Mit vor Freude klopfendem Herzen lehnte Leon sich auf dem Beifahrersitz zurück.
So war das also mit dem sprichwörtlichen Glück im Unglück. Sein Unfall hatte ihm eine Verabredung mit dieser faszinierenden Frau eingebracht. Heute Abend würde er seinen Bericht nach Düsseldorf mailen. Sein Vater würde zufrieden sein – und er noch ein paar Tage länger hier im Ruhweiler Tal bleiben können. Immerhin war er hier in ärztlicher Behandlung, ein Argument, vor dem sich selbst sein alter Herr schlecht verschließen konnte.
Wieder betrachtete er die Landschaft um sich herum. Eine warme Woge schwappte durch sein Inneres. Ein neues Gefühl. Vielleicht würde es ihm hier so gut gefallen, dass er sogar für länger bleiben würde. Womöglich sogar für viel, viel länger?
*
»Natürlich müssen wir diesen Service anbieten«, sagte Oma Winter am nächsten Morgen stets eifrig bemüht, es ihren Gästen recht zu machen. »Außerdem ist Herr Schubert doch ein sehr sympathischer Mensch. Und als Mann …« Sie schmunzelte. »Mach dir mal einen schönen Tag, mein Schatz. Du hast ihn dir verdient hier in dieser Einöde.«
Dass sie es ihren Gästen recht machen wollten, war für Julia nicht das ausschlaggebende Argument, den Ausflug mit Leon Schubert zu unternehmen. Nein, sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig auf diesen Mann war. Er reizte sie auf eine Art, die sie noch gar nicht richtig einordnen konnte. Im Grand Hotel in Baden-Baden hatte sie viele attraktive, charmante, junge Männer kennengelernt. Aber Leon war anders. Sie vermutete, dass er mehr zu bieten hatte als nur Charme, gute Manieren, einen schicken Wagen und vielleicht Geld. Und genau dieser Vermutung wollte sie an diesem Nachmittag auf die Spur kommen. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich vielleicht in ihm täuschen könnte, machte sich jetzt bereits Enttäuschung in ihr breit, die ihr deutlich machte, dass sie ihm innerlich schon viel näherstand, als ihr Verstand ihr erlaubte.
*
Während sich Julia und ihre Großmutter unterhielten, saß Leon Schubert im Wartezimmer des Landdoktors. Er saß dort nicht allein. Wieder einmal herrschte in der Praxis Hochbetrieb. Er war jedoch der Einzige, der auf einem Sitzring thronte, was die Neugier der anderen Patienten weckte. So kam er flugs ins Gespräch mit ein paar Bauern. Er nutzte die Gelegenheit, sich von den Einheimischen etwas über die Umgebung erzählen zu lassen wie auch über die wirtschaftliche Situation des Tales, ansässiges Handwerk, den Tourismus.
»Wir haben hier genug Hotels und Pensionen und sind froh, wenn keine mehr dazukommen«, meinte einer der älteren Männer zu ihm. »Das Tal soll seine Idylle behalten.«
»Der Gemeinderat wird keinem neuen Hotelbau zustimmen«, sagte ein anderer, der sich als dessen Mitglied vorstellte.
»Viele leben hier von der Holzwirtschaft«, meinte ein vierschrötiger Grauhaariger. »Genau wie ich. Das bringt viel mehr ein als Touristen und man hat weniger Ärger.«
»Und von der Jagdpacht«, sagte das Gemeinderatsmitglied. »Vermögende Geschäftsleute aus ganz Deutschland wie auch der Schweiz pachten bei uns ein Revier. Der Schwarzwald ist für den hohen Wildbestand bekannt.«
»Der Nächste bitte«, unterbrach Schwester Gertrud, die von den Patienten hinter vorgehaltener Hand der ›Praxisdrache‹ genannt wurde, nun in energischem Ton das muntere Geplauder. »Wer ist dran?« Ihr strenger Blick machte die Runde.
»Lass ruhig den jungen Mann vor, wenn alle damit einverstanden sind«, schlug das Gemeinderatsmitglied gutmütig vor. »Er will gleich einen Ausflug machen, wie er uns erzählt hat, und hat’s bestimmt eiliger als wir.«
Leon bedankte sich herzlich.
Welch nette Menschen, dachte er. Unter ihnen ließ sich bestimmt gut leben. Und interessante Neuigkeiten hatte er erfahren, die ihm vielleicht irgendwann einmal zugute kommen konnten.
