befaßt sich mit Ihrer Gesundheit?« Ich sagte, daß ich Cottard konsultiert habe und sicher auch in Zukunft konsultieren werde. »Aber das ist nicht das Richtige für Sie! Ich kenne ihn nicht als Arzt. Aber ich habe ihn bei Frau Swann gesehen. Das ist ein Dummkopf. Selbst angenommen, das hindere nicht, ein guter Arzt zu sein, was mir zu glauben schwerfällt, es hindert doch, ein guter Arzt für Künstler, für geistige Menschen zu sein. Leute wie Sie brauchen anpassungsfähige Ärzte, fast möchte ich sagen, ein besonderes Regime und besondere Arzneien. Cottard wird Sie langweilen, und schon die Langweile wird die Wirksamkeit seiner Behandlung hindern. Und die Behandlung kann doch für Sie nicht dieselbe sein wie für irgend einen Beliebigen. Dreiviertel der Leiden geistiger Menschen kommen von ihrer Intelligenz her. Sie brauchen zum mindesten einen Arzt, der dies Übel kennt. Wie soll denn Cottard für Sie sorgen können? Er hat für die Schwierigkeit, Saucen zu verdauen, für Magenbeschwerden Vorsorge getroffen, aber nicht für die Lektüre Shakespeares ... So stimmen denn seine Berechnungen bei Ihnen nicht mehr, da verliert er sein Gleichgewicht, unser cartesianischer Taucher. Er wird bei Ihnen eine Magenerweiterung finden, und dazu braucht er Sie nicht erst zu untersuchen, die hat er schon vorher im Auge. Sie können sie sehen, sie spiegelt sich in seinem Kneifer.« Diese Art zu sprechen ermüdete mich sehr, ich sagte mir mit der Borniertheit des gesunden Menschenverstandes: »Es gibt ebensowenig eine Magenerweiterung, die sich in dem Kneifer von Professor Cottard spiegelt wie Dummheiten, die sich in der Weißen Weste des Herrn von Norpois verbergen.« »Ich würde Ihnen eher zu Doktor du Boulbon raten,« fuhr Bergotte fort, »der ist wirklich intelligent.« »Er ist ein großer Bewunderer Ihrer Werke«, antwortete ich. Ich sah, daß Bergotte das wußte, und schloß daraus, verwandte Geister fanden sich schnell, man habe wenig wahrhaft ›unbekannte Freunde‹. Was Bergotte über Cottard sagte, machte mir Eindruck, wenn es auch das Gegenteil von dem war, was ich selbst glaubte. Mich beunruhigte es durchaus nicht, meinen Arzt langweilig zu finden; ich erwartete von ihm, daß er nach Untersuchung meiner Eingeweide, dank einer Kunst, deren Gesetze mir entgingen, über meinen Gesundheitszustand ein unanfechtbares Orakel abgeben werde. Ich legte keinen Wert darauf, daß er mit Hilfe einer Intelligenz, in der ich ihn hätte ersetzen können, die meine zu begreifen suche; die stellte ich mir nur als ein beliebiges Mittel zur Erforschung äußerer Wahrheiten vor. Es schien mir sehr zweifelhaft, ob die intelligenten Leute eine andere Hygiene als törichte brauchen, und ich war durchaus bereit, mich der Hygiene der letzteren zu unterwerfen. »Einer, der einen guten Arzt nötig hätte, ist unser Freund Swann«, sagte Bergotte. Und auf meine Frage, ob er krank sei: »Nun, er ist eben der Mann, der eine Dirne geheiratet hat; täglich muß er fünfzig Kränkungen von Frauen, die seine nicht empfangen wollen, und von Männern, die mit ihr geschlafen haben, hinunterschlucken. Man sieht ja, wie ihm solche Frauen ein schiefes Maul ziehen. Beachten Sie nur einmal, was für einen Circumflex die Augenbraue bei ihm bildet, wenn er heimkommt, um zu sehen, wer bei ihm zu Besuch ist.« Die böswillige Art Bergottes, vor einem Fremden über Freunde zu sprechen, bei denen er seit langer Zeit aus- und einging, war mir ebenso neu wie der beinah zärtliche Ton, in dem er bei den Swann immer wieder zu ihnen selbst sprach. Sicherlich wäre jemand wie meine Großtante uns gegenüber solcher Liebenswürdigkeiten unfähig gewesen, wie ich Bergotte sie an die Swann verschwenden sah. Sie gefiel sich darin, sogar Leuten, die sie gern hatte, unangenehme Dinge zu sagen. Wenn sie aber nicht zugegen waren, sprach sie kein Wort, das sie nicht hätten hören können. Nichts glich der großen Welt weniger als unsere Gesellschaft in Combray. Die der Swann war schon ein Weg zu jener Welt mit ihren unbeständigen Fluten. Es war noch nicht das hohe Meer, aber schon die Lagune. »All dies unter uns«, sagte Bergotte, als er mich vor meiner Tür verließ. Ein paar Jahre später hätte ich ihm geantwortet: »Ich behalte immer alles für mich.« Das ist die rituelle Wendung der Gesellschaft, mit der immer das Lästermaul fälschlich beruhigt wird. Ich hätte sie schon damals zu Bergotte gesagt – man erfindet ja nicht alles, was man sagt, besonders in Momenten, in denen man als soziales Wesen handelt – aber ich kannte sie noch nicht. Meine Großtante hätte in einer solchen Situation gesagt: »Wenn Sie nicht wollen, daß es herumkommt, warum sagen Sie es dann?« Das ist die Antwort der Ungeselligen, der »schlechten Charaktere«. So war ich nicht: ich verneigte mich schweigend.
