ein Greis und noch zwei andere gaben dem Hingeschiedenen das Geleit. Sie zeigten trauernde Mienen, doch der erste Schmerz um den Toten war längst erkaltet in ihnen, zerschmolzen mit dem Schnee. Während sie beteten mit eintönigem Gemurmel, tanzte der »traurige Jacho« wie ein lustig gewordener Narr dem Zuge voran, mit dem Eisenkreuz in den Armen. Er schrie und jauchzte, als hätte er einen Hochzeitsreigen anzuführen. Irimbert entblößte das Haupt, als der Zug an ihm vorüberging. »Ein Kluger, der das große Rätsel löste!« Noch lange während er durch den Wald emporstieg, hörte er das gurgelnde Geschrei des Wahnsinnigen. Und übers Tal herüber, aus dem Klosterhof und von der Bürgergasse, klang der Jubel, der seine tollen Sprünge um den Maibaum machte.
Die Sonne tauchte über den Berggrat herauf und streute ihre flimmernden Lichter über das junge Laub, das gleich winzigen grünen Herzen aus allem Gezweig der Buchen sproßte. Als Irimbert zum Gehöft des Jägers kam, sah er die Greisin auf der Hausbank sitzen. In Gedanken drehte sie die Spindel. Wildfelle waren zum Trocknen ausgebreitet, der Brunnen murmelte, und die Bienen summten. Nichts schien verändert an dieser Stätte, alles war wie damals im Herbst; nur daß sich der Goldglanz des welkenden Laubes verwandelt hatte in junges Grün.
»Guten Morgen, Mutter Hanna!«
Die Greisin hob das Gesicht. »Was willst du? Ich kenn dich nit.«
»Einen Winter ist’s her, da hab ich das Wams deines Buben getragen, den der Baum erschlug.«
»Du bist’s Herr?« Ruhig blickte Hanna an ihm hinauf. »Viel mußt du gelitten haben.«
»Jetzt bin ich weise wie du. Schmerz und Freude sind mir geworden, daß ich sie nimmer scheiden kann.«
Hilpot erschien in der Haustür. Erschrocken sah er den Jäger an. »Ja, Mann«, sagte Mutter Hanna, »er ist es schon, um den du getrauert hast den ganzen Winter. Getrauert wie um keinen von unseren Buben.«
»Herr! Du mein lieber Herr!« Ein anderes Wort brachte der Alte nicht aus der Kehle, während er zu Irimbert aufsah und ihm die Hände drückte. Dann fand er nur die ein Frage: »Willst du jagen? Ich führ dich auf einen Urhahn.«
Irimbert schüttelte den Kopf. »Jagen? Nein! Ich will zum Greimold ins Gotteslehen.« Seine Stimme bebte.
»Darf ich mit? Bis zur Wies hinauf?«
»Komm!«
Während der Alte ins Haus lief, um seine Kappe zu holen, fragte Mutter Hanna: »Weißt du nit, Herr, wie’s meinem Buben geht?«
»Ich denke, daß er frohen Tag hat heut. Sie tanzen den Reien um den Maibaum.«
»Der Weg zu uns herauf ist offen seit einem Mond. Noch allweil ist der Bub nit dagewesen. Seit demselbigen Herbsttag nimmer. Du bist flinker.« Seufzend netzte Mutter Hanna die Finger und drehte die Spindel.
Hilpot kam über die Schwelle gesprungen. »So, Herr!«
Als sie zum Waldsaum schritten, blieb Irimbert stehen und lauschte, als müßte er auch heute wieder das Lied der Blinden hören wie an jenem Abend im Herbst. Nur der Morgenwind ging flüsternd über das junge Laub der Buchen.
Die Sonne war höher gestiegen, ihre Lichter flimmerten schon um die Wurzeln der Bäume. Etwas Stilles und Keusches erfüllte den Wald. Die jungen Gräser spitzten schon überall hervor und durchbrachen das verfaulte Laub. Einzelne Schneeflecke lagen noch umher, und neben ihren schmelzenden Rändern blühten schon die kleinen, blaßblauen Frühlingssterne. Ein Wildbach rauschte so gleichmäßig, daß sein Rauschen wie Stille wirkte. Sein Wasser war noch milchig vom Schnee und von den Frühlingsmuren. Zwischen den Bäumen schimmerten in der Sonne mit smaragdenem Grün die Wiesen, die das Gotteslehen umzogen.
