Entfernung verkleinert empfing, exakter? Welche der beiden Berma war die richtige? Auf die Liebeserklärung an Hippolyt hatte ich sehr gerechnet; aus der sinnreichen Bedeutung, die ihre Kolleginnen mir in weniger schönen Partien immer wieder aufzeigten, schloß ich, daß die Berma sicher einen Tonfall finden werde viel überraschender als alles, was ich mir zu Hause bei der Lektüre vorzustellen versucht hatte; aber sie erreichte nicht einmal, was Önone und Aricie gefunden hätten. Sie leierte die ganze Tirade gleichmäßig herunter, in der doch so scharfe Gegenüberstellungen sich verschmelzen, daß eine nur einigermaßen intelligente Tragödin, und wäre es auch nur eine Lyzeumsschülerin, die Wirkung nicht vernachlässigt hätte; übrigens sagte sie das Ganze so schnell auf, daß mir erst, als sie beim letzten Verse angelangt war, die gewollte Monotonie bewußt wurde, die sie in die ersten gelegt hatte. Endlich brach mein erstes Gefühl der Bewunderung aus: es wurde hervorgerufen durch den frenetischen Beifall der Zuschauer. Ich klatschte mit und suchte durch heftiges Weiterapplaudieren den Beifallssturm zu verlängern, damit die Berma aus Dankbarkeit sich heute selbst überträfe und ich sicher sei, sie an einem ihrer besten Tage gehört zu haben. Merkwürdig ist übrigens, daß gerade an der Stelle, die den Beifall des Publikums entfesselte, die Berma, wie ich später erfahren habe, einen ihrer schönsten Einfälle hat. Es senden offenbar bestimmte transzendente Wirklichkeiten Strahlen um sich aus, für welche die Menge empfänglich ist. So erregen ja auch, bei gewissen Ereignissen, wenn zum Beispiel ein Heer an der Grenze in Gefahr, geschlagen oder siegreich ist, die ziemlich dunklen Nachrichten, die eintreffen und aus denen der Gebildete nicht viel zu schließen weiß, in der Menge eine Bewegung, die ihn überrascht und in der er, wenn ihn inzwischen die Sachverständigen über die wahre militärische Lage unterrichtet haben, die Fähigkeit des Volkes erkennt, jene »Aura« rings um die großen Ereignisse wahrzunehmen, sie auf Hunderte von Kilometern zu sehen. Man erfährt einen Sieg entweder nachträglich, wenn der Krieg zu Ende ist, oder umgehend durch die Freude des Portiers. Einen genialen Zug im Spiel der Berma entdeckt man acht Tage, nachdem man sie gehört, durch die Kritik oder umgehend durch den Beifall des Parterres. Da aber diese unmittelbare Erkenntnis der Menge mit hundert anderen irrigen vermengt ist, geht der Applaus meistens fehl, ganz abgesehen davon, daß er mechanisch von der Kraft früherer Beifallsstürme erregt wird, wie das Meer, das ein Sturm genügend aufgewühlt hat, fortfährt anzuschwellen, auch wenn der Wind nicht mehr wächst. Wie dem auch sei, in dem Maße als ich Beifall klatschte, schien mir, die Berma habe besser gespielt. Neben mir sagte eine ziemlich gewöhnlich aussehende Frau: »Die gibt sich wenigstens aus, macht sich's sauer, rackert sich ab, das nenne ich mir noch Theater spielen.« Ich war ganz glücklich, diese Erklärungen für die Überlegenheit der Berma zu bekommen, obwohl ich ahnte, daß sie sie nicht mehr erklärten als den Perseus von Benvenuto Cellini oder die Gioconda der Ausruf eines Bauern: »Gut gemacht ist das schon! Gediegen und sauber! Und welche Arbeit!«, und trunken teilte ich den derben Trank dieser volkstümlichen Begeisterung. Als aber der Vorhang fiel, fühlte ich doch eine Enttäuschung, daß die so sehr ersehnte Lust nicht größer gewesen, zugleich das Bedürfnis, sie zu verlängern und nicht mit dem Verlassen des Saales für immer dies Theaterleben aufzugeben, das für ein paar Stunden mein eigenes geworden war. Wie bei einer Abreise ins Exil hätte ich mich losreißen müssen, und wie sollte ich jetzt direkt nach Hause gehen können, wenn ich nicht hätte hoffen dürfen, dort viel über die Berma zu erfahren von ihrem Bewunderer, dem ich die Erlaubnis zu Phèdre zu gehen, verdankte, Herrn von Norpois. Ich wurde ihm vor dem Essen von meinem Vater vorgestellt, der mich dazu in sein Arbeitszimmer rief. Bei meinem Eintritt erhob sich der Botschafter, reichte mir die Hand, neigte seine hohe Gestalt und heftete aufmerksam die blauen Augen auf mich. Da die durchreisenden Fremden, die ihm zur Zeit, als er Frankreich repräsentierte, vorgestellt wurden, mehr oder weniger – und waren es auch nur bekannte Tenöre – Personen von Bedeutung waren, von denen er später, wenn in Paris oder Petersburg ihr Name fiel, sagen konnte, er erinnere sich sehr wohl des Abends, den er in München oder Sofia mit ihnen verbracht habe, so hatte er die Gewohnheit angenommen, neu Vorgestellten durch liebenswürdiges Entgegenkommen Zufriedenheit über die Bekanntschaft auszudrücken; mehr noch: er war überzeugt, daß man im Leben der Hauptstädte durch die Berührung sowohl mit den interessanten Individualitäten, die sie durchqueren, als mit den Gebräuchen des Volkes, das sie bewohnt, eine vertiefte Kenntnis, die Bücher nicht geben können, von Geschichte, Geographie, den Sitten der verschiedenen Nationen und der geistigen Bewegung Europas gewinnt, und so übte er an jedem Ankömmling seine scharfen Beobachtungsgaben, um sogleich zu merken, mit was für einer Art Mensch er zu tun habe. Seit langem hatte ihm die Regierung keinen Posten im Auslande mehr anvertraut; sobald man ihm aber jemand vorstellte, begannen seine Augen, als seien sie von seinem Austritt aus dem aktiven Dienst nicht amtlich benachrichtigt worden, mit Nutzen zu beobachten, während er durch seine ganze Haltung auszudrücken suchte, daß ihm der Name des Fremden nicht unbekannt sei. So sprach er denn auch zu mir gütig und mit der imposanten Miene eines Mannes, der sich des weiten Feldes seiner Lebenserfahrung bewußt ist; dabei erforschte er mich unaufhörlich mit scharfsinniger, ihm nutzbringender Neugier, als wäre ich eine exotische Sitte, ein lehrreiches Denkmal oder ein auf der Tournee begriffener Star. Er bewies an meiner Person gleichzeitig die erhabene Freundlichkeit des weisen Mentor und die eifrige Wißbegier des jungen Anacharsis.
