und hatte viel zu leiden gehabt, da er sehr empfindlich und eine Seele von einem Menschen ist. Dafür kann ich zeugen: er ist zwar jünger als ich, bedeutend jünger, aber ich war viel mit ihm zusammen, wir sind Freunde von alters her, ich kenne ihn genau. Wer kennt ihn übrigens nicht? Diese kristallene Seele. Das ist sogar der einzige Fehler, den man ihm vorwerfen könnte, das Herz eines Diplomaten muß nicht so unbedingt durchsichtig sein wie seines ist. Was nicht hindert, daß davon die Rede ist, ihn nach Rom zu schicken, das wäre ein schöner Schritt vorwärts in der Karriere, aber ein hartes Stück Arbeit. Unter uns, so sehr Vaugoubert jeder Ehrgeiz fernliegt, ich glaube, er wäre sehr zufrieden damit und wünscht nicht, diesen Kelch an sich vorübergehn zu sehen. Vielleicht wird er da unten Wunder tun; er ist der Kandidat der Consulta, und ich für mein Teil kann ihn mir sehr gut mit seiner Künstlernatur im Rahmen des Palazzo Farnese und in der Galerie der Caracci denken. Eigentlich sollte niemand ihn hassen können; aber um den König Theodosius gibt es eine ganze Kamarilla, die mehr oder weniger der Wilhelmstraße ergeben ist, deren Inspirationen gelehrig folgt und dem hohen Herrn auf alle Art das Leben schwer macht. Vaugoubert hat nicht nur den Intrigen der Couloirs standzuhalten gehabt, sondern auch den Schmähungen der Lohnschreiber, die dann später, feige wie edle bezahlten Journalisten, die ersten waren, die zu Kreuze krochen, inzwischen sich aber nicht abschrecken ließen, alberne Anwürfe ehrloser Gesellen gegen unseren Repräsentanten auszuschlachten. Über einen Monat tanzten Vaugouberts Feinde rings um ihn her den Tanz um den Skalp« – dies Wort stieß Herr von Norpois mit Nachdruck hervor. – »Aber nun war er gewarnt, und er hat die Schmähungen erwidert mit einem Fußtritt« – das kam noch energischer heraus und war von einem so wilden Blick begleitet, daß wir einen Augenblick zu essen aufhörten. »Wie ein schönes arabisches Sprichwort sagt: Die Hunde bellen, und die Karawane zieht vorbei.« Mit diesem Zitat endete Herr von Norpois, um auf unseren Gesichtern den Eindruck seiner Worte zu studieren. Der war groß, das Sprichwort war uns bekannt. Es hatte gerade in diesem Jahre bei den Leuten von Rang jenes andere »Wer Wind sät, wird Sturm ernten« ersetzt, welches ruhebedürftig geworden war. Die Prominenten bestellten ihren Boden abwechselnd, meist nach einem Dreifeldersystem. Derartige Zitate, mit denen Herr von Norpois seine Artikel in der Revue meisterhaft zu zieren wußte, waren aber durchaus nicht notwendig, diese Artikel muteten ohnehin gediegen und informiert an. Auch ohne diesen Schmuck genügte es, daß er im richtigen Moment schrieb – und das verfehlte er nicht –: »Das Kabinett von Saint-James fühlte nur allzubald die Gefahr« oder etwa: »Groß war die Erregung am Pont-aux-Chantres, wo man mit unruhigen Blicken die egoistische, aber geschickte Politik der doppelköpfigen Monarchie verfolgte« oder: »Ein Schrei der Entrüstung erscholl vom Montecitorio« oder auch: »das ewige Doppelspiel, wie es nun einmal in der Art des Ballplatzes liegt«. An diesen Ausdrücken erkannte der profane Leser gleich mit Respekt den Diplomaten von Beruf. Was ihn aber noch distinguierter erscheinen ließ und als Besitzer einer höheren Kultur, das war die feine Verwertung von Zitaten, deren Musterbeispiel damals war: »Macht mir gute Politik und ich werde euch gute Finanzen machen, wie der Baron Louis zu sagen pflegte«. (Man hatte damals noch nicht vom Orient importiert: »Der Sieg fällt von zwei Gegnern dem zu, der eine Viertelstunde länger leiden kann als der andere, wie die Japaner sagen.«) Der Ruf hoher Bildung, verbunden mit einem wahren Genie der Intrige, die sich unter der Maske der Anteillosigkeit verbarg, hatte Herrn von Norpois in die Académie des Sciences Morales gebracht. Und manche Leute meinten, er würde auch in der Academie Française am Platze sein; denn eines Tages deutete er an, daß wir durch engeren Anschluß an Rußland zu einer Entente mit England gelangen könnten, und schrieb entschlossen: »Eines mag man sich doch am Quai d'Orsay gesagt sein lassen und von jetzt ab in allen Handbüchern der Geographie, die in dieser Beziehung unvollständig sind, lehren und jeden Abiturienten unbarmherzig zurückstellen, der es nicht weiß: ›Wenn alle Wege nach Rom führen, so geht dafür die Straße von Paris nach London notwendig über Petersburg‹.«
