Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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zurück, denn die Möbel schienen mir zu leben und mich anzuflehen, wie die scheinbar unbelebten Gegenstände im persischen Märchen, in denen Seelen eingeschlossen sind, die ein Martyrium zu erleiden haben und nach Befreiung jammern. Da das Gedächtnis uns Erinnerungen gewöhnlich nicht in chronologischer Folge darbietet, sondern wie in einem Spiegel, in dem die Anordnung der Einzelheiten umgekehrt ist, erinnerte ich mich erst viel später, daß ich auf demselben Kanapee vor langen Jahren zum ersten Male die Freuden der Liebe mit einer meiner kleinen Kusinen kennen gelernt hatte: wir hatten damals nicht gewußt, wohin miteinander, und sie hatte mir den ziemlich gefährlichen Rat gegeben, eine Stunde zu nutzen, in der Tante Léonie aufgestanden war.

      Einen anderen Teil der Möbel und vor allem herrliches altes Silber meiner Tante Léonie verkaufte ich gegen den Rat meiner Eltern, um mehr Geld zur Verfügung zu haben und Frau Swann öfter Blumen zu schicken, die dann beim Empfang gewaltiger Orchideenkörbe zu mir sagte: »Wenn ich Ihr Herr Vater wäre, ich ließe Sie unter Kuratel stellen«. Wie konnte ich vermuten, daß es mir eines Tages gerade um dies Silber leid sein und ich gewisse Freuden höher stellen würde als diese eine, die dann vielleicht ganz nichtig werden sollte: die Freude, den Eltern Gilbertes Höflichkeiten zu erweisen. So hatte ich ja auch im Hinblick auf Gilberte und, um sie nicht verlassen zu müssen, mich entschlossen, nicht Diplomat zu werden. Unsere endgültigen Entschlüsse fassen wir immer auf Grund eines Geisteszustandes, dem nicht bestimmt ist zu dauern. Damals konnte ich mir kaum vorstellen, die seltsame Substanz, die in Gilberte ihren Sitz hatte, auf ihre Eltern und ihr Haus ausstrahlte und mich gegen alles andere gleichgültig machte, diese Substanz könne je frei werden und in ein anderes Wesen hinüberwandern. Die unbedingt gleiche Substanz, die dann auf mich ganz andere Wirkungen ausüben sollte. Denn eine Krankheit kann Evolutionen durchmachen; ein köstliches Gift wird nicht mehr so gut ertragen, wenn mit den Jahren die Widerstandsfähigkeit des Herzens nachgelassen hat.

      Meine Eltern hätten es gern gesehen, daß die Intelligenz, die Bergotte mir zuerkannte, durch eine bemerkenswerte Arbeit sich kundtue. Bevor ich Gilbertes Eltern kennen lernte, glaubte ich, am Arbeiten hindere mich Aufregung, in die mich die Unmöglichkeit, Gilberte beliebig zu sehen, versetzte. Als mir dann aber das Haus der Swann offen stand, sprang ich, kaum daß ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt hatte, immer wieder auf und lief zu ihnen. Und auch wenn ich sie verlassen hatte und nach Hause zurückkehrte, war meine Isolierung nur scheinbar, mein Denken konnte den Fluß der Worte, durch den ich mich stundenlang mechanisch hatte mitreißen lassen, nicht mehr stromaufwärts steigen. Und so fuhr ich, auch wenn ich allein war, fort, Wendungen zu ersinnen, die den Swann hätten gefallen können, und um dies Spiel interessanter zu gestalten, übernahm ich auch die Rolle der abwesenden Partner, stellte mir selber ausgedachte Fragen, die ich so wählte, daß meine Geistesblitze recht glückliche Entgegnungen auf ihre Worte bildeten. Obwohl ganz lautlos, war diese Übung ein Gespräch und keine Meditation, meine Einsamkeit war ein inneres Salondasein, in dem nicht meine eigene Person, sondern eingebildete Unterredner meine Worte regierten; statt der Gedanken, die ich für wahr hielt, formte ich solche, die mir mühelos und ohne Rückbeziehung des von außen Kommenden auf Inneres zuströmten, und erfuhr das rein passive Glück, das schwer Verdauenden die ruhige Lage gibt.

      Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu machen, ich hätte vielleicht einen Anlauf genommen, um gleich zu beginnen. Da aber meine Entscheidung ausdrücklich war und innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in dem noch leeren Rahmen des folgenden Tages, wo alles sich so gut verteilte, weil ich noch nicht darin war, meine guten Vorsätze sich leicht verwirklichen mußten, war es besser, nicht einen Abend, an dem ich schlecht aufgelegt war, für den Anfang zu wählen, dem sich dann leider die folgenden Tage nicht günstiger zeigen sollten. Aber ich war vernünftig. Von einem, der jahrelang gewartet hatte, wäre es kindisch gewesen, eine Verzögerung von drei Tagen nicht auszuhalten. In dem sicheren Gefühl, bis übermorgen einige Seiten geschrieben zu haben, sagte ich meinen Eltern kein Wort mehr von meinem Entschluß; lieber wollte ich mich einige Stunden gedulden und dann meiner Großmutter, die sich trösten und überzeugen ließ, frisch begonnene Arbeit vorlegen. Leider war der nächste Tag dann nicht ganz dieser objektive, weiträumige Tag, den ich im Fieber erwartet hatte. Als er vorüber war, hatten meine Trägheit und mein mühsames Ankämpfen gegen gewisse innere Hindernisse einfach vierundzwanzig Stunden länger gedauert. Und als nach Verlauf einiger Tage sich meine Pläne nicht verwirklicht hatten, besaß ich nicht mehr die gleiche Hoffnung, daß sie es unmittelbar tun würden, und demgemäß nicht soviel Mut mehr, dieser Verwirklichung alles unterzuordnen: wieder fing ich an, abends lange aufzubleiben, da mich nicht mehr die Aussicht auf einen morgendlichen Beginn des Werkes verpflichtete, früh zu Bett zu gehen. Ehe ich neuen Aufschwung fand, brauchte ich einige Tage der Entspannung, und als ein einziges Mal meine Großmutter in mild enttäuschtem Tone den Vorwurf zu formulieren wagte: »Nun, man spricht von dieser Arbeit ja gar nicht mehr?«, grollte ich ihr und war überzeugt, sie wolle nicht einsehen, daß mein Entschluß unwiderruflich gefaßt sei, verzögere dadurch seine Ausführung noch mehr, vielleicht auf lange, ihre »Rechtsverweigerung« entmutige mich; und in diesem Zustand der Entmutigung wollte ich das Werk nicht beginnen. Sie fühlte, ihr Skeptizismus sei blindlings gegen einen Willen gestoßen. Sie entschuldigte sich, küßte mich und sagte: »Verzeih, ich werde nichts mehr sagen.« Und damit ich den Mut nicht verliere, versicherte sie mir, mit dem Tage, an dem ich mich wohlfühlen werde, komme obendrein die Arbeit von selbst.

      Auch sagte ich mir, wenn ich mein Leben bei den Swann zubringe, mache ich's nicht wie Bergotte? Meinen Eltern schien ich bei all meiner Trägheit das für ein Talent günstigste Leben zu führen, da ich es in demselben Salon verbrachte wie ein großer Schriftsteller. Und doch kann niemand solch ein Talent von andern bekommen und davon entbunden werden, es selbst von innen heraus zu schaffen; das wäre ebenso unmöglich, als wolle man sich (unter Verstößen gegen alle Regeln der Hygiene und unter den schlimmsten Exzessen) dadurch gesund erhalten, daß man oft mit einem Arzt zusammen speist. Am ausgiebigsten aber ließ sich durch die Illusion, die mich und meine Eltern täuschte, Frau Swann blenden. Sagte ich zu ihr, ich könne nicht kommen, ich müsse zu Hause bleiben und arbeiten, so machte sie ein Gesicht, als tue ich mich gar zu wichtig und rede etwas töricht und prätentiös.

      »Aber Bergotte kommt doch! Finden Sie, was er schreibt, nicht gut? Nächstens wird es sogar noch besser werden; denn im Zeitungsartikel ist er schärfer und konzentrierter als im Buche, wo er etwas weitläufig wird. Ich habe es durchgesetzt, daß er von jetzt ab den »leader article« im Figaro macht. Das wird dann ganz »the right man in the right place« sein.«

      Und sie fügte hinzu:

      »Kommen Sie, er wird Ihnen besser als irgend einer sagen, was Sie tun müssen.«

      Und wie man einen Freiwilligen mit seinem Obersten zusammen einlädt und als läge es im Interesse meiner Karriere, als würden die Meisterwerke durch »Beziehungen« gemacht, hieß sie mich nicht versäumen, morgen bei ihr mit Bergotte zu speisen.

      So wurde weder von Seiten der Swann noch von Seiten meiner Eltern, das heißt von denen, die in verschiedenen Momenten hinderlich zu werden drohten, etwas gegen das süße Dasein getan, in welchem ich Gilberte nach Belieben mit immer neuem Entzücken, wenn auch niemals mit Ruhe sehen konnte. Die gibt es in der Liebe nicht, denn, was man erreicht hat, ist nur ein neuer Ausgangspunkt für weiteres Begehren. Solange ich noch nicht zu ihr gehen konnte und die Augen auf ein unzugängliches Glück geheftet hielt, vermochte ich auch nicht, mir vorzustellen, welch neue Anlässe zur Unruhe bei ihr mich erwarteten. Nachdem einmal der Widerstand ihrer Eltern gebrochen und das Problem endlich gelöst war, stellte es sich von neuem, jedesmal in anderen Formen. In diesem Sinne begann tatsächlich mit jedem Tage eine neue Freundschaft. Jeden Abend wurde ich mir auf dem Heimwege darüber klar, daß ich Gilberte wesentlichste Dinge zu sagen habe, von denen unsere Freundschaft abhinge, und diese Dinge waren nie die gleichen. Aber ich war schließlich doch glücklich, und keine Drohung erhob sich mehr gegen mein Glück. Sie sollte leider von einer Seite kommen, auf der ich nie eine Gefahr gewahrt hatte, von Gilbertes und meiner eigenen Seite. Gerade das hätte mich beunruhigen sollen, was mich sicher machte, das, was ich für Glück hielt. Glück ist ein anormaler Zustand in der Liebe, der dem anscheinend einfachsten Ereignis, das immer eintreffen kann, eine Schwere zu geben vermag, die dies Ereignis an sich nicht hätte. Was so glücklich macht, ist die Gegenwart von etwas nicht Standfestem im Herzen, das