Grenze. Man kann von der Grenzbarriere, wo die große Chaussee aus dem einen ins andere Land läuft, die Spitze seines Kirchturmes sehen. Und wer nur die Spitze des Kirchturmes seiner Heimat mit seinen Augen sieht: was sieht der mit seinem Herzen!
Wie oft stand Anna Emeljanowa an der Barriere und sah hinüber nach ihrer Heimat mit der unendlichen Sehnsucht des Russen, der wegen revolutionärer Umtriebe aus Rußland verbannt ist und nur über die Grenze blicken, sie aber niemals mehr überschreiten darf. Gewiß: man kommt mit einem falschen Paß schon wieder nach Rußland hinein, aber wer der russischen politischen Polizei von 1905 her so gut bekannt ist wie Anna Emeljanowa, darf es nur unter besonderen Umständen wagen, wenn er nicht »für die Sache« verloren sein will. Und Anna Emeljanowa wird sich »für die Sache« nur opfern, wenn es »der Sache« Nutzen bringt.
*
Ich lernte Anna Emeljanowa vor zwei Jahren in Genf in einem Cafégarten kennen. Man träumte über den See hin, ließ sich den Schleier des Mont Blanc vor die Stirn wehen und wandte seine Blicke, angeödet von der braunen Langeweile des Salève, weg: zum violetten Wasser, zu den hellblau schimmernden Schwänen am Ufer, die man in Gedanken streichelte. Schwäne darf man nur in Gedanken streicheln. In Wirklichkeit beißen sie und sind sehr bösartig.
»Sehen Sie,« sagte Anna Emeljanowa plötzlich – wir hatten das Gleiche gedacht – »Rußland ist für uns Revolutionäre ein solcher Schwan ...«
Und sie fuhr mit einer zärtlichen Handbewegung durch die Luft.
Anna Emeljanowa ist verheiratet.
Ich lernte auch ihren Mann kennen: einen sanften, schwarzbärtigen, und wie es hieß, sehr talentvollen Maler.
Anna Emeljanowa hat keine Kinder. Und dabei ein wundervoll mütterliches Herz wie viele russische Revolutionärinnen. Stundenlang spielt sie mit verdreckten Kindern in rohen und unreinlichen Gassen und geht zu ihren Eltern auf die Wohnung.
Anna Emeljanowa darf keine Kinder haben. Die »Sache« will es. Sie darf sich an kein weltliches Glück binden.
Ihr Gatte ist natürlich ebenfalls Revolutionär. Immer müssen sie warten, daß »die Sache« sie plötzlich ruft. Und dann müssen sie bereit sein. Sofort. Ohne Verzug. Sie besitzen nur das Allernotwendigste. Eine kleine, möblierte Wohnung. Zwei Zimmer. Ärmlich und asketisch eingerichtet. Selbst an Büchern nur das Notdürftigste. Etwa: Bakunin, Tolstoi. Eine Kiste Zigaretten. Einen Samowar. Und einen Teller süßliche Nußkuchen.
»Rußland ist so groß,« sagte Anna Emeljanowa immer, »muß man es nicht lieben?«
Und ihre Gedanken irrten wohl zu der Chausseebarriere an der preußisch-russischen Grenze, an der sie manchmal ihrem alten Vater die Hand schütteln und die Kirchturmspitze ihrer Heimat sehen durfte.
Ich hatte lange von Anna Emeljanowa nichts gehört. Da kam neulich eine Karte aus Genf. Darauf standen nur diese Worte:
»Die Sache ruft. Leben Sie wohl. Anna Emeljanowa.«
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Wie man in russischen Zeitungen liest, finden in den russischen Lazaretten Teeabende statt. Es wird gesungen, musiziert, rezitiert und von den Leichtverwundeten auch ein wenig gelacht und Schabernack getrieben. Die Schwestern sind angehalten, sich auf das angelegentlichste mit den geistigen Bedürfnissen der Leute zu beschäftigen. Die Schwestern und die Verwundeten sprechen sehr viel und sehr leise miteinander – so leise oft, daß man es am nächsten Bett nicht hört – und ich glaube, in einer dieser Schwestern ... Anna Emeljanowa zu erkennen.
Die Witwe Pulko
(Für Hanns Schmidt)
Ich bin mit der Witwe Pulko gut bekannt, um nicht zu sagen befreundet. Sie wohnt in Wismar, am Hafen, nicht weit von jener kleinen, verräucherten Kneipe, die »König Christian« oder so ähnlich heißt und in der es für 30 Pfennig einen Grog und einen Glühwein gibt, wie auf der ganzen Welt sonst nicht: ein Wein, der wirklich glüht und glühen macht – ein Glühwein also, der (wenn diese Redensart nicht ein wenig deplaziert wäre) sich gewaschen hat.
