Klabund

Gesammelte Erzählungen von Klabund


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Broschüre »Der Einfluß des Hochgebirges auf den Intellekt« geschrieben hat.

      Das Schloßhotel Mariahalden in Weesen ist ein erstklassiges Hotel und liegt auf einer steinernen Terrasse etwa 30 Meter über dem See. Es wird sehr viel von Engländern frequentiert und macht einen langweiligen Eindruck. Einige hölzerne Gestalten, bei deren bloßem Anblick einem schon das Gähnen kam, lagen bei unserer Ankunft wie Kroquethämmer im Garten zerstreut; bei näherem Zusehen sah man sie in Hängematten liegen.

      Das Abendessen war das übliche Abendessen der erstklassigen Hotels: Suppe, Scholle mit Remouladensauce, Rostbeef mit verschiedenem Gemüse und eine formlose Nachspeise. Ich trank eine halbe Flasche roten Waadter dazu, Annette nahm einen Gießhübler.

      Wir gingen herunter an den See.

      Ich habe die Berge nachts sehr gern, wenn man sie nicht sieht und hinter den Lichtern einer fernen Ortschaft nur ahnt.

      Ein weicher Wind strich zwischen den Kastanien. Vor einem Café saß jemand mit dem Rücken gegen die Straße und bestellte schnarrend ein Vanilleeis.

      »Es ist doch ziemlich warm,« sagte Annette.

      Ich hing an ihrem Arm. Sie stützte mich.

      Die Wellen plätscherten leise, wie wenn jemand aus Versehen die Wasserleitung nachts laufen läßt.

      Von einem Kahn draußen auf dem See schaukelte Musik zu uns. Ein Walzer.

      »Die Wellen tanzen Walzer«, sagte Annette.

      Und wirklich: ich hörte das auch.

      »Wenn man Musik hört, bekommt man Sehnsucht nach dem Tode«, sagte Annette.

      Sie sagte es leichthin. Aber wie Altweibersommer, wie Herbstschleier, auf denen unsichtbare Spinnen sitzen, fingen sich die Worte in meinem Gesicht.

      Sie weiß nicht, wie gern ich sterben würde, wenn ich nicht sie verlassen müßte und wenn ich einen anständigen Tod für mich wüßte. Soll ich als alter Kavallerieoffizier (»alter« Kavallerieoffizier! ich bin 31 Jahre alt) im Bett sterben. Nicht getötet werden – sondern den Tod erdulden? Wenn doch Krieg würde!

      Ich darf es Annette nicht erzählen, daß ich immer denselben Traum träume: ich sehe den Tod vor mir als goldenes Skelett, leuchtend auf schwarzem Grunde.

      Abschied

       Inhaltsverzeichnis

      Als Balder sie in der grauen Felduniform, eine Rose in der Hand, am Kragen die Gefreitenknöpfe, die ihm noch am Morgen verliehen worden waren, verlassen hatte und sein schlanker Schritt auf der Treppe verklungen war, dachte Lilli, grauenvoll verwirrt und wie auseinandergefallen, allerlei widersinniges und lächerliches Zeug. Tennis ... ja, wie lange hatte sie eigentlich nicht Tennis gespielt? Flogen da nicht immer Bälle durch die Luft, und wenn man zuschlug, schlug man nicht in die Sonne und schlug man nicht die Sonne übers Netz? Wo nur ihre Tennisschuhe steckten? Richtig: Rehbraten gab es heute abend. Zum mindesten: eine Art Rehbraten. Einen richtigen Rehbraten ißt man ja nur Sonntag mittag. Also wahrscheinlich Rehschäuferl. Oder Rehragout. Mit Klößen. Klöße. Das Wort haftete ihr und sie hatte es noch in Gedanken, als ihr schon die Tränen erlöst über die Wangen strömten. –

      Als sie sich ausgeweint hatte, ging Lilli auf die Straße. Aber kaum war sie zehn Schritt gegangen, da erschrak sie. Da ... jener feldgraue Soldat, welcher an Krücken humpelte ... war das nicht Balder? Sie stieß mit der Spitze ihres Sonnenschirms erregt aufs Pflaster, um zur Besinnung zu kommen. Wie töricht! Bal der war doch eben erst ins Feld ausgerückt ... konnte sie denn gar keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen?

      Sie verzweifelte: jeder Verwundete, der ihr begegnete, schien ihr Balder. Jener mit dem verbundenen Kopf. Jener Dragoner mit dem Arm in der Binde. Säbelhiebe! Daß es so etwas noch gibt: er hat einen Hieb mit dem Säbel bekommen. Würde der Arm steif bleiben? Herrgott im Himmel, hilf: daß der Arm nicht steif bleibt. Sie würde alles, alles für ihn tun, daß der Arm wieder gut würde, ihn jede Stunde verbinden, jede Minute bei ihm bleiben. O, und dann der Tag, an dem sie ihm wieder zuerst die Hand schütteln durfte! Balder!

