verdoppelte sich mein Verdruß. Zunächst konnte ich nun erst wieder von diesem Tage ab die qualvolle fruchtbringende Enthaltsamkeit datieren, welche die Störenfriede ohne mein Wissen unterbrochen und damit zunichte gemacht hatten. Und obendrein hätte ich weniger Freude daran gehabt, Gilberte zu sehen, die mich jetzt nicht mehr für einen würdig Resignierenden, sondern für jemanden hielt, der auf dunklen Umwegen eine Zusammenkunft zu bewerkstelligen sucht, die zu gewähren sie verschmäht hatte. Ich verfluchte das eitle Geschwätz von Leuten, die oft, ganz ohne jede Absicht, zu schaden oder zu helfen, für nichts und wieder nichts, nur um zu reden, manchmal nur, weil wir uns nicht enthalten konnten, vor ihnen zu reden und sie indiskret sind (wie wir), im gegebenen Falle solchen Schaden stiften. Allerdings spielen sie bei der verhängnisvollen Arbeit, die zur Zerstörung unserer Liebe geleistet wird, bei weitem keine so wichtige Rolle wie die beiden Personen, welche, gewohnheitsmäßig, die eine durch allzuviel Güte, die andere durch zuviel Schlechtigkeit alles in dem Augenblick zunichte machen, da alles sich zum Guten fügen wollte. Aber diesen beiden Personen verübeln wir es nicht wie den lästigen Cottard und Konsorten, denn die zweite ist die Person, die wir lieben, und die erste sind wir selbst.
Da indessen Frau Swann bei jedem Besuch, den ich ihr machte, mich einlud, zum Tee zu ihrer Töchter zu kommen und dieser direkt Bescheid zu geben, schrieb ich oft an Gilberte, und in dieser Korrespondenz wählte ich nicht die Wendungen, die, wie mir schien, überzeugend auf sie hätten wirken können, ich suchte nur dem Quellen meiner Tränen das sanfteste Bett zu bahnen. Denn das Weh ist wie die Begier nicht auf Selbsterforschung, sondern auf Befriedigung aus; fängt man zu lieben an, so bringt man die Zeit nicht damit hin, diese Liebe kennen zu lernen, nein, man bereitet die Möglichkeiten für eine Begegnung am nächsten Tage vor. Wenn wir verzichten, suchen wir nicht unsern Kummer zu erkennen, sondern der, die ihn verursacht; seinen nach unserm Ermessen liebevollsten Ausdruck darzubringen. Wir sagen Dinge, die zu sagen uns ein Bedürfnis ist, die aber der andere nicht verstehen wird, wir sprechen nur für uns selbst. Ich schrieb: »Ich hatte geglaubt, es werde nicht möglich sein. Ach, ich sehe, es ist nicht so schwer.« Ich sagte ihr auch: »Ich werde Sie wahrscheinlich nicht mehr sehen«, und dabei hütete ich mich, in meine Worte eine Kälte zu legen, die sie für erkünstelt halten konnte; indem ich sie schrieb, machten mich meine Worte weinen, denn ich fühlte, sie drückten nicht das aus, was ich gern geglaubt hätte, sondern das, was in Wirklichkeit eintreffen werde. Denn wenn sie mich das nächste Mal um ein Wiedersehn bitten ließ, würde ich noch wie diesmal den Mut haben, nicht nachzugeben, und so käme ich von Absage zu Absage nach und nach dahin, daß ich, da ich sie nicht mehr sah, sie auch nicht mehr zu sehen wünschte. Ich weinte, aber ich fand den Mut, und es war mir süß, das Glück der Gegenwart der Möglichkeit aufzuopfern, ihr eines Tages willkommen zu sein, eines Tages, an dem mir das leider schon wieder gleichgültig sein würde. Und mein Entschluß wurde sogar weniger qualvoll durch die allerdings wenig wahrscheinliche Hypothese, sie liebe mich in diesem Augenblick, wie sie es bei meinem letzten Besuch behauptet hatte, und, was ich für Überdruß an einem, dessen man müde ist, hielt, sei nur eifersüchtige Überreizung gewesen, eine künstliche Gleichgültigkeit, die der meinen entsprach. In einigen Jahren, schien mir, nachdem wir einander vergessen haben, werde ich ihr rückblickend sagen, der Brief, den ich in diesem Augenblick zu schreiben begann, sei durchaus nicht aufrichtig gewesen, und sie werde mir antworten: »Wie? Sie, Sie liebten mich? Wenn Sie wüßten, wie ich gewartet habe auf diesen Brief, wie ich auf ein Wiedersehen hoffte, wie ich über diesen Brief weinte!« Ich dachte, während ich ihn, kaum daß ich von ihrer Mutter nach Hause gekommen war, schrieb, ich sei vielleicht im Begriff, genau dies Mißverständnis herzustellen, und dieser Gedanke gab mir gerade durch seine Traurigkeit und durch die Lust, mir vorzustellen, ich werde von Gilberte geliebt, Kraft, den Brief weiterzuschreiben.
Wenn ich nach beendetem »Tee« Frau Swann verließ und an das dachte, was ich ihrer Tochter schreiben wollte, so hatte Frau Cottard im Fortgehen Gedanken ganz anderer Art. Im Verlauf ihrer »kleinen Inspektion« hatte sie nicht verabsäumt, Frau Swann zu den neuen Möbeln, den jüngsten »Erwerbungen«, die sie im Salon bemerkte, zu beglückwünschen. Einiges, wenn auch nur noch sehr Weniges, konnte sie übrigens wiederfinden, was Frau Swann schon in dem Hause in der rue Lapérouse besessen hatte, namentlich die Tiere aus kostbarem Material, ihre Fetische.