Es ist einige Wochen her, daß ich wieder einmal in Wismar war. Wismar ist das Sinnbild einer blonden und blauäugigen nordischen Stadt. Die Backsteingotik der Kirchen und alten Häuser macht sie schwer, trotzig und massiv. Eine Stadt, die weiß, was sie will, und nur will, was sie kann. Eine alte Stadt, voll geschweifter Straßen, in denen braune Gebäude, wie die gotische alte Schule, der erratische Block der Georgenkirche oder der von der Renaissance stilisierte Fürstenhof einen wie steinerne Hunde anfallen. Eine »beschränkte« Stadt, deren steife und kalte Strenge durch vorzügliche warme Grogs angenehm gemildert wird, die einem wie Kinderballons leicht und lustig ins Hirn steigen. Die Menschen und die Kirchen stoßen nicht in den Himmel: die Türme sind abgestumpft. Die stumpfen Türme und die stumpfen Menschen geben der Stadt eine gemessene Haltung und gedrungene Geschlossenheit.
Ich saß mit meinem Freunde Hanns Schmidt, der gerade vom Osten, von Iwangorod, zurückgekommen war, im »Alten Schweden« beim Bier. Wir sahen durch die Scheiben hinaus auf den Marktplatz. Vor der Wache standen breitbeinig ein paar Soldaten. Am Schöpfungsbrunnen wandelte ernsthaft ein Liebespaar. Ältere Herren betrachteten aus vorsichtig geöffneten Fenstern prüfend das Wetter am Himmel. Kinder verschwanden mit eiligen Beinen spielend um eine Ecke. Frauen, grau gekleidet, durchschritten mit großen Körben diagonal den Platz.
Ein dumpfes Geräusch wie sehr ferner Donner ließ die Luft leise klirren.
»In Swinemünde oder Kiel oder auf der See draußen haben sie wieder Übungsschießen«, sagte Hanns. Dann lachte er. Er lachte wie eine Lachtaube. Gurrend. Auf der Schule habe ich ihn schon immer wegen seines Lachens gern gemocht. »Die Wismarer alten Tanten glauben immer, es seien Russen, die mit ihrer sogenannten Ostseeflotte da draußen herumschießen. Und sie hätten es auf den Wismarer Wasserturm abgesehen ...«
Wir tranken, allen alten Tanten zur Beruhigung, auf ihr Wohlergehen.
Die Dämmerung hängte sich wie eine Spinne zwischen die vielen zierlich aufgetakelten Briggs und Schoner, die zum Schmuck der Kneipe oben an der Decke angebracht waren.
»Du,« sagte ich, »Hanns: es wäre Zeit, die Witwe Pulko über die allgemeine Weltlage zu befragen. Was meinst Du?«
Und wir schlichen durch die dämmernden Gassen zur Witwe Pulko, die unten, am Hafen wohnt, in einem kleinen einstöckigen Haus, in einer feuchten kalten Stube, nach hinten heraus – die Witwe Pulko, mit der ich gut befreundet bin, die mir, ganz Wohlwollen und Biederkeit, unermüdlich ein langes Leben, Ruhm, Ehre, eine unverhoffte Erbschaft, eine erfolgreiche Reise über das große Wasser, eine millionenschwere Heirat mit der Tochter eines ungarischen Magnaten (amerikanische Millionärinnen sind seit dem Krieg bei den Wahrsagerinnen offenkundig nicht mehr beliebt ...) und was dergleichen erfreuliche Dinge mehr sind, zu prophezeien pflegt.
Ihre Prophezeiungen haben, im Gegensatz zu denen großstädtischer Vertreterinnen der geheimen Kunst, den großen Vorzug der Billigkeit. Sie kosten durchschnittlich nur 50 Pfennig, und sind darum doch nicht weniger wahr als die Wahrsagungen zu 5, 10 und 20 Mark – Preise, wie man sie wahrsagenden »Damen der Gesellschaft« in Berlin zu zahlen pflegt.
Die Witwe Pulko hat verschiedene Methoden. Man kann ihr eine gewisse Reichhaltigkeit ihrer geistigen und manuellen Gaben nicht absprechen. Sie liest aus dem Kaffeegrunde die Zukunft. Aus behutsam aufgeschichteten Sand- oder Salzhäufchen liest sie die Vergangenheit. Sie kennt das Zigeuneralphabet. Sie beherrscht die deutsche, spanische und französische Kartenkunst. Sie ist im Besitze eines polnischen Traumbuches. Sie hat die Geheimnisse des 13. Buches Moses' erschlossen.
Als wir bei der Witwe Pulko eintraten, saß sie unter der Petroleumlampe und studierte den »Ostseeboten«.
»Ja, Witwe Pulko, da bin ich mal wieder,« ich verneigte mich höflich, »und möchte mir wieder mal erlauben, Sie zu konsultieren.«
Damit legte ich ein Markstück auf