damit einverstanden und gab ihnen genug Benzin, Lebensmittel, Wasser und Waffen mit auf den Weg, doch ihre Hoffnungen wurden an dem Morgen, als sie aufbrechen wollten, jäh zerschlagen.
Ein Funker in Idaho hatte Samuel berichtet, dass Kaskadien erbittert gegen die Vereinigten Staaten kämpfte und im Begriff war, zu siegen. Während der Unterhaltung fiel auch der Name Van Zandt, und Sebastian wurde namentlich als Todesopfer genannt, hingerichtet von einem Offizier der amerikanischen Armee.
Trotz Samuels angespannten Verhältnisses zu Sebastian fühlte er sich grässlich, als er von dessen Ermordung hörte, und er ahnte, dass diese Neuigkeit Annaliese fertigmachen würde. Und so kam es auch.
Mehrere Wochen lang verkroch sie sich, verweigerte sämtliche Gespräche und ließ niemanden ins Zimmer. Sie litt ganz offensichtlich unter einer Depression, fühlte sich orientierungslos und begriff nicht, wie der Gott, den zu verehren und schätzen ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, den Mann hatte ermorden lassen können, den sie so sehr liebte. Irgendetwas musste sie aus diesem Zustand emotionaler Zerrüttung herausreißen … das geschah, als eines Tages Hector vor den Toren der Ranch stand.
Annaliese hatte viele Talente, unter anderem ein Händchen für Pflegebedürftige. Sie selbst hätte es zwar nie als besondere Gabe bezeichnet, doch nicht jeder konnte so geduldig, aufmerksam und gefühlvoll sein, wie es bei Kranken und Bedürftigen erforderlich war.
Ein ehemaliger Helfer von Samuel hatte Hector in der Wüste nordwestlich von ihnen aufgelesen. Außerstande, sich um ihn zu kümmern, war er in der Hoffnung auf Hilfe mit ihm zur Ranch gefahren.
Samuel hatte den Mann ins Haus gebracht, doch seine Kenntnisse ließen deutlich zu wünschen übrig, weshalb er Annaliese dazu überredete, sich Hector anzunehmen. Deshalb stellte sie ihre Schmerzen hintenan, um die von Hector lindern zu können.
Er hatte einen schweren Autounfall überlebt. Ein Drittel seines Körpers war von Feuer verheert, mehr als die Hälfte seines Gesichts mit Verbrennungen zweiten Grades bedeckt. Beide Beine, ein Arm und viele weitere Knochen waren geprellt oder gebrochen. Jemanden in einer solchen Verfassung hatte sie noch nie zuvor gesehen, geschweige denn behandelt. Es würde sie vor eine harte Herausforderung stellen, aber Hector brauchte sie. Was ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war; letztendlich würde auch sie ihn brauchen.
Wochen vergingen, und Hector befand sich langsam auf dem Weg der Besserung. Sie versuchte ihr Bestes, um seine Knochen zu richten, doch ohne Röntgengeräte und eine richtige ärztliche Ausbildung ließ sich kaum absehen, ob Sie gute Arbeit geleistet hatte. Während die Wochen zu Monaten wurden, verbesserte sich sein Zustand allerdings immer weiter, sodass sich Zweifel an seinem Überleben erübrigten, obwohl er für den Rest seines Lebens entstellt sein würde und vielleicht nie wieder gehen könnte.
Annaliese wusste außer seinem Namen nicht viel über ihn. Anscheinend hatte er sich diesen heiser abgerungen, als er von Samuels Helfern gefunden worden war. Wegen eines Trümmerbruchs an seinem Unterkiefer blieben seine Sprechfähigkeiten weiterhin eingeschränkt, was aber nicht bedeutete, dass er sich nicht mitteilen konnte. Samuel warf die Frage auf, ob vielleicht die Luftröhre des Mannes ebenfalls vernarbt sei, weil er während des Feuers, in dem er festgesteckt hatte, sehr viel Qualm eingeatmet hatte. Er kommunizierte in erster Linie durch Nicken und Kopfschütteln mit ihnen. Wenn er den Mund aufmachte, stieß er Grunzlaute aus, die nach einem Ja und Nein klangen. Annaliese sah, dass ihm das Sprechen Schmerzen bereitete. Sie schaffte es durchaus, einiges aus ihm herauszubekommen, zum Beispiel, dass er Mexikaner war und eine Familie hatte. Drängte sie ihn allerdings, stellte er seine Ohren einfach auf Durchzug. Weil sie selbst wusste, wie qualvoll es sein konnte, sich über die Vergangenheit zu unterhalten, ließ sie die Fragerei schließlich bleiben.
Annaliese störte es nicht, dass Hector nicht viel von sich preisgab, zumal die meisten Menschen nach ihrem Dafürhalten sowieso viel zu viel redeten. Davon mal abgesehen nutzte sie seinen Zustand zu ihren eigenen Wünschen aus. Wenn sie Gefühlen Ausdruck verleihen oder ihr Herz wegen Sebastians Tod ausschütten musste, tat sie es stets bei Hector. Dieser reagierte zwar nie und bewegte sich auch nicht, schaute sie aber mit seinen braunen Augen an und zeigte ihr so, dass er ihr durchaus zuhörte. Sie betrachtete ihn zusehends als ihren Therapeuten; sich an ihn zu wenden und zu ihm sprechen kam ihr vertrauensvoll vor.
