den Haushalt sorgen, und so gab es einmal wieder Freiheit, denn diese hatte alle Hände voll zu tun und konnte sich nicht viel um die Kleinen kümmern. Während dieser Zeit schlief auch Ellens Unterricht fast ganz ein, statt dessen entstand ein erbitterter Wettkampf zwischen Erik und ihr, wer die schönsten Teufel zeichnen könnte. Da kam eines Tages Mariannes Freundin Hedwig Janssen dazu, die eine Pastorentochter war, und sagte mit ihrer etwas heiseren Stimme: »Du solltest doch den Kindern verbieten, immerfort Teufel zu malen, ich finde es wirklich nicht recht.«
Marianne verbot es, und nun hatte das Zeichnen allen Reiz verloren.
Abends lag Ellen lange wach im Bett, drüben am Tisch saß das Kindermädchen und nähte.
»Du, Lise, wer ist eigentlich der Teufel?«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil Hedwig gesagt hat, es wäre nicht recht, wenn wir ihn immer zeichneten.«
Lise versuchte ihr zu erklären: Ein böser Geist, von dem alles Schlimme herkam und der große Macht besaß.
Das Kind setzte sich im Bett auf und horchte gespannt. Zuletzt erzählte Lise ihr die Geschichte von einem Mann, der sich dem Teufel verschrieben hatte mit Leib und Seele. Dafür bekam er alles, was er wollte, aber zuletzt, als er sterben sollte, erschien der Böse, um ihn zu holen, und er mußte mit in die Hölle.
»So, aber jetzt sollst du schlafen, Ellen.«
Kais Krankheit dauerte sehr lange, und selbst die Kleinen fühlten die trübe, lastende Stimmung, die über dem ganzen Hause lag. Sie suchten sich alles mögliche auszudenken, was ihm Freude machte, denn sie hatten ihn alle sehr lieb.
Kai wollte Naturforscher werden, sein ganzes Zimmer war voll von Steinen, Schmetterlingen, ausgestopften Vögeln, und hinten im Garten stand ein verdorrter Baum, wo er tote Tiere für seine Skelettsammlung aufhängte. Was die Geschwister jetzt an verendeten Katzen, ertränkten jungen Hunden und anderem Getier fanden, kam an den Baum, und sie freuten sich heimlich auf die Überraschung, wenn er wieder aufstand.
Aber Kai stand nicht wieder auf – die Großen wußten es schon lange, daß er sterben mußte. Mama war blaß, sie hatte tiefe Ringe um die Augen und schalt nicht mehr so viel, und der Vater sprach kaum ein Wort.
Eines Vormittags spielten die beiden Jüngsten im Garten. Seit dem Frühstück hatten sie niemand von den anderen gesehen, und unten im Schloß war alles still.
Gegen Mittag kam Erik aus dem Haus, er setzte sich auf die eiserne Treppe, und Ellen hörte, daß er laut weinte. Sie rannten zu ihm hin und quälten ihn mit Fragen, aber er schluchzte nur immer lauter.
»Kai ist tot!«
Tot – Ellen empfand nur einen furchtbaren Schrecken, ein Gefühl von kalter, beklemmender Angst, wie sie es noch nie am hellen Tage gehabt hatte. Sie klammerte sich fest an Erik und weinte entsetzt mit. Detlev wurde auch bange, er wußte nicht, was das alles bedeuten sollte, und rief laut nach Mama. Statt dessen kam die alte Stina heraus, ihr Gesicht war ganz verstört und zusammengefallen – die Kinder hatten sie noch nie in Tränen gesehen.
»Ihr müßt ganz ruhig sein, ihr könnt jetzt nicht zu Mama.«
Dann ging sie mit ihnen durch den Garten. Sie saßen am Abhang dicht beim Schloßgraben, und Stina und Erik sprachen darüber, ob Kai wohl in den Himmel gekommen sei: ja, gewiß war er das – Kai war ja ein so guter Junge, hatte so viel gebetet, noch in den letzten Tagen – denn er wußte ja selbst, daß er nicht wieder gesund würde. Ellen hörte schweigend zu: wie konnten sie das so sicher wissen – und wie war es wohl im Himmel? Sie wußte sich nichts darunter vorzustellen, und dann kamen andere bange Gedanken: wenn sie selbst stürbe – sie käme gewiß nicht in den Himmel, weil sie so schlecht war.
Später kam Marianne und holte die Kinder ins Wohnzimmer. Dann gingen alle zusammen hinauf. – Alles war so still und unheimlich, Kai lag im Bett wie sonst, wie er die ganze Zeit dagelegen hatte, nur etwas blasser und mit gefalteten Händen. Ellen hatte ihren Vater an der Hand gefaßt; es war so sonderbar und so schrecklich, daß die Erwachsenen alle weinten und daß Kai wirklich tot war. Und wie konnte er im Himmel sein, wenn er doch hier tot auf dem Bett lag?
