Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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       Mir war Gilberte schon fast ganz gleichgültig geworden, als ich zwei Jahre später mit meiner Großmutter nach Balbec reiste. Ergriff mich der Reiz eines neuen Gesichtes, hoffte ich mit Hilfe eines anderen jungen Mädchens gotische Kathedralen, Paläste und Gärten Italiens kennen zu lernen, dann sagte ich mir trübselig: soweit unsere Liebe Liebe zu einem bestimmten Geschöpf ist, mag sie wohl nichts recht Wirkliches sein, erst fesseln unser Gefühl für einige Zeit Assoziationen mit angenehmen oder schmerzlichen Träumereien an eine Frau, und wir glauben schon, es sei uns von dieser mit zwingender Gewalt eingegeben, dann aber machen wir uns absichtlich oder unbewußt von diesen Assoziationen frei, aufs neue erwacht die Liebe, als käme sie spontan aus uns allein, und wendet sich einer andern Frau zu. Und doch: zur Zeit der Abreise und zu Anfang meines Aufenthaltes in Balbec war meine Gleichgültigkeit noch intermittierend. So wenig ist unser Leben chronologisch, es durchkreuzt das Nacheinander der Tage mit Anachronismen; oft lebte ich, älter als gestern und vorgestern, in Tagen meiner Liebe zu Gilberte. Dann war es mir plötzlich schmerzlich, sie nicht zu sehen; genau so wie es mir damals schmerzlich gewesen wäre. Nachdem es doch schon fast ersetzt war durch ein neues Ich, lebte das alte wieder auf, das Ich, das Gilberte geliebt hatte; und wiedergegeben wurde es mir viel häufiger durch etwas Geringfügiges als durch etwas Wichtiges. Ein Beispiel aus der Zeit meines Aufenthaltes in der Normandie, das ich vorwegnehme: in Balbec hörte ich einen Unbekannten, dem ich auf der Mole begegnete, sagen: »Die Familie des Direktors vom Postministerium«. Damals wußte ich noch nicht, daß diese Familie einmal in mein Leben eingreifen sollte, und so hätten mich die Worte kalt lassen müssen: und doch gaben sie mir einen Stich, wie ein Ich ihn fühlt, das schon seit langem so gut wie abgeschafft ist: Schmerz, mit Gilberte auseinander zu sein. Nie war mir seither ein Gespräch wieder in den Sinn gekommen, das Gilberte einmal in meiner Gegenwart mit ihrem Vater über die Familie des Direktors vom Postministerium geführt hatte. Liebeserinnerungen bilden keine Ausnahme von den allgemeinen Gesetzen des Gedächtnisses, die wiederum regiert werden von den noch allgemeineren Gesetzen der Gewohnheit. Da Gewohnheit alles abschwächt, erinnert uns gerade, was wir vergessen haben, am meisten an ein Wesen (Vergessenes ist bedeutungslos gewesen, und dadurch haben wir ihm seine ganze Kraft gelassen). Daher ist auch der beste Teil unseres Gedächtnisses außer uns, in einem regenschweren Windzug, im eingeschlossenen Geruch von Zimmerluft, im Geruch eines aufflammenden Feuers, in alledem, worin wir selbst uns wiederfinden, was unser Bewußtsein verschmäht hat, weil es ihm nicht verwendbar war. Letzte Reserve der Vergangenheit, ihre beste: wenn alle unsere Tränen versiegt scheinen, wird sie uns noch weinen machen. Außer uns? Nein, richtiger gesagt, in uns, versteckt in länger oder kürzer dauerndem Vergessen. Diesem Vergessen allein haben wir zuzuschreiben, daß wir von Zeit zu Zeit uns wiederfinden, wie wir einst waren, den Dingen gegenüberstehen, wie wir ihnen gegenüberstanden, von neuem leiden, weil wir nicht mehr wir sind, sondern dies andere Wesen, und weil es liebte, was uns jetzt gleichgültig ist. Im Tageslichte des gewohnten Gedächtnisses verblassen die Bilder der Vergangenheit nach und nach, sie löschen aus, es bleibt von ihnen nichts, wir werden sie nicht mehr wiederfinden. Vielmehr: wiederfinden würden wir sie nicht mehr, wenn nicht Worte wie »Direktor im Postministerium« sorgsam in das Vergessen eingeschlossen worden wären, wie man etwa auf der Staatsbibliothek ein Exemplar von einem Buche deponiert, das sonst möglicherweise unauffindbar würde.

      Aber dieser Schmerz und das Wiederaufblühen der Liebe zu Gilberte dauerten nicht länger als solche Erlebnisse im Traume dauern; und diesmal hörten sie so schnell auf, gerade weil in Balbec die alte Gewohnheit nicht mehr da war, die ihnen hätte Dauer verschaffen können. Danach scheinen die Wirkungen der Gewohnheit widerspruchsvoll; das macht, sie gehorcht vielfältigen Gesetzen. In Paris war ich immer gleichgültiger gegen Gilberte geworden dank der Gewohnheit. Der Gewohnheitswechsel, das heißt, das momentane Aufhören der Gewohnheit vollendete, als ich nach Balbec reiste, das Werk der Gewohnheit. Sie schwächt ab, aber stabilisiert, sie führt den Verfall herbei, gibt ihm aber endlose Dauer. Jeden Tag pauste ich seit Jahren, so gut es ging, meinen Seelenzustand auf den des vorigen Tages durch. Das neue Bett, an das mir in Balbec morgens ein ganz anderes erstes Frühstück gebracht wurde als in Paris, konnte nicht mehr den Gedanken Raum geben, die meine Liebe zu Gilberte gespeist hatten. Es gibt Fälle (sie sind allerdings ziemlich selten), in denen Ortswechsel das beste Mittel ist, Zeit zu gewinnen, während Seßhaftigkeit die Stunden erstarren macht. Meine Reise nach Balbec war wie der erste Ausgang eines Rekonvaleszenten, auf den er nur gewartet hat, um zu bemerken, er sei geheilt.

