ersetzt. Denn im Gegensatz zum Kriege stellt man in der Liebe nach einer Niederlage härtere Bedingungen, man erschwert sie immer mehr, je mehr man besiegt ist, wenn man überhaupt in der Lage ist, Bedingungen zu stellen. Das war ich Gilberte gegenüber nicht. So ging ich zunächst lieber nicht mehr zu ihrer Mutter. Gewiß sagte ich mir weiterhin, daß Gilberte mich nicht liebe, daß ich das schon seit ziemlich langer Zeit wisse, daß ich sie wiedersehen könne, wann ich wolle, und wenn ich nicht wolle, sie mit der Zeit vergessen. Aber diese Gedanken waren, wie Heilmittel, die gegen bestimmte Krankheitserscheinungen nichts helfen, ohne jede wirksame Kraft gegen die beiden parallelen Linien, die ich von Zeit zu Zeit wiedersah, die von Gilberte und dem jungen Mann, wie sie sich mit langsamen Schritten in die Avenue des Champs-Élysées verloren. Es war ein neues Leid, das sich ja auch schließlich abnutzen würde, ein Bild, das meinem Geist sich eines Tages ganz abgeklärt von allem, was es Schädliches enthielt, darbieten würde, gleich tödlichen Giften, die man ohne Gefahr anfaßt, oder wie ein Stückchen Dynamit, an dem man seine Zigarette anzünden kann, ohne eine Explosion fürchten zu müssen. Inzwischen gab es schon in meinem Innern eine andere Kraft, die mit aller Gewalt gegen jene ungesunde Kraft ankämpfte, welche mir unablässig Gilbertes Spaziergang in der Dämmerung darstellte: um die immer neuen Angriffe meiner Erinnerung abzuwehren, arbeitete meine Phantasie mit Erfolg in entgegengesetztem Sinne. Gewiß fuhr die erste der beiden Kräfte fort, mir die beiden Spaziergänger der Avenue des Champs-Elysees zu zeigen, und bot mir auch andere unangenehme, der Vergangenheit entnommene Bilder dar, zum Beispiel: Gilberte, wie sie die Schultern zuckte, als ihre Mutter sie bat, bei mir zu bleiben. Die zweite Kraft aber zeichnete in den Stickrahmen meiner Hoffnungen eine Zukunft, die viel willfähriger sich darbot als jene arme schließlich doch sehr beschränkte Vergangenheit. Gegenüber der einen Minute, in der ich die verdrossene Gilberte wiedersah, gab es soviel andere, in denen ich mir ausdachte, was für Schritte sie unternehmen lassen würde, um unsere Versöhnung, vielleicht unsere Verlobung zu bewerkstelligen. Nun schöpfte allerdings die Phantasie diese auf die Zukunft gerichtete Kraft gleichwohl aus der Vergangenheit. In dem Maße, wie mein Verdruß über Gilbertes Schulterzucken verblaßte, mußte auch die Erinnerung an ihre Reize, die Erinnerung, die mich ihre Wiederkehr wünschen ließ, abnehmen. Doch war ich noch weit entfernt von diesem Tode der Vergangenheit. Immer noch liebte ich sie, die ich tatsächlich zu verabscheuen glaubte. Jedesmal, wenn man mich gut angezogen und munter aussehend fand, hätte ich gewollt, sie wäre zugegen. Es reizte mich, daß viele Leute in diesem Zeitpunkt den Wunsch aussprachen, mich zu empfangen. Ich weigerte mich, zu ihnen zu gehen. Es gab einen Auftritt zu Hause, weil ich meinen Vater nicht zu einem offiziellen Diner begleitete, bei dem auch die Bontemps mit ihrer Nichte Albertine sein sollten, die damals ein ganz junges Mädchen war, beinah noch ein Rind. So greifen die verschiedenen Perioden unseres Lebens ineinander über. Um dessentwillen, das man gerade liebt und das uns eines Tages ganz gleichgültig sein wird, weist man verächtlich die Begegnung mit dem zurück, was einem jetzt gleichgültig ist, das man aber morgen lieben wird, das man vielleicht schon früher geliebt hätte, wenn man ihm begegnet wäre, das dann unsere gegenwärtigen Leiden abgekürzt hätte, um freilich nur durch andere sie zu ersetzen. Die meinen waren im Begriff, sich zu modifizieren. Mit Verwunderung beobachtete ich im eigenen Innern heute das eine, morgen ein anderes Gefühl, und diese Gefühle waren meist eingegeben von einer Hoffnung oder einer Furcht in bezug auf Gilberte. Auf die Gilberte, die ich in mir trug. Ich hätte mir sagen sollen, daß die andere, die wirkliche, vielleicht ganz anders war als diese, nichts von den Reueregungen wußte, die ich ihr zuschrieb, vermutlich viel weniger an mich dachte, nicht nur als ich selbst an sie, sondern auch, als ich sie selber an mich denken ließ, wenn ich mit meiner ausgedachten Gilberte allein war, ihren wahren Absichten gegen mich nachforschte und sie mir dabei immer ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich richtend vorstellte.
