Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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erstenmal von Yorkschinken reden hörte – in der Meinung, es sei eine unwahrscheinliche Verschwendung, daß im Vokabular York und New-York zugleich existieren sollten – geglaubt, sie habe schlecht verstanden und man habe ihr den Namen sagen wollen, den sie schon kannte. So blieb denn für ihre Ohren und, wenn sie eine Anzeige las, für ihre Augen vor dem Worte York das New, welches sie ›Nev‹ aussprach. Und in aller Treuherzigkeit sagte sie zum Küchenmädchen: »Holen Sie mir Schinken von Olida. Die gnädige Frau hat mir eingeschärft, daß es Nev-Yorker sein soll.« Hatte an diesem Tage Françoise die glühende Sicherheit des großen Schöpfers, so war mein Teil die quälende Unruhe des Suchenden. Wohl empfand ich Freude, solange ich die Berma noch nicht gehört hatte, Freude auf dem kleinen Square vor dem Theater, wo zwei Stunden später die kahlen Kastanienbäume mit metallischen Reflexen aufstrahlen sollten, sobald die Laternen angesteckt und die einzelnen Blätter des Astwerks beleuchtet sein würden; Freude vor den Kontrollbeamten, deren Wahl, Beförderung und Schicksal von der großen Künstlerin abhingen – sie behielt sich in der Verwaltung alle Entscheidungen vor, deren jeweilige rein nominelle Direktoren unbeachtet wechselten. Die Beamten nahmen unsere Billette, ohne uns anzusehen, sie waren zu aufgeregt und besorgt, ob auch alle Vorschriften der Berma dem neuen Personal richtig übermittelt seien, ob man verstanden habe, daß die Claque nie für sie klatschen dürfe, daß die Fenster offen sein sollten, solange sie nicht auf der Bühne war, dann aber auch jede Tür geschlossen und in ihrer Nähe ein Topf mit heißem Wasser versteckt, um den Staub am Aufsteigen zu verhindern; nun mußte ja gleich ihr Wagen mit den beiden langmähnigen Pferden vor dem Theater halten und sie selbst, in Pelze gehüllt, aussteigen, mit etwas mürrischer Geste die Grüße erwidern und eine aus ihrer Gefolgschaft entsenden, um sich über die Proszeniumslogen, die für ihre Freunde reserviert waren, über die Temperatur des Saales, die Besetzung der Logen, die Kleidung der Logenschließerinnen zu informieren; Theater und Publikum waren für sie nur ein zweites weiteres Gewand, in welches sie glitt, ein besserer oder schlechterer Wärmeleiter ihres Talentes. Auch im Saale selbst war ich glücklich; seit ich – im Gegensatz zu der Vorstellung, die lange Zeit in meiner kindlichen Phantasie bestanden hatte – wußte, daß es für alle Welt nur eine Bühne gab, dachte ich mir, die andern Zuschauer müßten einen wie eine umgebende Straßenmenge am guten Sehen hindern, nun aber stellte ich fest, daß vielmehr jedermann dank einer Anordnung, die gleichsam das Symbol aller Wahrnehmung ist, sich als Mittelpunkt des Theaters empfindet; und so erklärte ich mir, daß Françoise, die einmal zu einem Singspiel auf den dritten Rang geschickt wurde, nachher zu Hause versichern konnte, ihr Platz sei der allerbeste gewesen, und statt sich zu weit ab zu fühlen, sei sie eingeschüchtert worden durch die geheimnisvolle lebendige Nähe des Vorhangs. Meine Freude wuchs noch, als ich begann, wirre Geräusche, wie man sie unter der Eierschale hört, wenn das Kücken heraus will, hinter dem Vorhang zu unterscheiden; diese Geräusche wurden stärker, und plötzlich richteten sie sich aus jener unseren Augen undurchdringlichen Welt, die uns doch mit den ihren sah, unzweifelhaft an uns selbst in der gebieterischen Form dreier Schläge, erregend wie Signale vom Planeten Mars. Und als dann der Vorhang aufging und auf der Bühne ein ganz gewöhnlicher Schreibtisch und ebensolcher Kamin andeuteten, die gleich auftretenden Personen werden keine Schauspieler sein, die Verse aufsagen kämen, wie ich das von einer Abendvorstellung her kannte, sondern Leute, die bei sich zu Hause einen Tag ihres Lebens leben würden, in den ich eindrang, einbrach, ohne daß sie mich sahen –, da hielt meine Freude immer noch vor; sie wurde unterbrochen durch eine kurze Unruhe: gerade als ich die Ohren spitzte, weil nun das Stück beginnen sollte, traten zwei Männer auf die Bühne, die recht zornig waren, sie sprachen so laut, daß man im ganzen Saal, der mehr als tausend Menschen faßte, jedes Wort verstand, während man doch in einem kleinen Café den Kellner fragen muß, was denn die beiden Individuen da drüben, die sich an den Kragen geraten, eigentlich sagen; aber da gleichzeitig zu meiner Verwunderung das Publikum, ohne zu protestieren, zuhörte und ganz in einmütiges Schweigen versunken war, auf welchem hier und da ein Lachen plätscherte, begriff ich, die beiden Unverschämten waren Schauspieler, und mit ihrem Gespräch hatte das kleine Stück begonnen, das man lever de rideau nennt. Ihm folgte eine ziemlich lange Pause: die Zuschauer, die wieder ihre Plätze einnahmen, wurden ungeduldig und stampften mit