      Heute würde man diese Reise wohl lieber im Automobil machen; das wäre angenehmer. In einem bestimmten Sinne würde sie dadurch sogar richtiger, denn im Automobil folgt man in viel näherer, unmittelbarerer Berührung dem wechselnden Auf und Ab der Erdoberfläche. Aber das Besondere, was man beim Reisen genießt, ist nicht, unterwegs aussteigen und haltmachen zu können, wenn man müde ist, nein, der Unterschied zwischen Abfahrt und Ankunft darf nicht abgeschwächt werden, sondern so stark wie irgend möglich muß er werden, er will unbeeinträchtigt in seiner ganzen Intensität erlebt sein, so wie er in unserer Phantasie bestand, als sie uns von dem Ort, an dem wir lebten, mitten in den ersehnten Ort versetzte. Dieser Gedankensprung war wunderbar, nicht weil er eine Entfernung übersprang, sondern weil er verschiedene Individualitäten der Erde vereinte, uns von einem Namen zu einem andern Namen führte; auf einer Spazierfahrt, bei der man nach Belieben aussteigen kann, gibt es keine Ankunft, bei der Eisenbahnfahrt aber wird der Unterschied von Ankunft und Abfahrt geheimnisvoll schematisiert durch eine Operation, die sich in den Bahnhöfen, diesen ganz besondern Stätten, vollzieht, die sozusagen kein Teil der Stadt sind und doch die Essenz ihrer Persönlichkeit so deutlich enthalten wie sie auf dem Signalschild ihren Namen tragen.

      In allem hat unsere Zeit die fixe Idee, die Dinge nur inmitten ihrer wirklichen Umgebung zu zeigen, und unterdrückt dadurch das Wesentliche, den geistigen Akt, der sie von der Wirklichkeit isoliert. Ein Gemälde wird mitten unter Möbeln, Nippsachen und Wandbespannungen seiner Epoche ›präsentiert‹, und diese fade Dekoration zusammenzustellen, ist Stolz mancher Dame des Hauses, die gestern noch ganz ungebildet war und heut ihre Tage in Archiven und Bibliotheken zubringt. So gibt uns denn heutzutage unterm Diner ein Meisterwerk nicht das berauschende Glück, wie man in einem Museumssaal es von ihm haben kann; solch ein nackter, auf allen besondern Schmuck verzichtender Saal symbolisiert weit besser den Seelenraum, in dem der Künstler sich von der Welt abgetrennt hat, um zu schaffen. Leider sind diese wunderbaren Stätten, die Bahnhöfe, von denen man sich zu fernen Bestimmungsorten aufmacht, zugleich tragische Stätten. Soll sich das Wunder vollziehen, das uns mitten in Ländern, die bisher nur in unsern Gedanken existierten, leben läßt, so müssen wir dagegen beim Verlassen des Wartesaals darauf verzichten, bald die befreundete Stube wiederzufinden, in der wir eben noch waren. Man muß alle Hoffnung aufgeben, zum Schlafen nach Hause zu kommen, sobald man sich entschlossen hat, in die verpestete Höhle einzudringen, aus der man zum Mysterium gelangt, in eine der großen Glashallen wie die von Saint-Lazare, in der nun ich den Zug nach Balbec suchte. Über einer auseinandergerissenen Stadt spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohender Dramen; so modern, so fast pariserisch sind manche Himmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wölbung kann sich nur etwas Furchtbares und Feierliches vollziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuzerhöhung.

      Solange ich mich damit begnügt hatte, die sturmumwehte persische Kirche von Balbec von meinem Pariser Bett aus anzuschauen, hatte mein Körper gegen die Reise nichts einzuwenden gehabt Das fing erst an, als er begriffen hatte, man habe es auf ihn mit abgesehen und werde mich am Abend der Ankunft in »mein« Zimmer führen, ein Zimmer, das er gar nicht kannte. Noch größer wurde seine Empörung, als ich am Tage vor der Abfahrt erfuhr, meine Mutter werde uns nicht begleiten (mein Vater konnte nämlich bis zum Zeitpunkt seiner Abreise nach Spanien mit Herrn von Norpois Paris nicht verlassen und hatte deshalb ein Sommerhaus in der Umgebung gemietet). Übrigens ließ sich meine Sehnsucht, Balbec mit Augen anzuschauen, dadurch nicht beeinträchtigen, daß ich diesen Anblick mit Schmerzen erkaufen sollte. Ja, die Schmerzen waren mir ein Sinnbild und eine Garantie dafür, daß der Eindruck, den ich suchte, Wirklichkeit werden würde. Für diesen Eindruck wäre es kein Ersatz gewesen, irgendein angeblich äquivalentes Schauspiel, ein »Panorama« zu besuchen, um nachher heimzugehen und in meinem Bett zu schlafen. Nicht zum ersten Male fühlte ich, daß Liebende und Genießende nicht dieselben Menschen sind. Ich glaubte mich ebensosehr nach Balbec zu sehnen wie mein Arzt, der sich am Morgen der Abreise