Bei solchen Perioden, in denen Kummer im Schwächerwerden noch fortdauert, muß man unterscheiden zwischen dem, den uns das beständige Denken an die Person selbst verursacht, und dem, den gewisse Erinnerungen, ein böses Wort, das sie gesagt hat, eine Wendung in einem ihrer Briefe beleben. Wir heben für eine spätere Liebesgeschichte die Beschreibung der verschiedenen Formen des Kummers auf und wollen hier nur sagen, daß von den beiden erwähnten die erste bei weitem nicht so quälend ist als die zweite. Das macht, unser Begriff von der immer in uns lebendigen Person wird verklärt durch die Glorie, die wir ihr alsbald geben, und immer wieder prägt sich ihm süße Hoffnung oder wenigstens Gelassenheit beständiger Schwermut ein. (Nebenbei ist zu bemerken, daß das Bild des Wesens, das uns Leid zufügt, wenig Platz einnimmt in all dem, was einen Liebeskummer schwer macht, verlängert und seine Heilung hindert, sowie bei bestimmten Krankheiten die Ursache in gar keinem Verhältnis steht zu dem nachfolgenden Fieber und der Langsamkeit des Übergangs zur Rekonvaleszenz.) Empfängt nun die Vorstellung des von uns geliebten Wesens den Widerschein einer im allgemeinen optimistischen Anschauung, so trifft das nicht zu auf die besonderen Erinnerungen, die bösen Worte, den feindseligen Brief (ich bekam von Gilberte nur einen einzigen solchen); man sollte meinen, die Person selber hause in solchen winzigen Fragmenten und bekäme da eine Macht, wie sie sie bei weitem in der gewohnten Vorstellung nicht hat, die wir uns von ihrem Gesamtwesen bilden. Den Brief haben wir eben nicht wie das Bild des geliebten Wesens angeschaut in der melancholischen Gelassenheit der Trauer; wir haben ihn gelesen, verschlungen unter der entsetzlichen Beklemmung, mit der uns unerwartetes Unglück umfängt. Die Entstehung dieser Art Kummer ist anders: er kommt uns von außen und geht auf dem Wege qualvollsten Leidens uns ins Herz. Das Bild unserer Freundin, das wir für unverändert und authentisch halten, ist in Wirklichkeit häufig von uns überarbeitet worden. Die quälende Erinnerung aber ist kein Zeitgenosse des restaurierten Bildes, sie ist aus einer anderen Epoche, einer der seltenen Zeugen gräßlicher Vergangenheit. Da aber diese Vergangenheit weiter besteht außer in uns, denen es beliebt hat, ein wunderbares goldenes Zeitalter, ein Paradies der allgemeinen Versöhnung an ihre Stelle zu setzen, so rufen diese Erinnerungen und diese Briefe uns ins Wirkliche zurück, und an dem jähen Schmerz, den sie uns machen, sollten wir fühlen, wie weit wir uns in den tollen Hoffnungen unserer täglichen Erwartung von ihr entfernt haben. Nicht immer braucht diese Wirklichkeit dieselbe zu bleiben, obgleich auch das bisweilen vorkommt. Es gibt in unserm Leben viele Frauen, die wir nie wieder zu sehen begehrten und die natürlich unser unbeabsichtigtes Schweigen mit ebensolchem Schweigen beantworten. Bei diesen haben wir, da wir sie nicht liebten, auch nie die fern von ihnen verbrachten Jahre gezählt, und dies Beispiel, das ein Einwand wäre, vernachlässigen wir, wenn wir die Wirkungskraft der Trennung erwägen, wie die, welche an Ahnungen glauben, alle Fälle vernachlässigen, in denen ihre Ahnungen nicht bestätigt worden sind.
Aber das Entferntsein kann schließlich doch wirksam werden. Begier, Lust, uns wiederzusehen, erwachen endlich aufs neue im Herzen, das jetzt uns verleugnet. Allein dazu ist Zeit nötig. Nun sind unsere Forderungen in bezug auf die Zeit ebenso maßlos wie die, welche das Herz stellt, um sich ändern zu können. Zunächst ist gerade Zeit das Zugeständnis, welches uns am schwersten fällt, denn unser Leid ist qualvoll, und wir haben es eilig, ihm ein Ende zu machen. Sodann wird dieser Zeit, deren das andere Herz bedarf, um sich zu ändern, sich das unsere bedienen, um gleichfalls anders zu werden, und wenn dann das Ziel, das wir uns gesetzt, erreichbar wird, ist es schon nicht mehr ein Ziel für uns. Übrigens enthält schon der Gedanke: es ist erreichbar, es gibt kein Glück, das wir nicht endlich, wenn es für uns kein Glück mehr ist, erreichen könnten –, schon dieser Gedanke enthält ein Stück, aber auch nur ein Stück Wahrheit. Das Glück fällt uns zu, wenn wir gleichgültig dagegen geworden sind. Und gerade diese Gleichgültigkeit hat uns weniger anspruchsvoll gemacht und ermöglicht uns, rückblickend zu glauben, daß es uns entzückt hätte zu einer Zeit, in welcher es uns doch vielleicht sehr unvollkommen erschienen wäre. Man ist nicht sehr heikel und kein sehr guter Richter in Dingen, um die man sich gar nicht mehr kümmert. Die Liebenswürdigkeit eines Wesens, das wir nicht mehr lieben, kann jetzt unserer Gleichgültigkeit übertrieben vorkommen, während sie vielleicht bei weitem nicht unserer Liebe genügt hätte. Jetzt denken wir bei den zärtlichen Worten, der Aufforderung zu einem Rendezvous an die Freude, die sie uns bereitet hätten, nicht aber an all die andern Freuden, die wir damals gleich unmittelbar danach verlangten und durch unsere Gier vielleicht verhindert hätten. So ist es denn nicht sicher, daß das zu spät gekommene Glück – gekommen, wenn man es nicht mehr genießen kann, wenn man nicht mehr liebt – genau dasselbe Glück ist, dessen Entbehren uns ehedem so unglücklich gemacht hat. Darüber könnte nur ein