haben und Regatten, es wird herrlich sein.« Ich hatte schon lange, bevor ich die Berma hören ging, gelernt: was immer ich lieben sollte, blieb fernes Ziel eines qualvollen Strebens, und auf dem Wege zu diesem höchsten Gut mußte ich zunächst meinen Genuß zum Opfer bringen, statt ihm nachzugehen.
Für meine Großmutter war unsere Abreise natürlich etwas anderes. Von jeher bemüht, den Geschenken, die ich erhalten sollte, einen künstlerischen Charakter zu geben, hatte sie, um mir einen Teil dieser Reise als »Ersten Zustand« darzubieten, gewollt, wir sollten halb mit der Eisenbahn und halb im Wagen die Route verfolgen, auf der Frau von Sévigné von Paris über Chaulnes und »le Pont-Audemer« nach »l'Orient« gereist war. Aber diesen Plan mußte sie aufgeben, mein Vater wollte nichts davon wissen. Er kannte ihre Art, eine Reise so zu organisieren, daß möglichst viel geistiger Genuß dabei herauskam, und wußte, wieviel versäumte Züge, verlorene Gepäckstücke, Erkältungen und Polizeistrafen dabei vorauszusehen waren. Eine Freude blieb ihr wenigstens unbenommen: wir würden, wenn wir zum Strande wollten, nicht wie ihre geliebte Sévigné sagte, »eine verdammte Karosse voll lästiger Leute« abbekommen, da wir keine Bekannten in Balbec haben würden. Legrandin hatte uns kein Empfehlungsschreiben an seine Schwester angeboten. (Das gefiel meinen Tanten Céline und Victoire weniger, sie hatten die vornehme Dame, die sie immer, um die frühere Intimität zu betonen, »Renée von Cambremer« nannten, als junges Mädchen gekannt und besaßen von ihr Geschenke, die ihnen noch zum Zimmerschmuck und als Gesprächsstoff dienen konnten, aber keiner aktuellen Beziehung entsprachen. Um die Beleidigung, die man uns angetan, zu rächen, sprachen sie, wenn sie bei der alten Frau Legrandin zu Besuch waren, nicht ein einziges Mal den Namen ihrer Tochter aus und auf dem Heimweg beglückwünschten sie einander zu dieser feinen Rache mit Wendungen wie »Auf die bewußte habe ich mit keinem Wort angespielt« oder »Ich glaube, man wird schon begriffen haben.«)
Wir würden also einfach mit dem Zuge 1 Uhr 22 von Paris abfahren. Den hatte ich schon oft – immer mit der Erregung, fast der beglückenden Illusion der Abreise – im Kursbuch nachgeschlagen, ich war schon gut mit ihm bekannt. Um unsere Glücksmöglichkeiten zu formulieren, hält unsere Phantasie sich mehr an unsere Wünsche als an das, was wir über diese Möglichkeiten Genaues wissen. Und so glaubte ich das Glück, das mir bevorstand, bis in alle Einzelheiten zu kennen und machte mich mit Gewißheit auf ein spezielles Vergnügen im Eisenbahnwagen gefaßt, wenn der Tag sich langsam abkühlen und ich in der Nähe der und der Station in die Landschaft hinaussehen werde. Mit dem Gedanken an den Zug 1 Uhr 22 tauchten immer wieder die Bilder derselben Städte, eingehüllt in das Nachmittagslicht seiner Fahrt, in mir auf, und er war für mich etwas anderes als alle anderen Züge. Es ging mir schließlich mit ihm wie mit einem Menschen, den man nie gesehen hat, in der Phantasie aber schon als vertrauten Freund sich vorstellt: ich gab ihm eine ausgesprochene, unveränderliche Physiognomie, er wurde mir zu einem blonden Künstler auf Reisen, der seine Straße mich mitnahm, bis ich zu Füßen der Kathedrale von Saint-Lo ihm Lebewohl sagen würde, ehe er sich gen Sonnenuntergang entfernte.
Meine Großmutter konnte sich nicht entschließen, ohne interessante Unterbrechung direkt nach Balbec zu reisen, und wollte sich unterwegs einen Tag bei einer Freundin aufhalten; ich aber sollte am gleichen Abend weiterfahren, um der Dame keine Umstände zu machen, und auch, um am nächsten Tage die Kirche von Balbec zu besuchen, die, wie wir erfahren hatten, ziemlich weit vom Bad Balbec ablag, weswegen ich vermutlich nachher, wenn meine Badekur begonnen, nicht so bald einen Ausflug dahin machen könnte. Es hatte auch etwas Beruhigendes für mich, mein wunderbares Reiseziel eingeordnet zu wissen vor die erste qualvolle Nacht, in der ich eine neue Wohnung betreten und dort zu leben mich entschließen sollte. Erst aber hieß es die alte verlassen; meine Mutter wollte am gleichen Tage ihre Wohnung in Saint-Cloud beziehen und hatte alle Vorkehrungen getroffen, nachdem sie uns zur Bahn gebracht, sich direkt dahin zu begeben, ohne noch einmal nach Hause zu müssen, oder sie tat wenigstens so, weil sie fürchtete, ich würde sonst, statt nach Balbec zu reisen, lieber mit ihr heimkehren wollen. Und unter dem Vorwand, viel im neu gemieteten Hause zu tun und wenig Zeit dazu zu haben – in Wahrheit aber, um mir die Qual dieser besonderen Art von Abschied zu ersparen, hatte sie beschlossen, nicht bis zur Abfahrt des Zuges bei uns zu bleiben. Denn dann auf dem Bahnsteig, erst noch hingehalten zwischen all dem Gehen und Kommen und lauter Vorbereitungen, die zu keinem Ende führen, wird die nun doch unvermeidliche Trennung ein jäher unerträglicher Schmerz, zusammengedrängt in einen letzten furchtbaren Augenblick voll äußerster ohnmächtiger Hellsichtigkeit.