Literaten, die in meinen Augen gewichtige Persönlichkeiten waren, mußten jahrelang intrigieren, um zu Bergotte Beziehungen anzuknüpfen, die dann immer noch im literarischen Dunkel blieben und nicht über sein Arbeitszimmer hinauskamen, während ich bereits unter den Freunden des großen Schriftstellers Platz fand; und dies geschah ohne weiteres in aller Ruhe, wie etwa jemand, statt mit vielen an der Kasse anzustehen, um einen schlechten Platz zu bekommen, einen heimlichen, den andern verschlossenen Gang passiert und die besten Plätze erhält. Swann öffnete mir solch einen Gang, denn wie ein König die Freunde seiner Kinder gern in die königliche Loge, auf die königliche Jacht einlädt, so empfingen Gilbertes Eltern die Freunde ihrer Tochter inmitten aller Kostbarkeiten, die sie besaßen, und der noch kostbareren Freundschaften, die davon umrahmt wurden. Damals aber dachte ich, und vielleicht nicht mit Unrecht, daß Swanns Liebenswürdigkeit sich indirekt an meine Eltern richte. Ich glaubte mich zu erinnern, daß er früher einmal in Combray angesichts meiner Bewunderung für Bergotte meinen Eltern angeboten hatte, mich mit zum Essen zu Bergotte zu nehmen, und daß meine Eltern das mit der Begründung abgeschlagen hatten, ich sei zu jung und zu nervös, um »auszugehen«. Für gewisse Leute, und zwar gerade die, welche mir am merkwürdigsten schienen, stellten meine Eltern zweifellos etwas ganz anderes dar als für mich; und wie damals, als die Dame in Rosa sich im Lob über meinen Vater erging, dessen er sich so wenig würdig gezeigt hatte, wäre mir lieb gewesen, meine Eltern sähen ein, was für ein unschätzbares Geschenk ich empfangen habe, und bezeugten dem freigebigen und höflichen Swann ihre Dankbarkeit. Er hatte mir oder ihnen dies Geschenk dargeboten, ohne seinen Wert zu beachten, ganz wie in Luinis Fresco der eine der heiligen drei Könige, der reizende mit der gekrümmten Nase und dem blonden Haar, mit dem Swann früher große Ähnlichkeit gehabt haben sollte.
Die besondere Gunst der Swann, die ich zu Hause, noch ehe ich den Mantel ausgezogen hatte, meinen Eltern in der Hoffnung verkündete, ihr Herz damit so zu bewegen, wie meines bewegt war, und sie zu einer ungewöhnlichen, entschiedenen »Aufmerksamkeit« gegen die Swann zu bestimmen – diese Gunst schien von ihnen leider nicht sehr geschätzt zu werden. »Swann hat dich Bergotte vorgestellt? Ausgezeichnete Bekanntschaft, reizende Beziehung!« rief ironisch mein Vater. »Das hat gerade noch gefehlt!« Und als ich hinzufügte, daß Bergotte Herrn von Norpois nicht ausstehen könne, fuhr der Vater fort: »Natürlich. Das beweist zur Genüge, was für ein falscher, böswilliger Charakter er ist. Mein armes Kind, du hast so schon nicht viel gesunden Menschenverstand, es tut mir herzlich leid, dich in einen Kreis geraten zu sehen, der dich vollends außer Rand und Band bringen wird.«
Schon mein einfacher Verkehr bei den Swann hatte meine Eltern durchaus nicht entzückt. Die Bekanntschaft mit Bergotte schien ihnen die verhängnisvolle, jedoch natürliche Folge eines ersten Fehlers, einer Schwäche, die mein Großvater einen »Mangel an Umsicht« genannt haben würde. Um ihre schon getrübte Laune völlig zu verderben, brauchte ich, wie ich fühlte, nur noch zu sagen, dieser verderbte Mensch, der Herrn von Norpois nicht schätzte, habe mich äußerst intelligent gefunden. Sah mein Vater jemanden, zum Beispiel einen meiner Kameraden auf schlechtem Wege – wie jetzt mich – und der hatte dann noch den Beifall eines Menschen, den mein Vater nicht achtete, so fand er in diesem Urteil eine Bekräftigung seiner ungünstigen Diagnose. Die Sache wurde dadurch für ihn nur schlimmer. In Gedanken hörte ich ihn schon rufen: »Das paßt genau eins zum andern«, ein Wort, das mich immer durch seine Unexaktheit erschreckte, sowie durch eine Fülle von Reformen, die meinem sanften Dasein von daher drohten. Nun konnte aber doch schon nichts mehr den ungünstigen Eindruck, den meine Eltern hatten, verwischen; ob ich von Bergottes Lob erzählte oder nicht, es war ohne Belang und konnte die Lage kaum noch verschlimmern. Die Eltern kamen mir so ungerecht vor, so tief im Irrtum, ich hatte keine Hoffnung, ja nicht einmal den Wunsch, sie auf einen gerechteren Standpunkt zu bringen. Und doch fühlte ich, während mir die Worte schon entfahren wollten, wie sehr die Eltern der Gedanke erschrecken würde, daß ich jemandem gefallen habe, der die intelligenten Menschen dumm fand, den die ehrenwerten Leute verabscheuten und dessen Lob, an dem mir soviel lag, in allem Schlechten mich bestärken mußte; so gab ich denn als Schluß meines Berichtes mit leiser Stimme und etwas verschämter Miene die Worte zum besten: »Er hat zu den Swann gesagt, daß er mich außerordentlich intelligent gefunden