Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
und ich mahnte sie daran, als er fort war und ich sie mit meinem Arm beim Treppensteigen stützte.
»Es wird bald jemand anders da sein, für den Sie sich schonen müssen, mein hübsches Frauchen«, sagte ich, »und Sie müssen stets daran denken.«
Als schon längst ein Brief von ihm hätte da sein sollen, wartete sie immer noch vergebens, und was sie jeden Morgen durchmachte, wenn der Briefträger nichts für sie hatte, das flößte am Ende sogar dem Briefträger selbst Mitleid ein, wie er sie so an die Tür gerannt kommen sah; und doch können wir uns nicht wundern, daß es die Gefühle abstumpft, die ganze Mühe und nichts von dem Vergnügen mit den Briefen anderer Leute zu haben, und dabei meistenteils im Schmutz und Regen herumzulaufen und für eine Bezahlung, die mehr an Klein- als an Großbritannien denken läßt. Endlich aber eines Morgens, als sie sich zu schlecht fühlte, um die Treppe herabzulaufen, sagt er zu mir mit einer freudigen Miene, die mich den Mann in seinem Beamtenrock fast lieben ließ, obwohl er von Nässe triefte:
»Ich habe heute morgen von der ganzen Straße zuerst ihr Haus drangenommen, Mrs. Lirriper, denn hier ist der Brief für Mrs. Edson.«
Ich lief, so schnell mich meine Beine tragen wollten, mit dem Brief in ihr Schlafzimmer hinauf, und als sie ihn sah, setzte sie sich im Bett auf und küßte ihn. Dann riß sie ihn rasch auf und las, und ich sah, wie ihr Gesicht leichenblaß wurde und erstarrte.
»Er ist sehr kurz!« sagte sie, ihre großen Augen zu meinem Gesicht erhebend. »Oh, Mrs. Lirriper, er ist sehr kurz!«
Ich sage darauf:
»Meine liebe Mrs. Edson, zweifellos hatte Ihr Gatte gerade keine Zeit, mehr zu schreiben.«
»Zweifellos, zweifellos«, antwortet sie, schlägt beide Hände vors Gesicht und dreht sich nach der Wand um.
Ich schloß sacht ihre Tür zu, kroch hinunter und pochte an die Tür des Majors, und als er, der gerade dabei war, seine dünnen Schinkenschnitte auf seinem eignen kleinen Bratrost zu rösten, mein Gesicht sah, stand er von seinem Stuhl auf und ließ mich auf das Sofa niedersitzen.
»Still!« sagte er. »Ich sehe, es ist etwas vorgefallen. Sprechen Sie nicht – lassen Sie sich Zeit.«
Ich erwiderte darauf:
»Oh, Major, ich fürchte, oben wird eine Seele grausam gequält.«
»Ja, ja«, sagte er, »ich hatte angefangen, es zu befürchten – lassen Sie sich Zeit.«
Und dann beginnt er im Widerspruch zu seinen Worten fürchterlich zu toben und sagt:
»Ich werde es mir niemals verzeihen, Madam, daß ich, Jemmy Jackman, die ganze Sache nicht gleich an jenem Morgen durchschaute – daß ich nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte!«
Als wir uns einigermaßen gefaßt hatten, kamen der Major und ich überein, daß alles, was wir im Augenblick tun konnten, darin bestand, uns so zu stellen, als argwöhnten wir nichts, und dafür zu sorgen, daß die arme junge Frau möglichst viel Ruhe hätte. Was ich aber ohne den Major angefangen hätte, als es unter den Leierkastenmännern bekannt wurde, daß wir Ruhe haben wollten, das weiß ich wirklich nicht. Denn er führte einen erbitterten Krieg mit ihnen, in dem Grade, daß ich, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, niemals hätte glauben können, ein Gentleman könne derartig mit Schüreisen, Spazierstöcken, Wasserkannen, Kohlen, Kartoffeln aus der Schüssel, ja sogar mit dem Hut von seinem Kopf um sich werfen; und dabei tobte er dermaßen in fremden Sprachen, daß sie mit dem Griff in der Hand erstarrt stehenblieben.
