Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
schüttelte den Kopf.
» Ich brauche niemand, meine Gute. Das ist jetzt alles vorbei und dahin.«
Etwa eine Woche später – denn als diese Unterredung stattfand, hatte sie schon lange so dagelegen – beugte ich mich über ihr Bett mit meinem Ohr an ihren Lippen, abwechselnd auf ihren Atem lauschend und nach einem Zeichen des Lebens in ihrem Gesicht spähend. Schließlich kam dieses ersehnte Zeichen in einer feierlichen Weise – nicht wie ein Aufzucken, sondern wie eine Art blasses, schwaches Licht, das ganz allmählich das Gesicht erhellte.
Sie sagte etwas zu mir, das keinen Laut gewann, aber ich sah, daß sie mich fragte:
»Ist dies der Tod?«
Worauf ich erwiderte:
»Mein armes, liebes, gutes Kind, ich glaube, es ist so.«
Ich wußte irgendwie, daß sie den Wunsch hatte, ihre schwache rechte Hand zu bewegen. Ich nahm sie also, legte sie ihr auf die Brust und faltete ihre Linke darüber, und sie betete ein inniges Gebet, in das ich arme alte Frau einstimmte, obwohl kein Wort gesprochen wurde. Dann brachte ich das Kindchen in den Windeln herbei und sagte:
»Mein liebes Kind, dies ist einer kinderlosen alten Frau gesendet. Dies ist mir anvertraut.«
Zum letzten Male streckte sich die zitternde Lippe mir entgegen, und ich küßte sie innig.
»Ja, mein Kind«, sagte ich. »So Gott will! Mir und dem Major.«
Ich weiß nicht, wie ich es mit den rechten Worten schildern soll, aber ich sah ihre Seele sich erhellen und froh werden, und mit einem letzten Blick wurde sie frei und flog davon.
Das ist also das Wie und Warum, meine Liebe, daß wir ihn nach seinem Paten, dem Major, Jemmy nannten; sein Familienname aber war Lirriper nach mir selbst. Und niemals ist ein Kind solch ein Sonnenschein in einer Pension und solch ein lieber Spielkamerad für seine Großmutter gewesen, wie es Jemmy für dieses Haus und für mich war. Er war immer gut und hörte auf das, was man ihm sagte (meistens), er wirkte besänftigend aufs Gemüt und machte alle Dinge angenehmer, mit Ausnahme des Falles, als er alt genug war, um seine Mütze in Miß Wozenhams Luftschacht hinunterfallen zu lassen, und sie sie ihm nicht hinaufreichen wollten. Da geriet ich in Wut, nahm meinen besten Hut, Handschuhe und Sonnenschirm, und mit dem Kind an der Hand sage ich:
»Miß Wozenham, ich habe nicht erwartet, jemals Ihr Haus zu betreten, aber wenn die Mütze meines Enkels nicht augenblicklich zurückgegeben wird, so sollen die Gesetze dieses Landes, die die Eigentumsrechte der Untertanen regeln, schließlich zwischen mir und Ihnen entscheiden, koste es, was es wolle.«
Mit einem höhnischen Zug im Gesicht, der, wie es mir schien, auf doppelte Schlüssel deutete – aber das konnte auch eine Täuschung sein, und wenn noch irgendein Zweifel besteht, so mag Miß Wozenham den ganzen Vorteil davon haben, wie es recht ist –, klingelt sie und fragt:
»Jane, liegt etwa eine alte Mütze von einem Gassenjungen in unserem Schacht unten?«
Darauf sage ich:
»Miß Wozenham, bevor Ihr Mädchen diese Frage beantwortet, muß ich Ihnen ins Angesicht sagen, daß mein Enkel kein Gassenjunge ist und keine alten Mützen zu tragen pflegt. Wirklich, Miß Wozenham«, fügte ich hinzu, »ich bin keineswegs sicher, ob die Mütze meines Enkels nicht neuer als Ihre Haube ist.«
Das war einfach wild von mir, da ihre Spitze das gewöhnlichste Maschinenzeug und noch dazu verwaschen und zerrissen war, aber ihre Unverschämtheit hatte mich zu sehr gereizt.
