so ist das Eis bald gebrochen. Denn im Grunde ist sie sehr entgegenkommend. Aber ich begreife Ihre Empfindung, es ist nie angenehm, zum erstenmal auf fremdem Boden sich zu bewegen.« »Sie könnten doch auch mit uns essen«, sagte Frau Bontemps zu Frau Swann. »Nach Tisch ginge man zusammen ins Land Verdurin, ein bißchen verdurieren; und sollte das auch zur Folge haben, daß die Patronne mir böse Augen macht und mich nicht mehr einlädt, sind wir erst einmal bei ihr, dann bleiben wir drei zusammen und plaudern miteinander, das würde mir den meisten Spaß machen.« Aber diese Behauptung schien nicht ganz wahrheitsgetreu zu sein, denn Frau Bontemps fragte: »Wer, glauben Sie, wird Mittwoch in acht Tagen da sein? Wie wird es zugehen? Es werden doch wenigstens nicht zu viel Leute kommen?« »Ich gehe sicher nicht hin«, sagte Odette. »Wir wollen uns nur am letzten Jour auf einen Augenblick sehen lassen. Wenn es Ihnen gleich ist, bis dahin zu warten ...« Aber Frau Bontemps schien die vorgeschlagene Vertagung nicht zu reizen.
Obwohl die geistigen Werte eines Salons und seine Eleganz im allgemeinen eher in umgekehrtem als in direktem Verhältnis stehen, ist doch anzunehmen, – da Swann Frau Bontemps angenehm fand – daß jeder hingenommene Verlust die Menschen weniger heikel denen gegenüber macht, mit deren Gesellschaft sie sich aus Resignation zufriedengeben wollen, vor allem weniger heikel ihrem Geist gegenüber. Und wenn das wahr ist, müssen die Menschen, gerade wie die Völker, ihre Kultur und sogar ihre Sprache hinschwinden sehen mit ihrer Unabhängigkeit. Eine Wirkung dieser Duldsamkeit ist die Verschärfung der Tendenz, von einem gewissen Alter ab Worte, die unserer Geistesart, unsern Neigungen huldigen, angenehm zu finden und uns gern gefallen zu lassen; das ist das Alter, in dem ein großer Künstler der Gesellschaft selbständiger Geister die seiner Schüler vorzieht, die nichts mit ihm gemein haben als den Buchstaben seiner Lehre; ihn beweihräuchern und ihm lauschen, das Alter, in dem ein bedeutender Mann oder eine bedeutende Frau, die ihr Leben einer Liebe gewidmet haben, in einer Gesellschaft am intelligentesten eine vielleicht unbedeutende Person finden, die durch eine Wendung zeigt, daß sie mit Verständnis und Billigung einem galanten Dasein entgegenkommt und so den wollüstigen Tendenzen des Liebhabers oder der Liebenden schmeichelt; in diesem Lebensalter gefiel es Swann in seiner Eigenschaft als Gatte Odettes, von Frau Bontemps zu hören, es sei lächerlich, nur Herzoginnen bei sich zu sehen (woraus er jetzt schloß, sie sei eine gute Frau, geistreich und gar nicht snobistisch; früher bei den Verdurin hatte er ganz, anderes daraus geschlossen), es gefiel ihm, ihr Geschichten zu erzählen, über die sie sich ›totlachen‹ wollte, weil sie sie noch nicht kannte und überdies schnell ›kapierte‹, und weil sie gern schmeichelte und sich gern amüsieren ließ.
»Also der Doktor ist nicht so in Blumen vernarrt wie Sie?« fragte Frau Swann Frau Cottard. »Oh, Sie wissen ja, mein Mann ist ein Weiser; er ist maßvoll in allem. Allerdings eine Leidenschaft hat er.« »Welche denn?« fragte Frau Bontemps und ihr Auge strahlte vor Bosheit, Freude und Neugier. Schlicht antwortete Frau Cottard: »Das Lesen.« »Oh, das ist eine sehr ungefährliche Leidenschaft bei einem Ehemann«, rief Frau Bontemps und unterdrückte ein satanisches Lachen. »Ach wissen Sie, wenn er so in ein Buch vertieft ist...« »Aber, liebe Frau Cottard, das kann Sie doch nicht weiter beunruhigen...« »O doch!... seiner Augen wegen. Jetzt will ich aber zu ihm, Odette, bei erster Gelegenheit klopf ich wieder an Ihre Tür. Bei Augen fällt mir ein: hat man Ihnen schon erzählt: das Haus, das Frau Verdurin gekauft hat, wird elektrisch beleuchtet werden. Das hab ich nicht von meiner kleinen Privatpolizei, sondern aus anderer Quelle: der Elektrotechniker hat es mir erzählt, Mildé. Sie sehen, ich zitiere meine Quellen! Sogar die Zimmer werden ihre elektrischen Lampen haben mit Lampenschirmen, die das Licht dämpfen. Gewiß ein charmanter Luxus. Unsere Zeitgenossinnen wollen nun einmal absolut das Neue, und gäbe es auch gar keins mehr. Die Schwägerin einer meiner Freundinnen hat sich Telephon im Hause anlegen lassen! Sie kann eine Bestellung bei einem Lieferanten machen, ohne ihre Wohnung zu verlassen! Ich gestehe, daß ich geradezu gemeine Intrigen angezettelt habe, um einmal hinkommen zu dürfen und in den Apparat zu sprechen. Das reizt mich sehr, aber eher bei einer Freundin als zu Hause. Wenn der erste Spaß vorbei ist, muß einem der Lärm gräßlich auf die Nerven gehen. Nun muß ich aber fort, Odette, halten Sie Frau Bontemps nicht länger zurück, sie hat sich meiner angenommen, so, ich muß mich absolut losreißen, Sie lassen mich schöne Geschichten anstellen, ich werde später heimkommen als mein Mann!«