»Alles in allem«, fuhr Herr von Norpois, an meinen Vater gewandt, fort, »hat Vaugoubert sich da einen schönen Erfolg erarbeitet, der seine Berechnungen weit übertraf. Er war auf einen korrekten Toast gefaßt gewesen (und nach den Wetterwolken über den letzten Jahren war das schon allerlei), aber auf mehr auch nicht. Mehrere Personen, die dem Diner beiwohnten, haben mir versichert, daß man sich beim Lesen des Toastes keine Vorstellung machen kann von dem Eindruck, den er hervorrief, so gut brachte der König, dieser Meister des gesprochenen Wortes, jede Einzelheit zur Geltung, so geschickt unterstrich er nebenher jede feinere Anspielung und Schattierung. Ich habe mir da ein pikantes Detail erzählen lassen, das die jugendliche Anmut, die dem König Theodosius alle Herzen gewinnt, wieder einmal hervorhebt. Just bei dem Worte »Wahlverwandtschaften«, so hat man mir versichert, also bei der großen Neuheit der Rede, die, wie Sie sehen werden, noch auf lange Zeit die Kanzleien mit Stoff zu Kommentaren versorgen wird, habe der König in der Voraussicht von der Freude unseres Botschafters, der hierin die gerechte Krönung seiner Bemühungen, ja man könnte sagen, seiner Träume erblicken, hierin geradezu seinen Marschallstab finden mußte, sich halb zu Vaugoubert gewandt, den bannenden Blick der Öttinger auf ihn gerichtet und das trefflich gewählte Wort »Wahlverwandtschaften«, diesen Glücksfund, in einem Tone ausgesprochen, an dem alle merkten, daß es mit Vorbedacht und in genauer Sachkenntnis geschah. Vaugoubert scheint es nicht leicht geworden zu sein, seine Erregung zu meistern, und da kann ich ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen. Eine durchaus glaubwürdige Person hat mir sogar anvertraut, Seine Majestät habe sich, als sie nach dem Essen Cercle hielt, dem Botschafter genähert und mit halblauter Stimme zu ihm gesagt: »Sind Sie mit Ihrem Schüler zufrieden, mein lieber Marquis?««
»Eins ist gewiß,« schloß Herr von Norpois, »mehr als zwanzig Jahre Verhandlungen tut solch ein Toast für die Verknüpfung zweier Länder, für ihre Wahlverwandtschaft, um den pittoresken Ausdruck König Theodosius' II zu gebrauchen. Das ist ja, wenn Sie wollen, nur ein Wort, aber Sie sehen, was für ein Glück es gemacht hat, wie die ganze europäische Presse es wiederholt, welches Interesse es erweckt, welch neuen Klang es hat. Es ist recht bezeichnend für diesen Fürsten. Ich gehe nicht so weit, zu behaupten, daß er alle Tage solche Perlen findet. Aber fast in jeder seiner vorbereiteten Reden, ja mehr noch in gesprächsweiser Eingebung gibt er mit einem Schlagwort sein Signalement – beinahe hätte ich gesagt seine Signatur. Der Parteilichkeit bin ich in diesem Punkte wohl kaum verdächtig, ich als erklärter Gegner aller Neuerungen auf dem Gebiet. Neunzehnmal von zwanzig sind sie gefährlich.« »Ja, ich habe mir gedacht, daß das jüngste Telegramm des deutschen Kaisers nicht nach Ihrem Geschmack gewesen sein mag«, sagte mein Vater.
Herr von Norpois hob die Augen zum Himmel, als wollte er sagen: ja, der! – »Vor allem einmal ist es ein Akt der Undankbarkeit. Es ist schlimmer als ein Verbrechen, ist ein Fehler von einer Dummheit, die ich als pyramidal bezeichnen möchte! Nebenbei gesagt, wenn da niemand Frieden stiftet, ist der Mann, der Bismarck fortgejagt hat, imstande, nach und nach die ganze Bismarckische Politik abzuschwören, und dann gibt es den Sprung ins Ungewisse.«
»Mein Mann sagt mir, Herr von Norpois, Sie würden ihn vielleicht den Sommer in einem der nächsten Jahre nach Spanien entführen, das freut mich außerordentlich für ihn.«
»Gewiß, ein äußerst reizvolles Projekt, an das ich mit Freuden denke. Sehr gern würde ich diese Reise mit Ihnen machen, mein Lieber. Und Sie, gnädige Frau, haben Sie schon an die Verwendung der Ferien gedacht?«
»Vielleicht werde ich mit meinem Sohn nach Balbec gehen, ich weiß noch nicht ...»
»Ah! Balbec ist angenehm, ich habe dort mehrere Sommer verbracht. Man fängt jetzt an ganz allerliebste Villen da zu bauen, ich glaube, der Ort wird Ihnen gefallen. Aber darf ich fragen, wieso Ihre Wahl gerade auf Balbec gefallen ist?«
»Mein Sohn ist sehr darauf aus, gewisse Kirchen der Gegend zu sehen, besonders die von Balbec selbst. Für seine Gesundheit fürchtete ich allerdings ein wenig die Anstrengungen der Reise und besonders des Aufenthalts. Aber, wie ich höre, hat Balbec jetzt ein ausgezeichnetes Hotel, das ihm ermöglichen wird, sich zu pflegen, wie es sein Zustand erfordert.«
»Ah, das muß ich einer Dame wiedererzählen, bei der das großen Anklang finden wird.«
»Die Kirche von Balbec ist sehr schön, nicht wahr?« fragte ich und überwand damit meine Traurigkeit über die Kunde, daß einer der Anziehungspunkte von Balbec in seinen allerliebsten Villen bestehe.
»Nun,