Patricia Vandenberg

Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman


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Wendy hungrig wie ein Wolf war, konnte sie sich nicht konzentrieren. Helena schien sie geradewegs anzustarren, ein süffisantes Lächeln spielte um ihre schönen, vollen Lippen.

      Hanno bemerkte von alldem nichts. Er klappte die Karte zu und fragte Wendy nach ihren Wünschen.

      »Ich fürchte, ich kann mich nicht entscheiden«, redete sie sich heraus, und so wählte und bestellte er für sie.

      Als sie wieder allein waren, griff er nach ihren Händen und lächelte sie strahlend an.

      »Ich bin so froh, dass du hier bist.« Seine Stimme war heiser, und er zog ihre Finger an seine Lippen. Zu seiner großen Überraschung entzog Wendy ihm ihre Hände plötzlich.

      »Es tut mir leid, aber ich kann das nicht«, gestand sie und sah hinüber zu dem Portrait über dem Kamin. »Wo ich gehe und stehe, fühle ich mich von Helena verfolgt.« Sie griff nach ihrer Handtasche, die neben ihr auf der Bank lag, und stand auf.

      »Aber, Wendy, wo willst du denn hin?«, fragte Hanno sichtlich überrumpelt.

      »Ich weiß nicht. Irgendwohin, wo mich nichts an Helena erinnert«, erklärte sie schroff. »Bestimmt gibt es hier irgendwo eine Frittenbude. Elegant, wie Helena war, wird sie die wohl kaum betreten haben.« Bevor Hanno etwas erwidern konnte, stürmte sie an dem verdutzten Kellner vorbei aus dem Lokal.

      Die frische Luft schlug ihr ins Gesicht und kühlte die erhitzten Wangen. Im Laufschritt eilte Wendy die Straße entlang, bis sie tatsächlich einen Imbiss entdeckte. Dort stillte sie den größten Hunger und schmiedete einen Plan. An diesem Abend war es zu spät. Doch gleich am nächsten Morgen würde sie sich ein Taxi bestellen und abreisen, um Hanno Thalbach und seine Schwägerin Philomena nie wiederzusehen.

      *

      Als Teresa Berger am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sofort, dass sich mehrere Dinge verändert hatten. Wie durch ein Wunder waren die Schmerzen im Fuß wie weggeblasen. Das Fieber war deutlich zurückgegangen, und ihr Kopf frisch und klar. Allein der tonnenschwere Stein auf ihrem Herzen störte sie, und es dauerte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, warum er sich dort breitgemacht hatte. Doch viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, hatte sie nicht. Kaum hatte sie die Augen geöffnet und blinzelte ins helle Tageslicht, wurde sie auch schon von einer bekannten Stimme angesprochen.

      »Hey, Tessa, wie geht’s denn so?« Niemand anderer als Anian stand neben ihrem Bett. Trotzdem hätte Teresa ihren Bruder kaum erkannt.

      »Nanu? Was ist denn mit dir passiert?«, erkundigte sie sich und betrachtete ihn verwirrt. »Du siehst so verändert aus.« Mühsam setzte sie sich im Bett auf und musterte ihn eingehend.

      Anian war nicht nur beim Friseur gewesen und hatte die lange Mähne abschneiden lassen. Auch seine Kleidung hatte sich verändert. Statt des obligatorischen riesigen Shirts trug er ausnahmsweise einmal ein passendes, und auch die Jeans schlabberte ihm nicht um die muskulösen Beine. »Du hast ja eine richtig männliche Figur«, staunte Teresa über die breiten Schultern, die ihr Bruder bisher erfolgreich unter den angeblich coolen Klamotten versteckt hatte.

      Vor Stolz schoss ihm schlagartig das Blut in die Wangen.

      »Findest du?«

      »Ja, wirklich. Und jetzt sieht man endlich mal deine hübschen Augen und die schmalen Wangen. Alle Achtung, du bist ja ein richtig gut aussehender Kerl. Da muss ich glatt in Zukunft noch mehr auf dich aufpassen«, schmunzelte Teresa.

      »O Mann, dir scheint’s ja wirklich besser zu gehen«, entnahm Anian diesen Worten und setzte sich erleichtert auf die Bettkante.

      »Die Ärzte waren noch nicht hier. Aber ja, ich glaub, diesmal war die Operation erfolgreich.«

      »Werd aber bloß nicht gleich wieder übermütig. Du musst dich schonen!«, mahnte Anian streng.

      Trotz ihres Herzschmerzes zog Teresa belustigt eine Augenbraue hoch.