*
Julia hatte den Ausflug bis ins Kleinste durchgeplant und eine der schönsten Routen ausgewählt. Statt irgendwo mit Leons Sitzring einzukehren, hatte sie ein Picknick vorbereitet. Auch der Ort, wo sie dieses einnehmen wollten, stand schon für sie fest.
Am späten Mittag brachen sie auf.
»Schade, dass wir nicht mit meinem Wagen fahren können«, sagte Leon, während er neben seinem Sportwagen stehen blieb, den Julia inzwischen mit Hilfe des Nachbarn zur Pension abgeschleppt hatte. »Aber der hat eine viel zu harte Straßenlage für mich in meiner derzeitigen Situation.«
»Und einen platten Hinterreifen«, erinnerte ihn Julia.
Er tippte sich an die Stirn. »Stimmt.«
»Bei meinem Jeep sind die Fenster zu öffnen. Das gibt Ihnen so etwas wie ein Cabrio-Feeling«, tröstete Julia ihn.
»Wollen wir uns nicht duzen?« Leon sah sie von der Seite an, bevor sie losfuhren. »Eigentlich sollte die Frau ja das Du anbieten, aber …«
Ja, aber? Er fand so schnell keine Begründung, warum er diese höfliche Norm brach. Außer der, dass er ihr durch diese vertraute Anrede wieder ein Stückchen näher kommen wollte. Nie zuvor hatte ihn eine Frau so interessiert. Er hatte Freundinnen gehabt, aber keiner von ihnen war es gelungen, sein seelisches Gleichgewicht so total durcheinanderzubringen wie Julia.
»Einverstanden.« Sie ließ den Motor an.
»Wohin geht es denn?«, fragte er erleichtert.
»Überraschung.«
»Ich liebe Überraschungen.«
*
Die Wiesenkuppen waren teilweise schon abgeerntet und von Wärme getränkt. Der Geruch frisch geschnittenen Grases lag in der Luft. Zu beiden Seiten der Landstraße standen Bäume, zwischen deren Blätter rubinrote Kirschen glänzten.
Zuerst sprachen Julia und Leon nur wenig miteinander. Beide genossen das Gefühl, den Wagen einfach laufen zu lassen und den anderen neben sich zu wissen. Sie passierten den Kandel, tuckerten eine Zeit lang gemütlich hinter einem Traktor her, bogen in St. Peter ab und sahen bald schon die Tannenhöhe vor sich aufragen, hinter der sich der Titisee versteckte. Immer wieder eröffneten sich ihnen herrliche Aussichten über Täler und erhabene Schwarzwaldberge. Leon konnte sich nicht beherrschen, seine Begeisterung über die Landschaft kundzutun. Und Julia dankte ihm innerlich dafür. Sie entdeckte die Schönheit ihrer Heimat wieder neu mit seinen Augen.
Sie fuhren durch Titisee, wo so viel Touristenrummel herrschte, dass sie einmütig beschlossen, schnell wieder das Weite zu suchen.
»Wollen wir irgendwo einkehren?«, fragte Leon, als sie den Ort hinter sich gelassen hatten.
»Im Kofferraum fährt ein Picknickkorb mit«, verriet sie ihm nun. »Ich dachte …«
Er lachte. »Du dachtest an den Sitzring.«
»Genau.«
»Ein Picknick finde ich klasse. Das ist mal etwas anderes. Mit meinem Großvater habe ich oft ein Picknick gemacht, wenn wir geangelt haben.«
Julia spitzte die Ohren. Zum ersten Mal erzählte Leon etwas aus seiner Vergangenheit. Sie nahm sich vor, im Laufe des Tages noch einmal darauf zurückzukommen.
»Ich kenne einen schönen Ort, wo wir essen können«, sagte sie.
Er lehnte sich zurück.
Herrlich war es! Es tat gut, so gefahren zu werden, mit Julia so nah neben sich. Die Fahrt hätte für ihn ewig dauern können. Auch die Sonne gab ihr Bestes, und als sie in einen Wald eintauchten, fielen ihre Strahlen wie goldene Fäden durch das Geäst. Nach ein paar Metern bog Julia in einen schmalen Weg ein. Leon war zumute, als würde sich vor ihm das Paradies eröffnen. Der überwucherte Pfad, der gerade so breit war, dass der kleine Jeep Platz hatte, führte auf eine Lichtung zu, auf der eine Hütte stand. Vor ihr breitete sich ein See aus, der wie blankes Silber funkelte. Die Luft roch nach Wasser, Moos und Harz.
»Wo sind wir denn hier?«, fragte er gleichermaßen erstaunt wie begeistert.
»Ein Geheimtipp«, erwiderte sie mit verschwörerischer