Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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physischen Schmerz, dem man erlaubt hat, sich zu verschlimmern, so wird es nicht das heldische Resultat geben, zu dem man mit zwanzig Jahren gelangt wäre; die Kummerschale ist zu schwer geworden, und ohne hinreichendes Gegengewicht sinkt sie mit uns, wenn wir fünfzig sind. Um so mehr als die Situationen, die sich wiederholen, doch anders werden und man leicht in der Mitte oder am Ende des Lebens sich selbst gegenüber die verhängnisvolle Nachgiebigkeit hat, Liebe mit ein wenig Gewohnheit zu verquicken, die die Jugend, an andere Pflichten gebunden und von sich aus weniger frei, nicht kennt.

       Ich hatte Gilberte einen Brief geschrieben, in dem ich meinen Zorn austoben ließ, aber nicht ohne immerhin mit einigen wie zufällig angebrachten Worten die Boje auszuwerfen, an die meine Freundin eine Aussöhnung festmachen konnte; einen Augenblick später hatte der Wind sich gewendet, ich schrieb ihr, verlockt von der Süße gewisser verzweifelter Wendungen, zärtliche Sätze mit »nimmermehr«, so rührend für die, welche sie schreiben, so langweilig für die, die sie liest, ob sie sie nun verlogen findet und »nimmermehr« übersetzt »heut abend noch, wenn Sie mich haben wollen« oder sie für wahr und für die Anzeige einer dieser definitiven Trennungen hält, die uns so vollkommen gleichgültig sind, wenn es sich um Wesen handelt, für die wir nichts empfinden. Solange wir lieben, sind wir aber unfähig, als würdige Vorläufer des Wesens zu handeln, das wir hernach sein werden und das nicht mehr lieben wird; wie sollten wir uns da den Geisteszustand einer Frau vorstellen können, der wir, selbst wenn wir wissen, daß wir ihr gleichgültig sind, in unsern Träumereien beständig Worte der Liebe zu uns in den Mund legen, um uns in einen schönen Wahn zu wiegen oder in schwerem Kummer zu trösten. Vor den Gedanken und Handlungen einer geliebten Frau stehen wir ebenso ratlos, wie es die ersten Physiker vor den Naturerscheinungen gewesen sein mögen (bevor die Wissenschaft begründet wurde und etwas Licht ins Unbekannte brachte.) Oder schlimmer noch: wie ein Wesen, für dessen Geist das Prinzip der Kausalität kaum existierte, ein Wesen, das außerstande wäre, eine Verbindung herzustellen zwischen zwei Phänomenen, und vor dem das Schauspiel der Welt ungewiß bliebe wie ein Traum. Gewiß bemühte ich mich, aus dieser Zusammenhanglosigkeit herauszukommen und Gründe zu finden. Ich versuchte sogar »objektiv« zu sein und mir zu diesem Zweck genau Rechenschaft zu geben über das Mißverhältnis zwischen der Wichtigkeit, die Gilberte für mich hatte, und der, die ich für sie, ja auch der, die sie für die anderen Wesen außer mir hatte, ein Mißverhältnis, das, von mir vernachlässigt, mich eine einfache Liebenswürdigkeit meiner Freundin für ein leidenschaftliches Geständnis, einen grotesken und entwürdigenden Schritt meinerseits für eine einfache, anmutige Bewegung auf zwei schöne Augen zu nehmen lassen konnte. Ich fürchtete aber auch in das andere Extrem zu verfallen und in einer Verspätung Gilbertes bei einem Stelldichein eine Regung des Unmuts, eine unheilbare Feindseligkeit zu erblicken. Ich versuchte zwischen diesen beiden in gleichem Maße entstellenden Perspektiven die zu finden, die mir die richtige Anschauung der Dinge gäbe; die Berechnungen, die ich zu diesem Zwecke anstellen mußte, zogen mich ein wenig von meinem Schmerz ab; und sei es aus Gehorsam gegen das Orakel der Zahlen, sei es, weil ich sie hatte sagen lassen, was ich wünschte – ich entschloß mich, am nächsten Tag zu den Swann zu gehen, glücklich wie die es immerhin sind, die sich lange mit dem Gedanken an eine Reise geplagt haben, die sie eigentlich nicht machen wollten, und dann nur gerade bis zum Bahnhof gehen und gleich wieder umkehren, ihre Koffer zu Hause auszupacken. Während man zaudert, entwickelt die bloße Vorstellung eines möglichen Entschlusses (so lange wenigstens, als man sie nicht entseelt hat durch den Vorsatz, diesen Entschluß nie zu fassen) wie lebendiger Samen alle Grundzüge und Einzelheiten, die aus dem vollzogenen Akt entstehen würden; in diesem Sinne sagte ich mir, daß es recht absurd von mir war, mich mit dem Plan, Gilberte nicht mehr zu sehen, so zu quälen, als müßte ich diesen Plan wirklich ausführen; und da doch alles nur darauf hinausliefe, daß ich schließlich zu ihr zurückkehren wollte, hätte ich mir solchen Aufwand an Willensregungen und schmerzlichen Annahmen ersparen können. Aber diese Wiederaufnahme der Freundschaftsbeziehungen dauerte nur so lange, bis ich zu den Swann kam, und zwar nicht deshalb, weil der Butler, der mich sehr gern hatte, mir sagte, Gilberte sei ausgegangen (ich erfuhr tatsächlich noch am selben Abend, daß dies stimmte, von Leuten, die sie getroffen hatten), sondern weil er es mir auf eine besondere Art sagte: »Das gnädige Fräulein ist ausgegangen, der Herr kann versichert sein, daß ich nicht lüge. Wenn der Herr sich selbst überzeugen wollen, so kann ich die Zofe kommen lassen. Der Herr können sich denken, daß ich alles, was in meinen Kräften steht, tun würde, um ihm gefällig zu sein, und ihn, wenn das Fräulein da wäre, sofort zu ihr führen würde.