Er bot mir keinerlei Empfehlungen an die Revue des Deux-Mondes an, stellte aber eine Reihe Fragen über mein Leben, meine Studien und meine Neigungen, von denen ich zum erstenmal in einer Art sprechen hörte, als könne man ihnen vernünftigerweise nachgehen, während ich bisher geglaubt hatte, es sei Pflicht, ihnen zu widerstreben. Da diese Neigungen auf seiten der Literatur lagen, suchte er mich nicht von dieser abzubringen; vielmehr sprach er mit höflicher Achtung von ihr wie von einer verehrungswürdigen charmanten Person aus erlesenem Kreise, der man in Rom oder Dresden das beste Andenken bewahrt hat und die man bedauerlicherweise durch den Zwang der Verhältnisse so selten wiedertrifft. Mit einem fast schlüpfrigen Lächeln neidete er mir die angenehmen Stunden, die sie mir Glücklicherem und Freierem verschaffe. Aber die Wendungen, deren er sich bediente, zeigten mir die Literatur sehr verschieden von dem Bilde, das ich mir in Combray von ihr gemacht hatte; und ich sah ein, daß ich doppelt recht gehabt hatte, ihr zu entsagen. Bisher war mir nur zum Bewußtsein gekommen, daß ich keine Begabung zum Schreiben habe, jetzt nahm mir Herr von Norpois auch das Verlangen danach. Ich wollte ihm ausdrücken, was ich mir erträumt hatte; in meiner zitternden Erregung hätte ich mir Skrupel gemacht, wenn meine Worte nicht das denkbar aufrichtigste Äquivalent dessen, was ich fühlte und bisher noch nie zu formulieren versucht hatte, gewesen wären, und so wurden diese Worte natürlich ganz unklar. Vielleicht aus Berufsgewohnheit, vielleicht kraft der jedem hochgestellten Mann eigenen Ruhe (denn, wenn man ihn um Rat fragt, ist er sicher, den Gang des Gespräches zu beherrschen, und läßt den Unterredner sich aufregen, abmühen und nach Herzenslust schuften), vielleicht auch, um den Charakter seines Kopfes zur Geltung zu bringen (der, nach seiner Meinung trotz der großen »Favoris« griechisch war), pflegte Herr von Norpois, während man ihm etwas darlegte, eine absolut unbewegliche Miene zu bewahren: man sprach wie zu einer tauben antiken Büste in einer Glyptothek. Plötzlich erklang dann wie der fallende Hammer des Auktionators oder wie ein delphisches Orakel die Stimme des Botschafters, und seine Antwort war um so eindrucksvoller, als nichts in seiner Miene hatte vermuten lassen, was für einen Eindruck er von dem andern empfangen habe, noch was für eine Meinung er wohl äußern werde.
Mit einmal sagte er, als sei die Sache entschieden, nachdem er mich angesichts der unbewegten Augen, die keinen Augenblick von mir abließen, lange hatte schwatzen lassen: »Gerade ist mir der Sohn eines meiner Freunde gegenwärtig, dem es ›mutatis mutandis‹ geht wie Ihnen« (und er nahm, um von unsern gemeinsamen Anlagen zu sprechen, einen begütigenden Ton an, als handle es sich nicht um Anlagen zur Literatur, sondern zum Rheumatismus, und als wolle er mir zeigen, daß man nicht daran stirbt). »Dieser junge Mann hat es vorgezogen, den Quai d'Orsay zu verlassen, wo ihm doch der Weg durch den Vater geebnet war, und ohne sich um das Gerede der Leute zu kümmern, hat er sich angeschickt zu produzieren. Sicherlich hat er keinen Anlaß, es zu bereuen. Er hat vor zwei Jahren – er ist, nebenbei bemerkt, natürlich bedeutend älter als Sie – ein Werk veröffentlicht, das sich mit dem Gefühl des Unendlichen vom westlichen Ufer des Viktoria-Nyassa-Sees befaßt, und dies Jahr ein weniger wichtiges, aber mit hurtiger, bisweilen sogar ziemlich scharfer Feder geschriebenes Büchlein über das Repetiergewehr in der bulgarischen Armee, Arbeiten, die ihm bereits einen besondern Platz gesichert