den Füßen. Das erschreckte mich; es erging mir wie bei Lektüre eines Prozeßberichtes, in dem ich einen Mann von edler Gesinnung unter Nichtachtung der eigenen Interessen zugunsten eines Unschuldigen zeugen sah und fürchten mußte, man werde nicht freundlich genug zu ihm sein, ihm nicht dankbare Anerkennung genug erweisen, nicht nach Verdienst ihn reich belohnen, so daß er sich schließlich angeekelt auf die Seite der Ungerechtigkeit schlagen werde; so hatte ich auch jetzt, Genie und Tugend gleichsetzend, Angst, die Berma könne sich ärgern der schlechten Manieren eines unerzogenen Publikums halber – unter dem ich sie doch so gern einige Berühmtheiten hätte erkennen sehen, auf deren Urteil sie Wert legen würde – und es ihre Unzufriedenheit, ihre Verachtung fühlen lassen, indem sie schlecht spiele. Flehentlich blickte ich auf die brutalen Stampfer: sie sollten nicht mit ihrer Wut den gefährdeten kostbaren Eindruck zerstören, den ich hier suchte. Die letzten Augenblicke meiner Freude begleiteten die ersten Szenen von Phèdre. Im Anfang des zweiten Aktes erscheint noch nicht Phèdre selbst; und doch trat, sobald der Vorhang aufgegangen war und ein zweiter aus rotem Samt sich geteilt hatte, der in allen Stücken, in denen der Star spielte, die Tiefe der Bühne abtrennte, durch die Mitte eine Schauspielerin auf mit einem Gesicht und einer Stimme, wie man mir die Berma beschrieben hatte. Man hatte wohl die Szenenfolge geändert: alle Sorgfalt, die ich auf das Studium der Rolle von Theseus' Gattin verwendet hatte, wurde nutzlos. Dann aber gab eine zweite Schauspielerin der ersten das Stichwort. Ich mußte mich getäuscht haben, als ich die erste für die Berma hielt, die zweite glich ihr noch mehr, hatte mehr als die andere ihre Diktion. Beide begleiteten übrigens die Worte ihrer Rolle mit edlen Gebärden, die ich deutlich wahrnahm und in ihrer Beziehung zum Texte genau erfaßte; sie ließen ihre schönen Pepla wallen; auch an sinnreichem Tonfall, bald leidenschaftlich, bald ironisch, ließen sie es nicht fehlen, und ich begriff die Bedeutung manches Verses, über den ich zu Hause weggelesen hatte, ohne genügend zu beachten, was er besagen wollte. Aber plötzlich erschien in der Öffnung des roten Vorhangs des Heiligtums wie in einem Rahmen eine Frau, und an der Angst, die mich befiel – viel banger als die der Berma sein mochte, Öffnen eines Fensters könne sie stören, das Rascheln eines Programms den Klang eines ihrer Worte beeinträchtigen, man könne sie verstimmen, indem man ihren Kameraden Beifall spende und ihr nicht genug – und an der Art, wie ich, noch unbedingter als die Berma selbst, von diesem Augenblick an Saal, Publikum, Schauspieler, Stück und meinen eigenen Körper als akustischen Empfangsapparat ansah, der nur in dem Maße Bedeutung hatte, als er sich den Modulationen dieser Stimme anpaßte, begriff ich, daß die beiden seit einigen Minuten von mir bewunderten Schauspielerinnen gar keine Ähnlichkeit mit der hatten, die zu hören ich gekommen war. Aber zugleich war es mit all meiner Freude vorbei; umsonst heftete ich Augen, Ohren und Sinn auf die Berma, damit mir von den Gründen, die sie mir geben würde, sie zu bewundern, auch nicht das kleinste Teilchen verloren ginge: es gelang mir nicht, einen einzigen zu gewinnen. Ich konnte nicht einmal wie bei ihren Kolleginnen in der Diktion und im Spiel sinnreichen Tonfall und schöne Gebärden wahrnehmen. Ich hörte sie, wie ich Phèdre gelesen oder wie Phèdre selbst im gegebenen Augenblick die Dinge gesagt hätte, die ich vernahm, ohne daß das Talent der Berma ihnen für mich etwas hinzutat. Ich hätte jeden Tonfall der Künstlerin, jeden Ausdruck ihres Gesichtes, um ihn tiefer zu ergründen, um seine besondere Schönheit zu entdecken, festhalten, lange Zeit bannen mögen; zum mindesten gedachte ich, meine geistige Beweglichkeit darein zu setzen, auf jeden Vers eine ganz gesammelte, gereifte Aufmerksamkeit zu richten, von der Dauer jedes Wortes, jeder Geste kein Bruchteil über vorbereitenden Anstalten zu verlieren und dank meiner Anspannung so tief in Worte und Gesten einzudringen, als hätte ich dafür noch lange Stunden zur Verfügung. Aber wie kurz war diese Dauer! Kaum hatte mein Ohr einen Ton aufgenommen, so ersetzte ihn schon ein anderer. Bei einer Szene, in der die Berma einen Augenblick vor der Dekoration, die das Meer darstellt, unbewegt steht, den Arm zu Gesichtshöhe erhoben und durch einen Beleuchtungseffekt in grünliches Licht getaucht, brach der Saal in lauten Beifall aus, aber schon hatte die Schauspielerin die Stellung wieder gewechselt, und das Bild, das ich studieren wollte, existierte nicht mehr. Ich sagte meiner Großmutter, ich sähe nicht gut. Sie gab mir ihr Opernglas. Allein, wenn man an die Wirklichkeit der Dinge glaubt, gibt der Gebrauch eines künstlichen Mittels, sie sich zeigen zu lassen, nicht das äquivalente Gefühl ihrer Nähe.