Darauf antwortete Miß Wozenham mit gerötetem Gesicht:
»Jane, du hast meine Frage gehört. Liegt die Mütze eines Kindes unten in unserem Schacht?«
»Ja, Ma'am«, sagt Jane, »ich glaube, ich sah da irgendwelchen Unrat herumliegen.«
»Dann«, sagt Miß Wozenham, »laß diese Besucher hinaus und wirf den wertlosen Gegenstand hinauf, daß er uns aus dem Hause kommt.«
Aber hier runzelt der Kleine, der Miß Wozenham die ganze Zeit angestarrt hatte, seine kleinen Augenbrauen, schürzt seine kleinen Lippen, stellt seine rundlichen Beinchen weit auseinander, dreht seine dicken Fäustchen langsam umeinander, wie eine kleine Kaffeemühle, und sagt zu ihr:
»Wer zu meiner Großmutti unverschämt ist, bekommt's mit mir zu tun!«
»Oh!« sagt Miß Wozenham, verächtlich auf den Knirps niederblickend. »Das ist kein Gassenjunge, was?«
Ich breche in Lachen aus und sage:
»Miß Wozenham, wenn Sie nicht finden, daß das ein hübscher Anblick ist, so beneide ich Ihre Gefühle nicht, und ich wünsche Ihnen guten Tag. Jemmy, komm mit Großmutti.«
Ich war in der besten Stimmung, obwohl seine Mütze in die Straße hinaufgeflogen kam, als würde sie aus dem Wasserrohr herausgeschossen, und auf dem Nachhauseweg lachte ich die ganze Zeit über, alles wegen dieses lieben Jungen.
Die vielen, vielen Meilen, die ich und der Major mit Jemmy in der Dämmerung gereist sind, lassen sich nicht berechnen. Jemmy saß als Kutscher auf dem Bock, der des Majors metallbeschlagenes Schreibpult auf dem Tisch ist, ich saß im Lehnstuhl, und der Major stand dahinter als Schaffner und machte seine Sache mit einer Tüte aus braunem Papier ganz prachtvoll. Ich versichere Ihnen, meine Liebe, daß zuweilen, wenn ich auf meinem Platz im Innern der Kutsche ein wenig eingenickt war und durch das plötzliche Aufflackern des Feuers halb wach wurde und hörte, wie unser kleiner Liebling die Pferde antrieb und der Major hinten ins Horn blies, damit die Wechselpferde bereit ständen, sobald wir an dem Gasthof anlangten – daß ich dann halb glaubte, wir wären auf der alten nach Norden führenden Landstraße, die mein armer Lirriper so gut kannte. Wenn dann das Kind und der Major, beide tief vermummt, abstiegen, um sich die Füße zu wärmen, stampfend auf und ab gingen und Gläser voll Bier aus den papiernen Zündbüchsen auf dem Kamin tranken, so war der Major ebenso mit Leib und Seele bei dem Spiel wie das Kind, und keine Komödie konnte einem größeres Vergnügen bereiten, als wenn der kleine Kutscher den Kutschenschlag öffnete, den Kopf zu mir hereinsteckte und sagte:
»Sehr schnell gefahren. – Angst gehabt, alte Dame?«
Aber meine unaussprechlichen Gefühle, als uns das Kind abhanden gekommen war, können nur mit denen des Majors verglichen werden, die um kein Haar besser waren. Fünf Jahre alt war er und elf Uhr vormittags war es, als er davonlief; und er ließ nichts von sich hören bis um halb zehn Uhr abends, als der Major auf die Redaktion der Times gegangen war, um eine Annonce aufzugeben. Diese erschien auch am nächsten Tage, vierundzwanzig Stunden, nachdem er gefunden worden war, und ich werde sie bis an mein Lebensende sorgfältig in meiner Lavendelkommode aufbewahren als den ersten gedruckten Bericht über ihn. Je mehr der Tag fortschritt, desto mehr geriet ich außer mir, und dem Major erging es ebenso. Und durch die seelenruhige Art der Schutzleute gerieten wir beide in einen noch schlimmeren Zustand. Sie waren zwar sehr höflich und freundlich, weigerten sich aber hartnäckig, daran zu glauben, daß der Kleine gestohlen worden wäre.
»Wir machen meist die Erfahrung, Ma'am«, sagte der Sergeant, der gekommen war, um mich zu trösten, was ihm aber durchaus nicht gelang – er war einer von den Schutzleuten aus Carolines Zeiten, worauf er auch in seinen einleitenden Worten anspielte, indem er sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Ma'am, es wird alles wieder so in Ordnung kommen wie meine Nase, als das junge Mädel in Ihrem zweiten Stockwerk sie mir zerkratzt hatte« – dieser Sergeant sagte also: »Wir machen meist die Erfahrung, Ma'am, daß die Leute nicht allzusehr darauf aus sind, Kinder aus zweiter Hand, wie ich es nennen möchte, zu haben. Sie werden ihn wiederbekommen, Ma'am.«
»Oh, aber mein lieber guter Sir«, sagte ich, indem ich die Hände zusammenschlug, sie rang und sie wieder zusammenschlug, »es ist solch ein ungewöhnliches Kind!«
»Ja, Ma'am«, sagte der Sergeant, »wir machen auch meist diese Erfahrung. Die Frage ist, wieviel seine Kleider wert sind.«
»Seine Kleider«, sagte ich, »sind nicht viel wert, denn er hatte bloß seinen Spielanzug an. Aber das liebe Kind!«