen, desto mehr erkennen wir, wie unendlich groß die Intelligenz sein muss, die in ihm wirkt, und wie wenig wir noch verstehen. Wenn der Verstand sich damit wieder verbindet, wird er zum wunderbarsten Werkzeug. Dann dient er etwas Größerem als sich selbst.

       EMOTIONEN: DIE REAKTION DES KÖRPERS AUF DEINEN VERSTAND

       Wie ist das mit Emotionen? Ich verliere mich in meinen

      Gefühlen leichter als in meinem Verstand.

      Verstand, so wie ich den Begriff benutze, ist nicht nur Denken. Er beinhaltet sowohl deine Emotionen als auch alle unbewussten geistig-emotionalen Reaktionsmuster. Emotionen/Gefühle entstehen dort, wo Verstand und Körper zusammentreffen. Sie sind die Reaktion des Körpers auf den Verstand – man könnte auch sagen: eine Spiegelung des Verstandes im Körper. Ein Angriffsgedanke zum Beispiel oder ein feindlicher Gedanke verursacht einen Aufbau von Energie im Körper, den wir Wut nennen. Der Körper bereitet sich auf Kampf vor. Der Gedanke, dass du, physisch oder psychisch bedroht wirst, bringt den Körper dazu, sich anzuspannen, und das ist der körperliche Aspekt von Angst. Forschungen haben ergeben, dass starke Emotionen Veränderungen in der Biochemie des Körpers hervorrufen. Diese biochemischen Veränderungen stellen die physikalische oder materielle Seite von Gefühlen dar. Natürlich bist du dir nicht immer all deiner Gedankenmuster bewusst, und oft kannst du sie nur ins Bewusstsein bringen, indem du deine Gefühle beobachtest.

      Je stärker du mit deinem Denken identifiziert bist, mit dem was du magst oder nicht magst, deinen Urteilen und Auslegungen, je weniger gegenwärtig du sozusagen als beobachtendes Bewusstsein bist, desto stärker wird deine emotionale Energieladung sein, ob du dir dessen bewusst bist oder nicht. Wenn du deine Emotionen nicht fühlen kannst, wenn du von ihnen abgeschnitten bist, wirst du sie schließlich auf der rein physischen Ebene als körperliches Problem oder Symptom erleben. Darüber ist in den vergangenen Jahren eine Menge geschrieben worden, deshalb brauchen wir hier nicht näher darauf einzugehen. Ein starkes unbewusstes Emotionsmuster kann sich sogar als äußeres Geschehen manifestieren, das anscheinend zufällig passiert. Beispielsweise habe ich beobachtet, dass Menschen, die viel Zorn in sich haben, ohne es zu wissen und ohne ihn auszudrücken, leicht von anderen wütenden Menschen angegriffen werden, verbal oder sogar körperlich, oftmals scheinbar grundlos. Sie haben eine starke Ausstrahlung von Wut, die von manchen Menschen unterschwellig aufgenommen wird – und das bringt dann deren eigene latente Wut in Wallung.

      Wenn du Schwierigkeiten hast, deine Emotionen zu fühlen, dann beginne damit, deine Aufmerksamkeit auf das innere Energiefeld deines Körpers zu richten. Fühle den Körper von innen. Das wird dich in Kontakt mit deinen Emotionen bringen. Wir werden das später noch gründlicher untersuchen.

      Du sagst, dass eine Emotion die Spiegelung des Verstandes im Körper ist. Aber manchmal gibt es einen Konflikt zwischen den beiden: Der Verstand sagt „nein“ und das Gefühl sagt „ja“, oder umgekehrt.

      Wenn du deinen Verstand wirklich kennen willst, dann wird der Körper dir immer ein ehrlicher Spiegel sein, schau dir also das Gefühl an oder vielmehr fühle es in deinem Körper. Wenn ein offensichtlicher Konflikt auftaucht, dann kannst du sicher sein, dass der Gedanke die Lüge ist und das Gefühl die Wahrheit. Nicht die fundamentale Wahrheit dessen, was du bist, aber die relative Wahrheit über deine innere Befindlichkeit zu diesem Zeitpunkt.

      Konflikte zwischen Gedanken, die sich an der Oberfläche des Bewusstseins abspielen, und unbewussten Denkprozessen sind in der Tat nichts Ungewöhnliches. Du magst noch nicht in der Lage sein, deine unbewussten Verstandesaktivitäten als Gedanken ins Bewusstsein zu bringen, aber sie werden vom Körper immer als Emotionen reflektiert und dessen kannst du dir bewusst werden. Eine Emotion auf diese Weise zu beobachten ist grundsätzlich dasselbe wie einem Gedanken zuzuhören oder ihn zu beobachten. Das habe ich ja vorhin beschrieben. Der einzige Unterschied ist, dass ein Gedanke sich in deinem Kopf abspielt; eine Emotion dagegen hat eine starke körperliche Komponente und wird deshalb auch hauptsächlich im Körper wahrgenommen. Dann kannst du der Emotion erlauben, da zu sein, ohne dass sie dich kontrolliert. Du bist nicht länger die Emotion; du bist der Beobachter, die beobachtende Präsenz. Wenn du das praktizierst, dann wird alles, was noch unbewusst in dir ist,