Zum ersten Male fühlte ich, es sei möglich, daß meine Mutter ohne mich, auf eine andere Weise als für mich, ein ganz anderes Leben lebe. Sie würde für sich wohnen mit meinem Vater, sie fand vielleicht, ich mache ihm durch meine schwache Gesundheit und Nervosität das Dasein etwas schwierig und traurig. Noch trostloser wurde die Trennung für mich, wenn ich mir sagte, sie sei bei meiner Mutter das Ergebnis fortgesetzter Enttäuschungen, die ich ihr bereitet, die sie mir zwar verschwiegen, durch die sie aber eingesehen habe, wie schwer es sei, die Ferien gemeinsam zu verbringen. Vielleicht auch wollte sie damit zum ersten Male ein Dasein erproben, in das sie sich künftig ergeben mußte, wenn nun allmählich die Jahre kämen, in denen mein Vater und sie mich seltener sehen würden, die Zeit, in der sie für mich – das hatten mir nicht einmal meine Angstträume bisher vergegenwärtigt – schon etwas fremd würde, eine Dame, die man allein in ein Haus, in dem ich nicht bin, treten und den Portier fragen sieht, ob Briefe von mir gekommen seien. Kaum konnte ich dem Dienstmann antworten, der mir die Handtasche abnehmen wollte. Um mich zu trösten, wandte meine Mutter Mittel an, die ihr die wirksamsten schienen. Sie hielt es für zwecklos, meinen Kummer scheinbar zu übersehen, sie zog es vor, mich sanft damit zu necken.
»Was würde wohl die Kirche von Balbec denken, wenn sie wüßte, daß man so unglücklich zu ihr auf Besuch geht? Ist das der begeisterte Reisende, von dem Ruskin spricht? Nun, ich werde schon merken, ob du auf der Höhe der Situation bist, auch in der Ferne werde ich bei meinem kleinen Jungen sein. Morgen bekommst du einen Brief von deiner Mama.«
»Mein Kind,« sagte die Großmutter zu ihr, »ich sehe dich wie Frau von Sévigné eine Landkarte studieren und uns keinen Augenblick verlassen.«
Mama versuchte mich zu zerstreuen; sie fragte, was ich mir zu essen bestellt habe, dann bewunderte sie Françoise, machte ihr Komplimente über ihren Mantel und Hut. Die erkannte sie nicht wieder, obgleich sie sie früher einmal scheußlich gefunden hatte, als sie neu waren und meine Großtante sie trug, den Hut mit einem Riesenvogel drauf und den Mantel voll greulicher Jet-Dessins. Als die Tante ihn nicht mehr trug, hatte Françoise ihn wenden lassen, und nun kam die schöne Farbe der ungemusterten Rückseite zur Geltung. Der Vogel war schon lange zerbrochen und in die Rumpelkammer gewandert. Raffinements, um die sich große Künstler bewußt bemühen, überraschen bisweilen in einem Volkslied, an einem Bauernhaus, dessen Fassade über der Tür an der passendsten Stelle eine weiße oder schwefelfarbene Rose schmückt: so hatte Françoise Samtschleife und Bandknoten, die auf einem Porträt von Chardin oder Whistler entzückend gewesen wären, mit sicherem natürlichen Geschmack angebracht, und der Hut war sehr hübsch geworden. Der bescheiden-ehrbare Ausdruck, der das Gesicht unserer alten Dienerin adelte, hatte sich auch der Kleidung mitgeteilt, die Françoise in der zurückhaltenden, doch nie servilen Art, mit der sie die »Würde ihrer Stellung wahrte«, für die Reise angelegt hatte, um, ohne sich vorzudrängen, neben uns sich zeigen zu können; in dem abgeblaßten Kirschrot des Mantels und dem weichhaarigen Pelz des Kragens erinnerte sie – um auf entlegenere Zeiten zurückzugreifen – an ein Bild der Königin Anne von Bretagne, wie es etwa ein alter Meister in sein Stundenbuch malt: da ist alles an seinem Platz, das Gefühl für Gesamtwirkung hat sich über alle Teile verbreitet, und die reiche, uns fernliegende Eigenart des Kostüms wirkt ebenso würdig und fromm wie Augen, Lippen und Hände.
Von Nachdenken konnte bei Françoise nicht die Rede sein. Alles in allem wußte sie nichts (wenn man Nichtwissen mit dem Nichtverstehen gleichsetzt), nichts als die wenigen Wahrheiten, die das Herz unmittelbar erfaßt. Die weite Welt der Ideen existierte für sie nicht. Aber von ihrem klaren Blick, von den zarten Linien der Nase und der Lippen (Merkmalen, die bei gebildeten Leuten, denen sie oft mangeln, höchste Distinktion, edle Freiheit erlesener Geister bezeichnet hätten) war man bisweilen betroffen wie von dem guten, klugen Blick eines Hundes, dem doch alle menschlichen Vorstellungen fremd sind. So gibt es wohl unter unsern schlichten Brüdern, den Bauern,