virtuell gemacht, vertagt wird, aber jeden Augenblick werden kann, was es längst wäre, wenn man nicht das Ersehnte erreicht hätte: entsetzlich.
Mehrere Male fühlte ich, daß Gilberte meine Besuche hinauszuschieben trachtete. Allerdings brauchte ich, wenn ich sie durchaus immer wieder sehen wollte, mich nur von ihren Eltern einladen zu lassen, die mehr und mehr von meinem ausgezeichneten Einfluß auf sie überzeugt waren. Sie sorgen dafür, so dachte ich, daß meine Liebe keine Gefahr läuft; wenn ich sie für mich habe, kann ich beruhigt sein, sie üben ihre ganze Autorität auf Gilberte aus. Zum Unglück ließ sich Gilberte gewisse Zeichen von Ungeduld entfahren, wenn ihr Vater mich sozusagen wider ihren Willen aufforderte zu kommen, und ich mußte mich fragen, ob das, was ich als einen Schutz meines Glückes angesehen, nicht vielmehr die heimliche Ursache seiner Bedrohung war.
Das letztemal, daß ich Gilberte besuchte, regnete es, sie war zu einer Tanzstunde eingeladen bei Leuten, die sie zu wenig kannte, um mich mitnehmen zu können. Wegen der Feuchtigkeit hatte ich mehr Kaffein als gewöhnlich genommen. Sei es wegen des schlechten Wetters, sei es aus Voreingenommenheit gegen die Familie, bei der die Gesellschaft stattfinden sollte, – Frau Swann rief ihre Tochter, als sie gerade im Begriff war wegzugehen, äußerst heftig zurück: »Gilberte!« Dabei zeigte sie auf mich, um anzudeuten, daß ich zu ihr gekommen sei und daß sie mit mir zusammenbleiben müsse. Dieses »Gilberte« war gesprochen oder vielmehr geschrien mit den besten Absichten für mich, doch an der Art, wie Gilberte die Schultern zuckte, während sie ihre Sachen ablegte, merkte ich, daß ihre Mutter, ohne es zu wollen, eine Entwicklung beschleunigt hatte, die bis dahin vielleicht noch hätte aufgehalten werden können, eine Entwicklung, die nach und nach meine Freundin mir entfremdete. »Man ist nicht verpflichtet, alle Tage tanzen zu gehen«, sagte Odette zu ihrer Tochter, und diese Weisheit hatte sie gewiß von Swann. Dann aber wurde sie wieder ganz Odette und fing an, englisch mit ihrer Tochter zu reden. Alsbald war es, als ob eine Mauer mir einen Teil von Gilbertes Leben verborgen, ein böser Geist meine Freundin weit von mir fortgetragen hätte. In einer Sprache, die wir kennen, haben wir der Undurchsichtigkeit der Laute die Transparenz der Ideen untergeschoben. Eine Sprache, die wir nicht kennen, ist ein verschlossener Palast, in dem die Geliebte uns betrügen kann, ohne daß wir draußen stehend in unserer verzweifelten, ohnmächtigen Aufregung irgend etwas zu sehen oder zu hindern vermöchten. In diesem Gespräch auf englisch, über das ich einen Monat früher nur gelächelt hätte, tauchten einige französische Eigennamen auf, die meine Unruhe noch vermehrten und ihr eine bestimmte Richtung gaben, und so wirkte es auf mich, wie es da zwei Schritt von mir entfernt von zwei stillstehenden Personen geführt wurde, quälend wie eine Entführung und machte mich verlassen und einsam. Schließlich ließ Frau Swann uns allein. War es Groll gegen mich, die unfreiwillige Ursache, daß sie ihrem Vergnügen nicht nachgehen konnte, oder lag es daran, daß ich ihren Verdruß erriet und vorbeugend kälter war als gewöhnlich, – an diesem ganzen Nachmittage war Gilbertes Gesicht aller Freude beraubt, leer wie geplündert, schien dem Pas-de-Quatre, dessen meine Gegenwart sie beraubte, eine melancholische Klage zu weihen und zu betonen, daß kein Geschöpf, von mir angefangen, die letzten feinsten Ursachen begreifen könne, die in ihr eine innige Neigung zum Boston erweckt hätten. Sie beschränkte sich darauf, ab und zu ein paar Worte mit mir über das Wetter, die neuen Regengüsse, das Vorgehen der Uhr zu wechseln, dazwischen gab es Pausen des Verstummens und der Einsilbigkeit, und ich selber versteifte in verzweifelter Wut mich darauf, die Momente, die wir der Freundschaft und dem Glück hätten widmen können, zu zerstören. Allen unsern Wendungen teilte sich äußerste Härte mit durch das krankhafte Übermaß ihrer paradoxen Belanglosigkeit, und das tröstete mich noch, denn so konnte sich Gilberte wenigstens nicht von der Banalität meiner Betrachtungen und der Kühle meines Tonfalls irreführen lassen. Umsonst sagte ich: »Mir scheint, neulich ging die Uhr eher nach«, sie übersetzte offenbar: »Wie böse Sie sind!