zu große Wanderkleidung. Sie wirkte an ihm, als würde sie ihm nicht gehören. Um seinen Hals hing eine Kamera.
Ihre Großmutter stellte sie und Leon vor.
»Das ist Herr Pfeifer aus Düsseldorf.« Dann wandte sich Oma Winter an den neuen Gast. »Hat Ihnen das Essen geschmeckt? War alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Für Magenkranke wäre es viel zu würzig gewesen«, lautete die Antwort, die Julia wie auch ihre Oma vor den Kopf stieß.
»Magenkranke sollten auch eher in ein für sie passendes Haus mit Schonkostangebot reisen«, erwiderte Leon mit ironischem Lächeln, nahm Julia und Oma Winter am Arm und zog die beiden in die Stube.
Julias Großmutter schloss schnell die Tür hinter ihnen. Sie kreuzte die Hände vor der Brust.
»Oje, das war aber eine harte Kritik«, sagte sie unglücklich. »Und dabei habe ich mir die größte Mühe gegeben.«
»Leon hat recht«, erwiderte Julia. Die Wut sprang ihr aus den Augen. »Soll er doch wieder abreisen. Auf solche Gäste können wir verzichten. Die machen nur Ärger.«
»Eine Unverschämtheit«, knurrte Leon. Er zwinkerte Oma Winter beruhigend zu. »Grämen Sie sich nicht. Ich finde Ihre Küche toll.«
Das Lächeln der älteren Frau fiel bekümmert aus. Einen Augenblick standen die drei in der Mitte der Stube, ohne etwas zu sagen. Dann meinte Leon: »Haben Sie noch etwas von dem Schwarzwälder Kirschbrand? Ich denke, von dem könnten wir jetzt alle einen Schluck vertragen.«
Sie blieben noch eine Weile zusammen am Stubentisch sitzen. Julia und Leon erzählten von ihrem Ausflug, und Oma Winter wusste noch ein paar lustige Geschichten beizusteuern. Schließlich waren alle müde. Julia und Leon verabschiedeten sich vor der Haustür unter dem Sternenzelt.
»Danke für diesen Tag«, sagte Leon leise, während sie sich im Arm hielten. »Im Gegensatz zu dieser Pfeife mit seiner Kamera habe ich alles mit dem Herzen fotografiert.«
Seine Worte und der zärtliche Klang seiner tiefen Stimme gaben der jungen Frau die selige Gewissheit, dass dies nicht nur eine Affäre war, sondern ein Herzensbund. Nur das zählte in diesem Moment für sie. Wie sie ihrer beider Leben miteinander vereinbaren konnten, das würde sich finden. Ihre Liebe würde schon einen Weg kennen.
*
Der nächste Tag kündigte sich wieder als schönster Sommertag an. Julia molk schon früh die Kühe, ihre Großmutter kümmerte sich um das Frühstück für die beiden Gäste. Als die Stalltür aufging und Leon im Rahmen stand, wunderte Julia sich wieder einmal über die Gefühle, die sie für diesen Mann empfand. Sie liebte ihn, sie brauchte ihn und jetzt schon sehnte sie sich nach ihm bei dem Gedanken, dass er bald nach Hause fahren würde.
»Hallo«, sagte er zärtlich und zog sie an sich.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Immer besser«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Liebe ist wirklich die beste Medizin.«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Begrüßungskuss. Der zweite Kuss drückte sein Verlangen nach mehr aus. Nur allzu gern erwiderte Julia ihn. Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, fragte sie: »Frühstückst du jetzt?«
Er schüttelte den Kopf. »Mister Pfeifer sitzt in der Stube. Ich habe keine Lust, mich zu ihm zu gesellen. Kann ich mit dir und deiner Großmutter frühstücken?«
»Natürlich.« Zärtlich berührte sie seine Wange. »Wie kannst du nur so dumm fragen?«
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Komisch, dass der Typ allein reist«, sagte er in nachdenklichem Ton.
Sie hob die Brauen und lachte. »Du bist doch allein hier.«
Für einen kurzen Augenblick gewann sie den Eindruck, dass Leon sie verunsichert ansah. Dann lachte auch er.