Nach zweieinhalb Monaten konnte Hector endlich sein Bett verlassen und mit einem Rollstuhl fahren.
Annaliese fand ihn oft draußen auf der Veranda, wo er in Richtung Horizont schaute. Er war imstande, dies stundenlang zu tun, und schien sich dabei überhaupt nicht zu langweilen.
Nun da Hector genas, fand sie wieder mehr Zeit für sich und stellte dabei fest, dass sie einen neuen Lebensinhalt gefunden hatte. Darum überzeugte sie Onkel Samuel davon, ihr einen Teil der Scheune der Ranch zu überlassen, damit sie dort eine provisorische Krankenstation für jede Person einrichten konnte, die zu ihnen fand und einer ärztlichen Behandlung bedurfte.
Innerhalb eines Monats wuchs sich ihr Einzelunternehmen zu einer richtigen Praxis von vier Personen aus, einem studierten Arzt, zwei ausgebildeten Krankenschwestern und ihr.
Mit ihrer Überzeugungskraft brachte es Annaliese sogar so weit, dass sich Samuel dazu überreden ließ, Flüchtigen Teile seiner großen Ranch zur Verfügung zu stellen. Annaliese gelangte zu der Ansicht, dass man, um langfristig überleben zu können, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter finden musste, doch warum danach suchen, wenn man sie genauso gut selbst aufbauen konnte?
Es dauerte eine Weile, doch Samuel gab schließlich nach, sodass sie bald die alten Metalltore für Notleidende und solche, die eine Unterkunft brauchten, öffnen konnten. In der Welt ging es nach wie vor gewalttätig zu, Wegelagerer und Plünderer waren keineswegs ausgestorben. Deshalb legte Samuel eine strikte Verfahrensweise zum Verhören der Fremden fest. Langsam weitete sich ihr Umfeld von der eigenen Familie zu dreiunddreißig hart arbeitenden Überlebenden aus, in dem jeder abgab und teilte, was er hatte. So entstanden nach und nach Gärten und neue Gebäude, um jeden unterbringen zu können. Samuel besaß mehrere Quellen auf seinem Gut, eine jede mit einem eigenen Tank, der zweiundzwanzigtausend Gallonen fasste. Wasser und Land gab es also zur Genüge. Dadurch, dass sie große Mengen Nahrung anbauen konnten und viel Vieh hatten, ging es der Gemeinde schnell immer besser.
Dies entging auch ihren Nachbarn in der Gegend nicht, die sie zuerst für verrückt gehalten hatten, weil sie so viele Menschen aufgenommen und so Aufmerksamkeit auf ihren Standort gelenkt hatten. Samuel machte sich allmählich Sorgen um ihre Sicherheit, wohingegen Annaliese nicht bereit war, sich zurückzulehnen und bloß zu überleben. Sebastian zu verlieren hatte sie verändert. Sie könnten jederzeit anderen Menschen oder gewissen Umständen zum Opfer fallen … warum also nicht leben, wirklich leben und etwas Großartiges aus dem Chaos erschaffen? Diese Vision war allerdings sehr mutig und auch mit Risiken verbunden.
»Hector, sind Sie hungrig?«, fragte Annaliese, als sie hinauskam und ihn an seiner gewohnten Stelle auf der Veranda sitzen sah, wo er auf die Berge im Westen schaute.
Er drehte ihr den Kopf zu und nickte.
»Sehr gut, denn ich habe eine Überraschung für Sie«, sagte sie aufgeregt und ging wieder hinein.
Hector wandte sich erneut dem Gebirge zu und bewegte den Rollstuhl nicht. Infolge der Verbrennungen zweiten Grades, die er in der rechten Gesichtshälfte erlitten hatte, war er auf diesem Auge fast vollkommen blind. Nur links hatte er noch volles, schwarzes Haar, an der rechten Seite wuchs es nur noch vereinzelt nach, wo sich keine Narben über die Kopfhaut zogen. Solche erstreckten sich auch an der Schläfe bis hinunter über den Hals und danach auf die Schulter, den Arm hinunter und auch an der Seite seines Oberkörpers. Weil er sich dafür schämte, trug er stets langärmelige Hemden und Baseballmützen.
Annaliese öffnete die Tür erneut und fragte: »Möchten Sie hier draußen essen? Es wird allerdings langsam frisch.«
»Ja.«
»Das dachte ich mir«, erwiderte sie und trat mit einem Tablett heraus. Darauf befand sich ein Teller mit typisch mexikanischer Kost, Hühnchen mit Chilaquiles. Neben den Fleischstreifen hatte sie Maistortillas geviertelt und leicht angebraten, grüne Salsa sowie Gewürze hinzugegeben. Gespannt darauf,