      Sie mußte sich wenden und den Schleier über ihr Gesicht ziehen, denn ihre Augen begannen silbern und immer silberner zu glänzen. Nur nicht auf der Straße weinen.

      Als sie wieder aufzublicken wagte, kam ihr ein junger Leutnant entgegen. Kerngesund. Schlank wie Balder. In einer Gangart, der man den Kavalleristen anmerkte. Wenigstens einen, der viel zu Pferde sitzt. Er kam näher und sie erkannte, daß es ein Artillerist war. Sie freute sich, daß es ihr gelungen war, seine Truppengattung zu bestimmen. Das ist in der feldgrauen Uniform nicht immer leicht. Der Leutnant grüßte. Sie dankte. Beglückt. Mit einem Lächeln im Herzen. Ich kenne ihn, dachte sie, gewiß kenne ich ihn. Ich weiß im Augenblick nur nicht woher. Das ist ja auch so gleichgültig. Ich bin so froh, daß er nicht verwundet ist. Und daß er Balder so ähnlich sieht.

      Und wie sie nun langsam weiter schritt, da sah sie wieder einen Soldaten. Und wieder einen. Und noch einen. Und alle waren auf einmal gesund. Gingen ohne Krücken. Trugen keinen Arm in der Binde. Rauchten Zigaretten. Manche lachten sogar. Und alle sahen Balder ähnlich.

      »Balder!« sagte sie, und ihre Füße hatten wieder festen Halt.

      Sie stand am Odeonsplatz. Von der Theatinerhofkirche fiel ein Schwarm Tauben wie eine weiße Girlande sanft vor ihr nieder.

      Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche und zog eine kleine braune Düte hervor. Sie schüttete die Körner in die Hand und neigte sich leicht zu den Tieren herab.

      Drüben, von der Wache am Schoß, klang Trommelrasseln und Kommandorufe.

      »Balder!« sagte sie leise vor sich hin.

      Der Bär

       Inhaltsverzeichnis

      Diese Geschichte beginnt wie ein Märchen der Brüder Grimm. Es ist aber kein Märchen. Es ist auch keine rechte Geschichte mit dem nötigen Schlußpunkt: eine runde Geschichte etwa, rund und durchsichtig wie eine Glaskugel, mit einer schillernden Moral. Diese Geschichte ist nämlich (beinahe) wahr und hat sich zugetragen in der kleinen Stadt, in der ich kürzlich zu Besuch weilte. Sie ist nichts als eine traurige und lächerliche Arabeske zu dem erhabenen Ereignis des Krieges, das sich draußen (weit von hier, die kleine Stadt weiß nicht wo … ) abspielt.

      An dem Tage, an dem Deutschland an Rußland den Krieg erklärte, traf in der kleinen Stadt der weit-und weltberühmte Zauberer Francesco Salandrini ein, welcher dort eine Vorstellung seiner großen und geheimen Künste zu geben gedachte. Er vermochte Wasser in Wein und Wein in Wasser zu verwandeln. Er zog den Bauernburschen auf dem Lande und den verblüfften Jünglingen und den kichernden Fräuleins der kleinen Städte nur so die Taler aus Nase und Ohren und ließ sie klappernd in seinen schwarz polierten Zylinder springen, obgleich offensichtlich zutage trat, daß er selber nicht im Besitze eines einzigen dieser silbernen Dinger war. Er zerschlug in seinem bereits erwähnten Zylinder, dem man gewisse magische Kräfte nicht absprechen durfte, ein halbes Dutzend roher Eier und buk ohne Feuer und ohne Pfanne in nichts als eben diesem Zylinder einen veritablen wohlschmeckenden Eierkuchen.

      Herrn Salandrinis Gefährt, das mit einigen kleinen Fenstern versehen und ziegelrot angestrichen war, rollte, von einem schwermütigen und betagten Pferde gezogen, über die Oderbrücke rumpelnd in die Stadt ein. In seiner Begleitung befanden sich noch seine Frau: Bella, die Schlangendame, die schwebende Jungfrau, das überirdische Medium und eine Person, welche den prosaischen Namen Hugo führte.

      Herr Salandrini, der sich mit Weltgeschichte und Politik noch nie in seinem Leben befaßt hatte (und es auch fürder nicht zu tun gedachte, da er Steuern zu zahlen weder willens noch fähig war), verwunderte sich nicht wenig, die kleine Stadt in heller Aufregung zu finden. Alle Leute liefen durcheinander, die Kinder schrien und sangen, und die Frauen sahen besorgt aus den Fenstern.