»Da bin ich aber gespannt.«
Er stand auf. »Komm mit mir. Ich entführe dich.«
»Mit verbundenen Augen?«
»Ohne. Ich will, dass du deinen klaren Blick behältst, um eine klare Entscheidung zu treffen.«
»Ich habe doch gerade eben schon eine klare Entscheidung getroffen.«
»Gegen etwas. Jetzt steht eine Entscheidung für Etwas an.«
Sie lachte, schüttelte den Kopf und umarmte ihn wieder. »Du bist wie eine Wundertüte. Immer etwas Neues.«
Zärtlich glitt sein Blick über ihr Gesicht. Dabei strich er ihr mit sanfter, federleichter Bewegung das Haar aus der Stirn.
»Aber immer etwas Gutes. Das verspreche ich dir.«
*
»Fahren wir wieder zu dem Hochplateau?«, fragte Nicole.
Sie erkannte die Strecke durch den Wald wieder.
Daniel nickte stumm.
Zu seinem Lieblingsplatz, dachte sie versonnen. Dabei schob sie ihre Hand in seine. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Sie ahnte, dass dieser Ausflug eine besondere Bedeutung hatte.
Der Weg, der jetzt durch saftige Wiesen führte, auf denen Kühe weideten, endete vor der lang gestreckten Ebene, die um diese Jahreszeit ein Blütenteppich bedeckte. Wie bei ihrem ersten Besuch hier empfand sie den Duft der violetten und weißen Taubnesseln als betörend. Disteln überragten weiße Moosblumen, die wie kleine Poster die Erde bedeckten. Darüber legte Wiesenschaumkraut einen zartlila Schleier. All diese Einzelheiten nahm sie heute noch viel bewusster wahr als beim letzten Mal. Und aufs Neue faszinierte sie die Aussicht von hier oben. Das Tal unter ihnen, die erhabenen schwarzen Wälder, der weite Horizont. Ja, hier konnten sich Herz und Geist leicht und frei fühlen, hier verstellte nichts den Blick.
Sie spürte, wie Daniel den Arm um ihre Schulter legte und sie näher an sich heranzog. So standen sie da, ließen sich den Sommerwind um die Nase wehen.
»Ich habe etwas für dich«, sagte Daniel schließlich, als er sie losließ.
Er zeigte aufs Gras. Sie setzten sich. Dann zog er eine Schachtel aus der Jeanstasche, so klein wie eine Streichholzschachtel. »Für dich.«
Sie ahnte, dass er ihr nun ein ganz persönliches Geschenk machen würde, und sie begann innerlich zu zittern vor Aufregung.
»Wir kennen uns erst kurz, aber ich weiß, dass wir zusammengehören«, sprach er weiter. Dabei fesselte sein Blick ihren. »Ich möchte dir mit diesem Geschenk zeigen, dass du nicht nur in Ruhweiler willkommen bist, wie ich gesagt habe, sondern auch in meinem Leben. Jetzt musst du dich nur noch entscheiden, ob du auch in deinem Leben einen festen Platz für mich hast.«
Ihn anzusehen und zu wissen, dass sie morgens an seiner Seite aufwachen würde, nicht nur hin und wieder, sondern für alle Zeiten –, ja, das wollte sie.
Sie lächelte ihn an und legte all die Liebe, die sie für ihn empfand, in ihren Blick.
»Ja«, sagte sie nur schlicht.
Daniel reichte dieses eine kleine klare Wort. Denn als er sie küsste, spiegelte sich in ihren wunderschönen Augen alles Glück der Welt.
*
Seit diesem Tag trug Nicole einen goldenen Ring mit einem herzförmig geschliffenen Stein am Finger. Bei ihrem nächsten Besuch in der Landarztpraxis fiel Matthias dieses schöne Stück sofort ins Auge. Die junge Frau bemerkte seinen aufmerksamen Blick. Sie streckte ihm die Hand entgegen und sagte voller Stolz: »Den hat Daniel Geißle mir geschenkt.«
Nun gab es kein Halten mehr für Nicole. Sie vertraute dem Landarzt an, was sich in ihrem Leben ereignet hatte.
»Ich habe das Ballett aufgegeben. Ich kehre nicht mehr auf die Bühne zurück. Mein Ballettdirektor weiß auch schon Bescheid. Daniel und ich wollen ein Haus bauen, in dem wir, die Liebe, das Leben und das Lachen wohnen werden. Und natürlich Kinder.«
»Das hast du schön ausgedrückt«, erwiderte Matthias.