Am Hag des Lehens war das Tor geschlossen, und auf einem kleinen Turm, der aus Balken geschränkt war, saß ein Wächter, wie bei der Schanze einer Burg, die in Fehde steht. Es war der Steinhauser. »He, Fürsenn«, rief er ins Gehöft, »sell drunten seh ich zwei Mannsleut. Den einen kenn ich, das ist der Hilpot. Der kehrt wieder um. Der ander kommt. Den kenn ich nit. Und eilig muß er’s haben. Ruf den Hauswirt!«
Raschen Ganges kam Irimbert über die Wiesen heraufgestiegen. Sein suchender Blick eilte dem Wege voran. Er sah nur den geschlossenen Hag, dessen Flechtwerk erhöht und gefestet war. Am Hag entlang hatte man einen breiten Graben ausgeworfen, in dem sich das Wasser eines Wildbaches sammelte; alle Bäume, die in der Nähe des Hages gestanden, waren niedergeschlagen, am Graben alle Büsche ausgerottet. Das Flügeltor, das früher den Hag geschlossen, hatte sich in eine feste Schlagbrücke verwandelt, die sich vor Irimbert mit rasselnden Ketten über den Graben legte. Hinter der Brücke stand der Gotteslechner im Tor; er trug die Eisenhaube, über dem ledernen Wams das Kettenhemd, und führte das blanke Schwert wie einen Stab. Ruhig den Jäger messend, sagte er: »Dein Gewand hat Klosterfarben. Schicken mir deine Herren eine Botschaft?« Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. »Ich bin der freie Herr von Mitteralben und Vordereck. Was will das Kloster von mir?«
In Sorge betrachtete Irimbert den Gotteslechner. »Greimold? Kennst auch du mich nimmer? So führe mich zu deinem Kind! Seine blinden Augen werden mich erkennen.«
Da kam es vor freudigem Schreck wie ein Wanken über den starken Mann. Der Steinhauser und der Altsenn, die mit ihren Streitäxten hinter ihm standen, sahen, daß ihm das Eisen entfiel. Keines Wortes mächtig, streckte er die Hände, riß den Jäger an sein Herz und umschloß ihn wie einen Sohn, den er wiedergefunden. Als stünde eine drohende Gefahr da draußen, zog er ihn von der Brücke in das Gehöft und rief den beiden Männern zu: »Die Schlagbruck auf! Und keiner geht ein! Jetzt hab ich den Buben, jetzt soll ihn mir keiner mehr nehmen.« Er wurde ruhiger und betrachtete dieses abgezehrte Gesicht, die gebleichten Haare. »Bub! Wie haben sie dich zugerichtete! Um meinetwillen!«
»Nein, Greimold! Mir geschah, wie mir geschehen mußte.«
Der Gotteslechner hatte die Faust erhoben und rief gegen das Tal hinunter: »Gottesmänner!« Wieder faßte er Irimberts Hände. »Sag, Bub, soll es Botschaft sein, daß du kommst? Sind sie schon hinter dir? Laß sie nur kommen! Bei mir bist du sicher. Acht Mannsleut sind wir. Eisen ist genug im Haus. Und schau dir die Mauer an!« Eine starke, aus klobigen Felsblöcken gefügte Ringmauer mit Scharten und Zinnen, mit einem Tor, über dem ein Fallgitter aus schweren Balken hing, umzog in engem Kreis das Haus und die Ställe. »Wir haben sie gebaut, noch eh der Schnee geschwunden ist. Die sollen mir die da drunten so leicht nit werfen!«
Irimbert drückte die schwielige Hand des Bauern. »Jeder Stein dieser Mauer ist wie ein Wort, das von deiner Sorge erzählt und von hartem Winter. Es ist Frühling worden, Greimold! Ich bringe gute Botschaft, bringe deinem Haus den Frieden. Der Propst hat dein Recht erkannt und wird dich schützen. Solang er lebt, soll niemand dich stören in deinem freien Heim.«
»Bub? Und das ist wahr?«
»Das hab ich aus Herrn Friedrichs eigenem Munde.«
Der Gotteslechner brauchte Zeit, um diese neue Freude in sich erwachen zu lassen. Lachend schrie er den beiden Männern zu: »Steinhauser! Fürsenn! Keiner braucht wachen mehr. Der Bub ist da. Mein Haus hat Fried. So schönen Maien hab ich noch nie gesehen. Vergelt’s Gott deinem Herrn! Sag nur, Bub, wie muß ich deine Botschaft lohnen?«
»Führ mich zu deinem Kind!«
»Das Kindl! O Jesu mein! So komm doch, Bub!« Greimold zog den Jäger zum Mauertor. Da blieb er stehen. »Nein, Bub! So geht’s nit. Wart noch ein Kitzel! Das muß ich ihr sänftlich beibringen. Sie könnt den Tod haben von der jähen Freud.« Er wurde ernst und sagte zögernd: »Ich mein, es ist besser, wenn du’s weißt. Das Kindl ist dir gut. Sie hat gebanget um dich und hat gezittert Tag und Nacht wie ein frierendes Blüml, das unterm Schnee keine Sonn nimmer spürt. Gelt, laß ihr das bißl Freud! Und sag ihr nit, wieviel du leiden hast müssen! Sie könnt’s nit hören.«
Irimbert nickte schweigend; heiße Röte war ihm in die bleichen Wangen gestiegen.
»Sie weiß nichts anderes, als daß deine Herren dich fortgeschickt haben, weit in die Ebnet hinaus. Und – ja, Bub, da muß ich dir noch was sagen. Du mußt ihr einmal erzählt haben vom schönen Glück und seinem Erdenbruder