« Mochte ich auch noch so eigensinnig den ganzen verregneten Tag lang diese Worte ohne Aufklärung widerholen, ich wußte: meine Kälte war nicht von so endgültiger Starrheit, wie ich vorgab; und Gilberte mochte wohl merken: ließ ich, nachdem ich schon dreimal gesagt, es noch ein viertes Mal darauf ankommen, ihr zu wiederholen, daß die Tage kürzer würden, ich würde kaum die Tränen zurückhalten können. Wenn sie in solcher Laune war, wenn kein Lächeln ihre Augen erfüllte und ihr Gesicht entschleierte, dann prägte sich eine unsagbar trostlose Monotonie den traurigen Augen und mürrischen Zügen auf. Ihr Gesicht wurde dann beinah fahl und glich den öden Strandpartien, von denen das Meer sich weit zurückzieht und uns durch immer gleichen Widerschein, den unbeweglicher, beschränkter Horizont abgrenzt, ermüdet. Zuletzt, als Gilberte noch immer nicht die glückliche Änderung eintreten ließ, auf die ich seit Stunden wartete, sagte ich ihr, daß sie nicht nett sei. »Sie sind nicht nett«, antwortete sie. »Doch!« Ich fragte mich, was ich denn getan habe, und als ich nichts fand, fragte ich sie danach. »Sie finden sich natürlich nett!« sagte sie und lachte lange. Da fühlte ich, wie schmerzlich es für mich war, nicht auf die andere unerreichliche Ebene ihres Denkens zu gelangen, die ihr Lachen beschrieb. Dies Lachen schien zu bedeuten: »Nein, nein, ich lasse mir nichts vormachen von allem, was Sie da sagen, ich weiß, Sie sind in mich vernarrt, aber davon wird mir weder warm noch kalt, denn ich kümmere mich nicht um Sie.« Aber ich sagte mir, am Ende ist das Lachen keine so deutliche Sprache, daß ich mich darauf verlassen kann, es in diesem Falle richtig verstanden zu haben. Und Gilbertes Worte waren doch ganz freundlich. »Worin bin ich denn nicht nett?« fragte ich. »Sagen Sie es mir, ich werde alles tun, was Sie wollen.« »Nein, das hilft nichts, ich kann Ihnen nicht erklären ...« Einen Augenblick fürchtete ich, sie glaube, ich liebe sie nicht mehr, das war ein neuer Schmerz für mich und nicht weniger heftig, aber er verlangte eine andere Dialektik. »Wenn Sie wüßten, was für Kummer Sie mir machen, würden Sie es mir sagen.« Aber dieser Kummer, der ihr hätte wohltun müssen, wenn sie an meiner Liebe zweifelte, verdroß sie nur. Da begriff ich meinen Irrtum, beschloß, keinen Wert auf ihre Worte zu legen und ihr nicht Glauben zu schenken, wenn sie sagte: »Ich hatte Sie wirklich lieb, das werden Sie eines Tages sehen« (das ist der Tag, an dem, wie die Schuldigen versichern, ihre Unschuld offenbar werden wird; aus geheimnisvollen Gründen fällt er nie mit dem zusammen, an welchem man sie verhört), und so hatte ich den Mut, plötzlich den Entschluß zu fassen, sie nicht mehr zu besuchen, und zwar ohne es ihr anzukündigen; sie hätte es mir doch nicht geglaubt.
Kummer, den ein geliebtes Wesen uns verursacht, kann bitter sein, auch wenn er sich in eine Reihe von Sorgen, Beschäftigungen und Freuden einfügt, die dieses Wesen nicht zum Gegenstande haben und von denen unsere Aufmerksamkeit sich nur von Zeit zu Zeit ablenken läßt, um zu ihm zurückzukehren. Entsteht aber ein solcher Kummer – wie jetzt meiner – in einem Zeitpunkt, in dem das Glück, dies Wesen zu sehen, uns ganz erfüllt, dann entfesselt die jähe Niedergeschlagenheit in unserer bisher durchsonnten, aufrechten, ruhigen Seele einen furchtbaren Sturm, gegen den ausdauernd anzukämpfen wir uns kaum fähig fühlen. Der, welcher über mein Herz fuhr, war so heftig, daß ich ganz zerschmettert und wund nach Hause kam und fühlte, ich würde erst wieder atmen können, wenn ich gleich umkehrte und unter irgend einem Vorwand zu Gilberte zurückginge. Aber dann hätte sie sich gesagt: »Da ist er schon wieder! Ich kann mir offenbar alles erlauben, er wird jedesmal nur um so gefügiger wiederkommen, je unglücklicher er mich verlassen hat.« Und doch zogen mich meine Gedanken unwiderstehlich zu ihr hin, und dies Hin- und Herschwanken, dies tolle Abweichen der Magnetnadel nahm kein Ende, als ich heimgekommen war, und übertrug sich in widerspruchsvolle Entwürfe von Briefen, die ich an Gilberte schreiben wollte.
Ich sollte eine der schwierigen Konstellationen durchmachen, denen man sich im allgemeinen zu wiederholten Malen im Leben gegenüber befindet, aber nicht jedesmal, das heißt, nicht in jedem Lebensalter auf die gleiche Art standhält, ob wohl Charakter und Natur sich nicht geändert haben – unsere Natur, die doch selbst unsere Liebesgefühle schafft, faßt auch die Frauen, die wir lieben, ja sogar deren Fehler. – In solchen Zeitpunkten spaltet sich, unser Leben und verteilt sich auf beide Schalen einer Wage. In der einen liegt unser Begehren, nicht zu mißfallen, nicht zu demütig zu erscheinen vor dem Wesen, das wir lieben und doch nicht begreifen können, das wir aber lieber etwas in Ruhe lassen wollen, damit es sich nicht für unentbehrlich halte und aus diesem Gefühl heraus von uns abwende. In der andern Schale liegt ein Schmerz, der nur gelindert werden kann, wenn wir es aufgeben, der Frau zu gefallen, es aufgeben, sie glauben zu machen, daß wir sie entbehren können, und wieder zu ihr gehen. Nimmt man von der Schale,