      »Nanu, das sind ja ganz neue Töne!« Sie wunderte sich immer mehr über die offensichtliche Verwandlung, die ihr Bruder innerhalb kürzester Zeit durchgemacht hatte. »Mal abgesehen davon, dass ich der Erholung nicht entkommen werde. Dr. Norden hat mir schon angekündigt, dass mich nach der Klinik auf jeden Fall ein mehrwöchiger Kuraufenthalt auf der Insel der Hoffnung erwartet«, erinnerte sie sich nach und nach an das Gespräch, das sie mit ihrem Arzt geführt hatte, nachdem sie am vergangenen Tag aus der Narkose erwacht war. Über diesen Erinnerungen verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht und machte einer neuen großen Sorge Platz. »Dabei hab ich ihm schon gesagt, dass das unmöglich ist. Ich werde dich auf keinen Fall wochenlang allein auf dem Hof lassen.« Eine kritische Falte stand zwischen ihren Augen. »Und jetzt komm mir ja nicht wieder damit, dass du kein Baby mehr bist«, fügte sie streng hinzu.

      Verlegen nagte Anian an der Unterlippe. Das war der Moment, in dem er versuchen konnte, seinen Fehler wiedergutzumachen. Wenn Teresa es denn noch wollte.

      »Natürlich musst du auf Kur gehen!«, erklärte er mit Nachdruck. »Ich will, dass du endlich wieder ganz gesund wirst. Schließlich hat dich die Sache mit Mama und Papa auch ganz schön mitgenommen. Ist ja nicht so, dass nur ich gelitten hab. Auch wenn ich das öfter mal gedacht hab«, räumte er bereitwillig ein und schaffte es kaum, seiner Schwester dabei ins Gesicht zu sehen. Noch immer schämte er sich fürchterlich.

      Diese Einsicht rührte an Teresas Herz.

      »Aber, Anian, was ist nur los mit dir?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. »So kenne ich dich gar nicht.«

      Doch Anians Gedanken waren schon weitergeeilt. Er wollte endlich hinter sich bringen, was er sich vorgenommen hatte, und knetete verlegen seine Hände.

      »Wenn du auf Kur bist und ich dann allein zu Hause bin …, eigentlich wär’s doch cool, wenn Marco doch zu uns ziehen könnte …«

      Schlagartig veränderte sich Teresas Gesichtsausdruck, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

      »Ich glaube, das ist keine so gute Idee«, sagte sie leise und kämpfte mit den Tränen. »Nicht nach dem, was du mir erzählt hast.«

      Jetzt wünschte sich Anian doch, dass sich ein großes Loch vor ihm auftun und ihn verschlingen würde. Er hatte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, die Wahrheit zu sagen, und nahm sich vor, nie mehr wieder zu lügen.

      »Na ja, weißt du … Die Sache mit dem Makler war vielleicht doch ein bisschen anders, als ich erzählt hab.«

      Teresa wischte sich mit dem Ärmel ihres Nachthemds eine Träne aus dem Augenwinkel.

      »Wie bitte?«, fragte sie dabei ungläubig. »Wie meinst du das?«

      Anian antwortete nicht sofort. Erst das Schlagen der nahen Kirchturmuhr erinnerte ihn daran, dass er demnächst gehen sollte, wenn er nicht zu spät zur zweiten Stunde kommen wollte.

      »Bitte sei mir nicht böse, aber ich hab gelogen«, sprang er schließlich doch über seinen Schatten und gestand die Wahrheit.

      »Du hast WAS?«

      »Ich meine, dieser Makler war wirklich da. Aber Marco hat klipp und klar gesagt, dass ein Verkauf für dich nicht infrage kommt. Nicht für alles Geld der Welt.«

      Dieses Geständnis regte Teresa so sehr auf, dass sie nicht länger ruhig im Bett liegen bleiben konnte. Nervös rutschte sie hin und her auf der Suche nach einer bequemen Position. Ihren Bruder ließ sie dabei nicht aus den Augen.

      »Warum hast du das getan?«, fragte sie so scharf, wie sie noch nie mit Anian gesprochen hatte. »Wie konntest du mir das antun, nach allem, was ich für dich auf mich genommen habe?«

      Schuldbewusst zog der junge Mann die Schultern hoch.

      »O Mann, was soll ich denn noch sagen, außer dass es mir leidtut?«, fragte er hilflos. »Mensch, Tessa, jetzt sei nicht so sauer. Du hast bestimmt auch mal Fehler gemacht, als du so alt warst wie ich«, setzte er sich zur Wehr.

      Schon lag Teresa eine deftige Antwort auf den Lippen, als ihr ein Erinnerungsfetzen in den Kopf schoss. Sie sah sich in Anians Alter,