Sooft ich jetzt den Briefträger sich dem Haus nähern sah, geriet ich in derartige Angst, daß es wie die Gewährung einer Galgenfrist war, wenn er vorüberging. Aber etwa zehn oder vierzehn Tage später sagt er wiederum:
»Hier ist einer für Mrs. Edson. Befindet sie sich einigermaßen wohl?«
»Sie befindet sich soweit wohl, Briefträger, aber nicht wohl genug, um so früh wie sonst aufzustehen.« Und das entsprach schließlich auch vollkommen der Wahrheit.
Ich brachte den Brief zum Major, der bei seinem Frühstück saß, und ich sagte bebend:
»Major, ich habe nicht den Mut, ihn zu ihr hinaufzutragen.«
»Es ist ein übelaussehender Schurke von einem Brief«, sagt der Major.
»Ich habe nicht den Mut, Major«, sagte ich wiederum zitternd, »ihn zu ihr hinaufzutragen.«
Nachdem er einige Augenblicke lang nachgedacht zu haben schien, sprach er, während er den Kopf aufrichtete, als ob ihm ein neuer und zweckdienlicher Gedanke gekommen sei:
»Mrs. Lirriper, ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich, Jemmy Jackman, an jenem Morgen nicht mit meinem Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte.«
»Major«, sagte ich ein wenig rasch, »Sie haben es nicht getan, und das ist ein Glück, denn es wäre nichts Gutes dabei herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan, Ihr Schwämmchen für Ihre Stiefel zu benutzen.«
So kamen wir denn dahin, die Sache vernünftig zu betrachten, und faßten den Plan, daß ich an ihre Schlafzimmertür anklopfen, den Brief auf die Matte davor niederlegen und auf dem oberen Treppenabsatz abwarten sollte, was sich ereignen würde. Das tat ich nun, und nie hat ein Mensch vor Schießpulver, Kanonenkugeln, Granaten oder Raketen mehr Angst gehabt als ich vor diesem entsetzlichen Brief, als ich ihn in das zweite Stockwerk hinauftrug.
Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch das Haus, wenige Augenblicke nachdem sie den Brief geöffnet hatte, und ich fand sie wie leblos auf dem Boden liegen. Meine Liebe, ich warf keinen Blick auf den geöffnet neben ihr liegenden Brief, denn ich hatte keine Zeit dazu.
Alles, was ich brauchte, um sie wieder zu sich zu bringen, trug der Major mit eignen Händen herbei. Außerdem lief er nach dem, was wir nicht im Hause hatten, zum Apotheker, und schließlich bestand er das wildeste aller seiner vielen Scharmützel mit einem Leierkasten, auf dem ein Tanzsaal dargestellt war, ich weiß nicht in welchem Land, und darauf tanzende Paare, die mit rollenden Augen durch eine Flügeltür aus und ein walzten. Als ich nach langer Zeit wahrnahm, wie sie sich zu erholen begann, glitt ich auf den Treppenabsatz hinaus, bis ich sie weinen hörte, und dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs. Edson, Sie sind nicht wohl, meine Liebe, und das ist nicht zu verwundern«, als wäre ich zuvor gar nicht drin gewesen. Ob sie es mir glaubte oder nicht, das kann ich nicht sagen, und es kommt auch nicht darauf an, aber ich blieb stundenlang bei ihr, und dann flehte sie Gottes Segen auf mich herab und meinte, sie wolle zu schlafen versuchen, denn der Kopf tue ihr weh.
»Major«, flüsterte ich, zum ersten Stock hereinblickend, »ich bitte Sie und flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«
Der Major flüsterte:
»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht es ihr?«
Ich sage darauf:
»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«
Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt, während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten, ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben, solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen – wenn