»Stimmt.« Er strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich sag mal deiner Großmutter guten Morgen. Kommst du auch gleich?« Er zögerte und erkundigte sich dann rasch: »Oder kann ich dir beim Melken helfen?«
»Ich glaube nicht, dass du mit deiner Prellung auf dem harten Melkschemel sitzen kannst. Außerdem würde es viel zu viel Zeit beanspruchen, dir zu zeigen, wie es geht.« Verschmitzt blinzelte sie ihm zu. »Ich habe nämlich großen Hunger.«
*
Während des gemeinsamen Frühstücks in der niedrigen Küche fragte Leon: »Kann ich etwas tun? Ich meine, irgendetwas reparieren oder sonst was machen? Das Stehen bereitet mir keine Schmerzen, und meine Hände sind unversehrt.«
»Du könntest doch die Aufhängung meines Spiegels befestigen. Sie ist vor ein paar Wochen herausgebrochen«, sagte Oma Winter, die ihm am Abend das Du angeboten hatte.
»Kein Problem.« Er sah Julia an. »Habt ihr Werkzeug im Haus?«
»Mein Opa besaß sogar eine kleine Werkstatt hinter dem Stall«, erwiderte sie stolz. »Dort, wo der Schuppen ist. Da findest du alles, was du brauchst.«
»Der alte Bauernschrank im Flur ist ein wunderschönes Stück«, fuhr er fort. »Der könnte auch mal eine Auffrischung gebrauchen.«
Oma Winter lachte. »Nur zu, Leon. Tobe dich ruhig aus.«
Julia lächelte.
Sie kostete die tiefe Freude aus, die sie an seiner Seite empfand, und fühlte sich von einem überwältigenden Drang ergriffen, sich in seine Arme zu schmiegen und ihn zu küssen. Es war ein Zauber. Überrascht und besorgt zugleich erkannte sie, dass sie noch nie so glücklich gewesen war wie an diesem Morgen.
*
Auf dem Weg zum Schuppen nahm Leon aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er blieb stehen und entdeckte ›Die Pfeife‹, wie er den neuen Gast nannte, der an der Seitenwand des Hauses auf dem Boden kniete und fotografierte. Vielleicht ein Tier?, fragte er sich. Nein, dieser Mann fotografierte die Hauswand. Genau die marode Stelle, die er auch schon entdeckt hatte und die für den feuchten Keller verantwortlich war. Warum interessierte sich dieser Typ dafür? Warum hielt er den Schaden im Bild fest?
Ein Verdacht stieg in Leon hoch, der seinen Atem schneller gehen ließ. Inzwischen kannte er ja diese Vorgehensweise nur zu gut. Ohne die Pfeife, der ihn bis jetzt nicht bemerkt hatte, anzusprechen, ging er weiter. Er nahm sich vor, diesen Mann fortan im Auge zu behalten.
*
Für Julia war dies der schönste Sommertag, den sie jemals erlebt hatte. Sie bewunderte Leons Geschick für handwerkliche Tätigkeiten, dankte ihm von Herzen für seinen Tatendrang, kleine Mängel an der Pension zu beseitigen, und für sein Interesse an ihrer Arbeit, bei der er ihr wegen seiner Verletzung nicht so viel helfen konnte wie er wollte.
An diesem Tag stellte sich zwischen den beiden Liebenden ein stilles Einverständnis ein, das sie einander noch einmal näher brachte. Für Julia schien der Himmel über den Schwarzwaldhöhen in ein noch strahlenderes Blau getaucht.
All diese beglückenden Gefühle stürmten auf sie ein, als sie nach dem Abendessen, das die beiden mit Oma Winter zusammen eingenommen hatten, auf der Bank im Garten saßen. So eng aneinandergeschmiegt, dass das gleißende Licht des Mondes sie als einen Schatten zeichnete.
»Bist du glücklich?«, fragte Leon leise, bevor er Julia einen Kuss auf den Scheitel drückte.
»Sehr.« Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.
Die Nähe zu der geliebten Frau hatte die Dunkelheit wieder vertrieben, die sich vor dem Abendessen auf sein Gemüt gelegt hatte. Und zwar durch eine Mail aus Düsseldorf. Ich wollte Fakten, keine Schwärmereien, hatte sein Vater ihm geschrieben. Komm sofort zurück.
Ja, er würde zurückfahren. Und auch morgen schon, aber das im eigenen Interesse. Und im Interesse von Julia. Bis jetzt hatte er jedoch noch nicht den Mut gefunden, ihr von seiner kurzfristigen Abreise zu erzählen. Eigentlich wollte er sich ja gar nicht von ihr trennen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich lebendiger, als er