Und auch ich mußte heimkehren, ehe ich jene winterlichen Freuden gekostet hatte, als deren glänzende Hülle mir die Chrysanthemen erschienen waren. Diese Freuden waren nicht gekommen, und doch sah Frau Swann nicht aus, als warte sie noch auf etwas. Sie ließ die Bedienten den Tee forttragen, wie um zu verkünden: ›Es wird geschlossen!‹ Zuletzt sagte sie noch zu mir: »Nun, Sie wollen wirklich gehen? Also good bye!« Ich hatte das Gefühl, auch wenn ich bliebe, würden die unbekannten Freuden mir nicht begegnen, und es war nicht nur Traurigkeit, was mich ihrer beraubte. Sollten sie nicht auf der gebahnten Straße der Stunden zu finden sein, die stets so schnell zum Augenblick des Weggehens führen, sondern eher auf einem mir unbekannten Seitenweg, in den ich hätte abbiegen müssen? Wenigstens war der Zweck meines Besuches erreicht: Gilberte wird erfahren, daß ich in ihrer Abwesenheit zu ihren Eltern gekommen bin und dort, wie Frau Cottard unablässig wiederholte, ohne weiteres auf den ersten Blick Frau Verdurin erobert habe; und die, fügte die Doktorsfrau hinzu, habe sie noch nie so liebenswürdig bemüht gesehen. »Sie beide müssen miteinander sympathisierende Atome haben«, hatte sie gesagt. Gilberte würde erfahren, ich habe von ihr gesprochen, und zwar, wie ich es mußte, mit Zärtlichkeit, ich sei aber nicht unfähig zu leben, ohne daß wir uns sähen, und diese Unfähigkeit hielt ich doch für den Hauptgrund des Verdrusses, den ihr in der letzten Zeit meine Gegenwart verursachte. Ich hatte zu Frau Swann gesagt, ich könne nicht mehr mit Gilberte zusammen sein. Das hatte ich gesagt, als ob ich entschlossen sei, sie nie mehr wiederzusehen. Und der Brief, den ich Gilberte schreiben wollte, sollte im gleichen Sinne abgefaßt sein. Allein mir selber schlug ich, um mir Mut zu machen, nur noch eine letzte kurze Anspannung von wenigen Tagen vor. Ich sagte mir: ›Dies Rendezvous weise ich noch zurück, das nächste nehme ich an.‹ Und um mir die Trennung weniger schwer zu machen, stellte ich sie mir nicht als endgültig vor; doch fühlte ich, daß sie es sein werde.
Der erste Januar war mir in diesem Jahr besonders schmerzlich. Das ist wohl immer so mit allen Daten und Jahrestagen, wenn man unglücklich ist. Wenn es sich aber etwa um den Verlust eines teuren Wesens handelt, besteht der Schmerz nur in dem lebhafteren Vergleich mit der Vergangenheit. In meinem Falle kam die unausgesprochene Hoffnung hinzu, Gilberte möchte, nachdem sie mir die Initiative des ersten Schrittes überlassen und festgestellt hatte, daß ich sie nicht ergriff, nur den Vorwand des Neujahrstages abgewartet haben, um mir zu schreiben: ›Was wird denn nun? Ich bin vernarrt in Sie. Kommen Sie, daß wir offen miteinander reden, ich kann nicht leben, ohne Sie zu sehen.‹ Von den letzten Dezembertagen ab schien mir dieser Brief wahrscheinlich. Er war es vielleicht nicht, aber um etwas Derartiges zu glauben, genügt unser Bedürfnis, unser Drang. Der Soldat ist überzeugt, daß ihm eine gewisse beliebig ins Unendliche zu verlängernde Frist gewährt sei, bevor er getötet, der Dieb, bevor er gefaßt wird, die Menschen im allgemeinen, bevor sie sterben müssen. Das ist der Talisman, der die Individuen – und bisweilen die Völker – nicht gegen die Gefahr selbst, aber gegen die Furcht vor der Gefahr, genauer noch, gegen den Glauben an die Gefahr schützt und in gewissen Fällen dazu verhilft, sich die Gefahr zuzumuten, ohne mutig zu sein. Ein solches, ebensowenig begründetes Vertrauen hält den Liebenden aufrecht, der auf eine Versöhnung, auf einen Brief zählt. Hätte ich aufgehört, diesen Brief zu ersehnen, so hätte ich ihn auch nicht erwartet. Obwohl man weiß, daß man der immer noch Geliebten gleichgültig ist, man schreibt ihr doch eine Reihe Gedanken zu – und wären es gleichgültige –, eine Absicht, sie kundzutun, eine Komplikation ihres Innenlebens, in der man dauernd der Gegenstand vielleicht einer Antipathie, aber zugleich der Aufmerksamkeit ist. Um mir aber ein Bild von dem zu machen, was in Gilberte vorging, hätte mein Gefühl schon an diesem ersten Januar vorwegnehmen müssen, was ich an diesem Datum in einem der folgenden Jahre gefühlt hätte, das heißt zu einer Zeit, in der Gilbertes Anteilnahme so gut wie ihr Schweigen, ihre Zuneigung, wie ihre Kühle mir fast nicht aufgefallen wären; dann hätte ich aber nicht daran gedacht oder auch nur daran denken können, mich mit der Lösung von Problemen zu befassen, die nicht mehr für mich in Frage kamen. Wenn man liebt, ist die Liebe zu stark, um ganz in uns enthalten zu sein; sie strahlt aus auf die geliebte Person, trifft an ihr eine Oberfläche, die sie aufhält und