Ihre Worte berührten ihn. Sie drückten so viel Gefühl, so viel Empfindsamkeit aus. Diese Eigenschaften mochten neben tänzerischer Technik auch zu ihrem Erfolg als Primaballerina beigetragen haben, aber waren sie auf der Bühne nicht schon viel zu lange verschleudert worden? Eine Frau wie Nicole durfte nicht einsam leben. Sie hatte anderen Menschen so vieles zu geben.
Nicole verstummte, schnappte hörbar nach Luft. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie war angekommen am Ziel ihrer heimlichen Träume. Dennoch fühlte er sich als ihr behandelnder Arzt verpflichtet, ihren Tatendrang ein wenig zu stoppen.
»Das klingt alles wunderbar«, sagte er mit warmherzigem Lächeln. »Du solltest dich jedoch erst einmal auskurieren. Auch wenn du dich jetzt so fühlst, als wären dir plötzlich Flügel gewachsen, hat sich dein Körper noch nicht erholt.« Er schwieg einen Moment, sah sie bedeutsam an und fügte hinzu: »Eines beruhigt mich jedoch. Du bist in guten Händen. Niemand weiß darum so gut wie Daniel. Er hat ja selbst diese Phase durchgemacht. Besser als ich wird er dir den richtigen Weg aufzeigen können.« Dann rieb er sich die Hände und stand auf. »So, und jetzt wollen wir wieder etwas für deine Füße tun. Bereit für die nächste Injektion?«
*
Als Matthias in dieser Mittagspause das Wohnhaus betrat, sah seine Frau ihm auf den ersten Blick an, dass etwas geschehen sein musste.
»Du schaust so verklärt«, stellte sie fest, nachdem sie ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. »Liegt das an dem Bratenduft, der hier in der Luft liegt?«
Ihr schelmischer Blick verriet, dass sie daran selbst nicht glaubte.
»Es gibt Neuigkeiten von Nicole«, sagte Matthias.
»Erzähl.«
Während die beiden sich an dem Schweinebraten mit Knödeln gütlich taten und Lump unterm Tisch das Wasser im Maul zusammenlief, gab Matthias das Gespräch mit seiner Patientin wieder.
»Nicole hat ihre Karriere endgültig beendet?« Ulrike sah ihn mit großen Augen an.
»Ja. Nur ihre Mutter weiß es noch nicht. Sie will es ihr sagen, wenn Frau Konzack von der Kreuzfahrt zurück ist.«
»Wer hätte das gedacht«, staunte Ulrike. »Daniel und Nicole.« Ihr Blick schweifte von der Terrasse aus in die Ferne in das lichte Blau. »Es könnte klappen zwischen den beiden«, sagte sie in nachdenklichem Ton. »Sie haben den gleichen Weg hinter sich, kennen die gleichen Sorgen und haben die gleichen Träume. Ich freue mich für die beiden.« Ihre Augen strahlten Matthias an.
Und wieder einmal fiel ihm auf, welch wunderschöne Augen seine Frau hatte.
»Ja, ich wünsche es den beiden auch«, sagte er. Dabei hielt er ihren warmherzigen Blick fest. »Wenn man weiß, wie sich das Glück anfühlt, möchte man am liebsten auch alle anderen glücklich sehen.«
Ulrike ergriff über den Tisch hinweg seine Hand, zog sie zu sich herüber und drückte einen zärtlichen Kuss darauf. Sie hatte die versteckte Liebeserklärung ihres Mannes an sie verstanden.
»Nicole wird im Sportgeschäft mithelfen, damit Daniels Mutter ein bisschen mehr Zeit hat«, erzählte Matthias weiter.
»Das gönne ich Marianne. Sie hatte mir vor noch gar nicht allzu langer Zeit anvertraut, dass sie eigentlich viel lieber etwas mehr mit ihrem Lebenspartner unternehmen möchte, aber Daniel in der Aufbauphase des Geschäftes natürlich auch nicht allein lassen will.«
»Marianne will den beiden ein Grundstück schenken, auf dem sie bauen wollen.«
»Und wann wird geheiratet?«, erkundigte sich Ulrike voller Neugier.
»Danach habe ich sie nicht gefragt. Aber bestimmt wird ihre Hochzeit nicht lange auf sich warten lassen.«
*
Während das Arztehepaar nach dem Mittagessen auf der Terrasse