Die Mutter wußte den Tod ihres ältesten Jungen kaum zu verwinden. Lange Zeit hindurch war sie leidend und schwermütig und konnte es nicht ertragen, die Kinder viel um sich zu haben, die immer wieder von Kai sprachen und nach ihm fragten.
So wurde für die beiden Kleinen eine Gouvernante ins Haus genommen, und Ellen bekam nun regelmäßige Stunden, Tag für Tag, unerbittlich. Sie mochte immer noch nicht lernen, und es wurde ihr bitterschwer stillzusitzen. Einförmig liefen die Tage hin unter vielen Tränen und ewigem Nachsitzen.
Als Detlev größer wurde, fing er an mitzulernen; er war auffallend begabt und hatte die Schwester bald eingeholt. Man wurde sich nun darüber klar, daß Ellen wirklich dumm sei, und sie tröstete sich selbst damit: ich kann nun einmal nicht lernen. Aber im ganzen war Fräulein Anna gutmütig und hatte viel Geduld. Sie kam bald dahinter, daß Ellen für freundliche Worte zugänglicher war wie für Schelte, und sie vertrugen sich ganz gut miteinander.
Das Kind fühlte sich wie geborgen, wenn es nur dem Bereich der Mutter entfliehen konnte – mit Mama war es beständig, als ob man auf Eiern tanzte, jeden Augenblick ging eins kaputt. Wenn sie sich alle Mühe gab, nicht ungezogen zu sein, tat sie unfehlbar irgend etwas, was verboten war oder sich für ein kleines Mädchen nicht schickte. Öfters waren es allerdings auch schwerere Verbrechen, wo Ellen sich schuldig fühlte; aber um Verzeihung bitten und Reue zeigen waren Dinge, die sie nicht über sich gewann, wenn Mama böse war.
So war sie eines schönen Tages mit Detlev verschwunden, und stundenlang wurde nach den beiden Kindern gesucht. Gleich nach Mittag waren sie in den Garten gelaufen und von da auf die Koppeln. Drüben auf der »Freiheit« war Schützenfest, die Musik und die vielen Leinwandzelte lockten unwiderstehlich. Über den Wall, der nach dieser Seite hin das Gut abgrenzte, durften sie nicht hinaus, es war streng verboten, aber Ellen hatte bei dem verlangenden Hinüberschauen alles vergessen. Sie kletterte hinüber und wagte sich mit Detlev an der Hand in das Gewühl. Vor einer Schießbude traf sie ihren alten Freund Klaus Sörens, und das Wiedersehen erfüllte sie mit großer Seligkeit. Er kaufte ihnen Lebkuchenherzen, ließ sie Karussell fahren und zeigte ihnen alles, was zu sehen war. Besonders von den Seiltänzern waren sie nicht wieder wegzubringen, denn da waren fünf kleine Jungen, die sich in der Luft überschlugen und auf Kniestelzen tanzten. Neben dem Zelt stand ein grüner Wagen mit Blumenstöcken in den Fenstern – darin wohnten sie, sagte Klaus, und fuhren von einem Ort zum andern. In Ellen zuckte es förmlich – wie mußten die glücklich sein! Die ganze übrige Welt war für sie versunken und vergessen; es war nur gut, daß Klaus sie schließlich nach Hause schickte.
Und nun kam ein jäher Sturz aus allen Himmeln. Vor der Gartentür stand Mama: »Um Gottes willen, wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt?«
Detlev war so begeistert, daß er sich gleich verschwätzte, und Ellen sah ein, daß lügen nichts half. Aber erzählen wollte sie auch nicht, es war nichts aus ihr herauszubringen, nicht einmal mit Schlägen. Wie immer, mußte sie selbst die Rute holen, die unter dem Klavier auf einem niedrigen Notenpult lag. Während sie in das Halbdunkel unter dem Instrument hineinkroch, tanzten immer noch die bunten Bilder von der »Freiheit« vor ihren Augen. Dann ließ sie die Strafe über sich ergehen und biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Den Triumph sollte Mama nicht haben, die jedesmal ganz außer sich geriet über diesen stummen Eigensinn. Für den Rest des Tages wurde Ellen in die Kinderstube geschickt. Das Mädchen war ausgegangen, sie saß ganz allein in einer Ecke und sann Rache. Sie war wütend auf Detlev, der nie den Mund halten konnte – und daß immer alles Schöne verboten war – und Mama – nicht einmal die Hunde bekamen so viel Prügel. – Mama hatte wohl die Hunde auch viel lieber.
Das war nicht mehr auszuhalten, ihr Gesicht glühte vor Zorn und Aufregung. Immer nur Schelte und Schläge – nein, sie wollte lieber fortlaufen, gleich morgen früh fortlaufen. Und dann malte sich Ellen aus, wie sie immer den Deich entlang gehen würde, der sich so endlos in die Ferne schlängelte. Denn da mußte es hinausgehen in die Welt. – In eine große Pappschachtel packte sie ihre