Aber seit Frau Swann von einem verehrten Freunde das Wort »Talmi« gelernt hatte – das ihr neue Horizonte eröffnete, weil es genau die Dinge bezeichnete, die sie vor einigen Jahren »chik« gefunden hatte –, seitdem waren eins nach dem andern diese Dinge in das Dunkel gewandert, wo das vergoldete Gitter war, das früher den Chrysanthemen als Gestell gedient hatte, manche Bonbonniere von Giroux und das Briefpapier mit der Krone (gar nicht zu reden von den verstreuten Pappgoldstücken auf dem Kamin, die ihr lange, bevor sie Swann kannte, ein Mann von Geschmack zu opfern geraten hatte). In dem künstlerischen Durcheinander der Atelier-Unordnung in den noch dunkel gestrichenen Zimmern, die denkbar verschieden waren von Frau Swanns späteren weißen Salons, wich der Orient immer mehr dem vordringenden achtzehnten Jahrhundert; und die Kissen, die Frau Swann hinter mir häufte und stopfte, damit ich »confortable« sei, waren mit Louis-XV-Buketts bestickt, nicht wie ehemals mit chinesischen Drachen. In dem Zimmer, wo man sie am häufigsten fand und von dem sie sagte: »Ja, ich habe es gern, hier bin ich viel; ich könnte nicht leben unter feindlichen und banalen Dingen; hier arbeite ich (wobei sie, nebenbei bemerkt, nicht genauer angab, ob an einem Bild oder vielleicht, da damals bei den Frauen, die etwas tun und nicht nutzlos dasein wollen, der Geschmack am Schreiben aufkam, an einem Buch); in diesem Zimmer war sie umgeben von Meißner Porzellan, für das sie immer, mehr noch als einst für ihre Götzentiere und Gläser, zitterte vor der Ungeschicklichkeit der ahnungslosen Dienstboten; die mußten die Ängste, in denen ihre Herrin geschwebt hatte, durch heftige Zornesausbrüche büßen, welchen Swann, sonst ein so höflicher und freundlicher Gebieter, beiwohnte, ohne Anstoß an ihnen zu nehmen. Die deutliche Erkenntnis gewisser Minderwertigkeiten des geliebten Wesens beeinträchtigt die Liebe nicht, sie findet sie vielmehr reizend. Jetzt empfing Odette ihre Intimen seltener in japanischen Schlafröcken, lieber in der hellen, schaumigen Seide von Peignoirs im Geschmacke Watteaus; sie machte Bewegungen, als streichle der blumige Schaum ihre Brüste, sie tauchte hinein, lagerte und tummelte sich darin mit einem Ausdruck von erfrischendem Wohlbehagen der Haut und mit so tiefem Atemholen, als betrachte sie ihr Gewand nicht als Schmuck und Rahmen, sondern wie »tub« und »footing« als notwendig zur Befriedigung der Ansprüche ihrer Erscheinung und der hygienischen Raffinements. Sie könne, pflegte sie zu sagen, eher das tägliche Brot als Kunst und Sauberkeit entbehren, es würde sie mehr betrüben, die Gioconda verbrennen zu sehen als einen ganzen Haufen von Leuten ihrer Bekanntschaft. Solche Theorien muteten ihre Freundinnen paradox an, ließen aber in ihren Augen Frau Swann als eine höherstehende Frau erscheinen und verschafften dieser zweimal in der Woche den Besuch des belgischen Ministers; und in der kleinen Welt, deren Sonne sie war, würde sich jeder gewundert haben zu hören, daß sie anderswo, zum Beispiel bei den Verdurin, für dumm galt. Wegen dieser geistigen Lebhaftigkeit zog Frau Swann die Gesellschaft der Männer der weiblichen vor. Wenn sie aber die Frauen kritisierte, geschah es stets vom Standpunkt der Kokotte; sie wies auf Fehler hin, die ihnen bei den Männern schaden konnten, plumpe Gelenke, häßlicher Teint, orthographische Fehler, Haar auf den Beinen, pestilenzialischer Geruch, falsche Augenbrauen. Allein die oder jene, welche ehemals nachsichtig und freundlich zu ihr gewesen war, behandelte sie liebevoll, besonders wenn sie unglücklich war, verteidigte sie geschickt und sagte: »Man ist ungerecht gegen sie, sie ist sehr nett, das kann ich Ihnen versichern.« Nicht nur die Saloneinrichtung Odettes, auch Odette selbst hätten Frau Cottard und alle, die noch bei Frau von Crécy verkehrt hatten, nicht wiedererkannt, wenn sie sie nicht seit langem beständig gesehen hätten. Sie schien seit damals immer jünger geworden zu sein. Das hing gewiß zum Teil damit zusammen, daß sie zugenommen hatte, gesünder war, ruhiger, frischer und ausgeruhter aussah; andererseits gaben die neuen glatten Frisuren ihrem Gesicht mehr Linie, rosa Puder belebte es, Augen und Profil, die früher zu sehr hervortraten, waren jetzt mehr in das Ganze einbezogen. Ein anderer Grund dieser Veränderung war, daß Odette, in der Mitte des Lebens angelangt, endlich sich eine persönliche Physiognomie entdeckt oder erfunden hatte, einen unveränderlichen »Charakter«, ein Schönheitsgenre und ihren unregelmäßigen Zügen – die lange Zeit den zufälligen und widerstandslosen Launen des Fleisches ausgeliefert, bei der kleinsten Ermüdung für den Augenblick oder für Jahre eine Art zeitweisen Alters angenommen hatten,