« Das waren Worte der einzig wichtigen Art, nämlich unabsichtliche, die uns eine mindestens summarische Radiographie der nicht zu ahnenden Wirklichkeit geben, die eine einstudierte Rede uns verborgen hätte; und in ihrer Arglosigkeit bewiesen sie mir deutlich, daß man in der Umgebung Gilbertes den Eindruck hatte, ich sei ihr lästig; aber kaum hatte der Butler diese Worte avisgesprochen, so säten sie in mir einen Haß, dem ich statt Gilberte lieber den Butler zum Gegenstande gab; er konzentrierte auf sich alle Zorngefühle, die ich gegen meine Freundin aufbrachte; seine Worte nahmen mir die Last dieser Gefühle ab, und in mir blieb nur meine Liebe übrig. Nun hatten mir aber die Worte angezeigt, daß ich eine Zeitlang nicht versuchen dürfte, Gilberte zu sehen. Sicherlich wird sie mir schreiben, um sich zu entschuldigen, sagte ich mir. Trotzdem werde ich sie nicht gleich wieder besuchen, ich will ihr beweisen, daß ich ohne sie leben kann. Habe ich erst einmal ihren Brief bekommen, so wird es mir leichter werden, eine Zeitlang den Verkehr mit Gilberte zu entbehren, denn ich werde sicher sein, sie wiederzufinden, sobald ich dann will. Not tat mir nur eins, um die freiwillige Abwesenheit mit weniger Traurigkeit zu ertragen: mein Herz mußte frei werden von der schrecklichen Ungewißheit, ob wir auch nicht für immer überworfen seien, ob sie nicht verlobt, verreist, entführt sei. Die folgenden Tage glichen jener Neujahrswoche, die ich ohne Gilberte hatte verbringen müssen. Damals aber war ich sicher gewesen, einmal, wenn die Woche vergangen, werde meine Freundin in die Champs-Élysées zurückkehren, und ich werde sie sehen wie zuvor; und nicht minder sicher, solange die Neujahrsferien dauerten, lohne es nicht die Mühe, in die Champs-Élysées zugehen. Solange also damals diese traurige, nun schon so ferne Woche dauerte, hatte ich meine Traurigkeit ruhevoll ertragen, denn sie war nicht mit Furcht und Hoffnung vermischt. Jetzt hingegen machte die Hoffnung in fast demselben Grad mein Leiden unerträglich wie die Furcht. Als ich am selben Abend keinen Brief von Gilberte bekam, schrieb ich das ihrer Nachlässigkeit, ihren Beschäftigungen zu und zweifelte nicht daran, des Morgens einen Brief von ihr vorzufinden. Und so wartete ich jeden Tag mit Herzklopfen, dem dann immer ein Zustand tiefer Niedergeschlagenheit folgte, wenn ich nur Briefe, die nicht von Gilberte waren, oder überhaupt nichts fand; letzteres war nicht schlimmer, denn die Beweise von anderer Leute Freundschaft machten die ihrer Gleichgültigkeit nur um so quälender für mich. Ich vertröstete mich auf die Nachmittagspost. Selbst in den Stunden, in denen keine Briefe ausgetragen wurden, wagte ich nicht auszugehen, denn vielleicht würde sie ihren überbringen lassen. Schließlich kam der Zeitpunkt, in dem weder ein Postbote noch ein Lakai der Swann mehr kommen konnte, und ich mußte die Hoffnung auf Gewißheit bis zum nächsten Morgen verschieben; und da ich meinte, mein Leiden würde nicht dauern können, war ich sozusagen verpflichtet, es beständig zu erneuern. Der Kummer war vielleicht der gleiche, statt aber wie früher eine anfängliche Erregung gleichmäßig zu verlängern, setzte er mehrere Male am Tage mit einer Erregung ein, die sich so häufig erneuerte, daß sie sich schließlich – die doch an sich rein physisch-momentaner Zustand war – stabilisierte; und da die Fieber der Erwartung kaum Zeit hatten, sich zu legen, bevor schon wieder neuer Anlaß zur Erwartung da war, gab es bald keine einzige Minute mehr, in der ich nicht in dieser Unruhe lebte, die man doch eigentlich kaum eine Stunde lang aushalten kann. So war mein Leiden unendlich qualvoller als zur Zeit jenes vergangenen Neujahrstages, denn diesmal fühlte ich statt der reinen einfachen Hinnahme des Leidens die Hoffnung, jeden Augenblick es schwinden zu sehen. Schließlich kam ich aber doch zur Hinnahme, ich begriff, daß sie endgültig sein müsse, und verzichtete für immer auf Gilberte, im eigensten Interesse meiner Liebe und, weil ich vor allem wünschte, daß Gilberte keine verächtliche Erinnerung an mich bewahre. Und damit sie nicht von meiner Seite eine Art Liebesgram vermute, ging ich von nun an noch weiter: wenn sie mir in der Folgezeit ein Stelldichein gab, nahm ich es oft zunächst an und schrieb ihr erst im letzten Moment, daß ich nicht kommen könne, wobei ich beteuerte, daß ich untröstlich sei, wie ich es mit Leuten getan hätte, die ich gar nicht sehen wollte. Diese Ausdrücke des Bedauerns, die man gewöhnlich für