hatte die Ahnungslose gespielt.
»Stimmt«, gestand sie schließlich leise und lehnte sich seufzend in die Kissen zurück. »Und einer davon hätte genauso verheerend ausgehen können wie deiner.« Erschöpft schloss sie die Augen. Die erste Frische des Morgens war verflogen, und wieder spürte sie ihre Schwäche. Selbst wenn die akute Gefahr gebannt war, würde es noch lange dauern, bis sie wieder ganz gesund und stark genug sein würde, um ihr Leben zu meistern.
»Aber es ist doch noch nicht zu spät«, versuchte Anian verzweifelt, seiner Schwester Mut zu machen. »Red doch mal mit Marco. Der findet die Idee bestimmt voll cool.«
Doch Teresa zögerte.
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir es doch besser so lassen, wie es ist«, seufzte sie. »Ich glaube sowieso, dass irgendwas nicht stimmt. Marco hat sich heute noch gar nicht bei mir gemeldet.« Sie lag mit geschlossenen Augen im Bett und dachte nach. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. »Sag mal, hältst du es für möglich, dass er von deiner Lüge erfahren hat?«, fragte sie Anian entgeistert.
Einen ganz kurzen heißen Moment lang war Anian versucht, noch einmal zu lügen. Doch der Augenblick verging, und er blieb stark.
»Er hat mitbekommen, wie ich mit dir geredet hab«, gestand er kleinlaut. »Deshalb ist er auch zu sich zurück nach Hause gezogen. Er denkt, dass du jetzt nichts mehr mit ihm zu tun haben willst.«
Ungläubig starrte Teresa ihren Bruder an. Er hatte eben das Todesurteil ihrer großen Liebe verkündet. Da nützte es auch nichts, dass Anian versicherte, sich mit Marco ausgesprochen und Frieden geschlossen zu haben.
*
Nach einer unruhigen Nacht war Wendy am nächsten Morgen schon früh auf den Beinen. So leise wie möglich, um nur ja Philomena nicht mehr auf den Plan zu rufen, stand sie auf und begann, ihre Sachen zu packen. Sie war fast fertig, als es leise klopfte.
»Wendy? Bist du schon wach?«, fragte Hanno Thalbach leise. Obwohl sie wusste, dass sie nicht ohne Abschied fahren konnte, erstarrte sie kurz. Dann gab sie sich einen Ruck und ging, um ihm zu öffnen.
»Guten Morgen, Hanno«, begrüßte sie ihren Gastgeber zurückhaltend. »Kannst du mir bitte ein Taxi rufen?«
»Das erledige ich schon«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Wieder einmal war Philomena aus dem Nichts aufgetaucht.
Ärgerlich fuhr Hanno herum.
»Es reicht jetzt, Philo! Findest du nicht, dass du schon genug angerichtet hast?«
Sie zog ein beleidigtes Gesicht und verschwand im Treppenhaus. Seufzend wandte sich Hanno wieder seiner Besucherin zu.
»Darf ich reinkommen?«, fragte er, und Wendy ließ ihn ein.
»Du reist ab?« Ungläubig starrte er auf die Reisetasche auf dem Bett.
Sein trauriges Gesicht zerriss ihr fast das Herz. Trotzdem stand ihr Entschluss fest.
»Hier ist kein Platz für mich, Hanno. Schau dich doch um.« Wendy hob die Arme und machte eine weit ausholende Geste.
»Das hier ist Helenas Heimat. Nicht nur die Möbel, die Bilder, das ganze Haus. Auch die ganze Umgebung. Philomena hat recht, wenn sie sagt, dass ich hier niemals mit dir allein sein werde«, sagte sie leidenschaftlich.
Hanno schien die Welt nicht mehr zu verstehen.
»Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun? Ich habe Helena geliebt, das weißt du. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich kann doch nicht einfach ihre Sachen wegwerfen, das Haus verkaufen und von hier weggehen?« Ratlos ließ er sich aufs Bett fallen.
Wendy stand mitten im Zimmer, das vollgestopft war mit Helenas Besitz. Hanno tat ihr unendlich leid. Und doch war er selbst seines Glückes Schmied. Genau wie jeder andere Mensch auch war er selbst verantwortlich für das Leben, das er führte. Seufzend setzte sie sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Oberschenkel.
»Natürlich könntest du, wenn du sie endlich loslassen, sie als vergangenen Teil deines Lebens akzeptieren und ihren Tod annehmen würdest. Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens in einem Mausoleum verbringen«, sprach sie eindringlich auf ihn ein. »So wirst du nie glücklich werden. Keine Frau der Welt wird das mitmachen. Außer Philomena vielleicht«, fügte sie vielsagend hinzu.
»Das ist geschmacklos«, beschwerte sich Hanno bitter. »Philomena ist meine Schwägerin.« Er sah Wendy erschüttert an. »Willst du damit sagen, dass wir keine Chance haben?«
Wendy haderte mit sich. Wieder rief sie sich die vergnüglichen, kurzweiligen Stunden ins Gedächtnis, die sie mit Hanno verbracht hatte. Er war wirklich ein interessanter, humorvoller und intelligenter Mann, in den sie sich nur zu gern verliebt hätte. So etwas geschah nicht mehr alle Tage. Schon gar nicht mehr in ihrem Alter.
Das Hupen des Taxis riss Wendy aus ihren Gedanken. Sie drückte Hanno einen Kuss auf die Wange, stand auf und griff nach ihrer Reisetasche.
»Manchmal ist Loslassen der einzige Weg zum Sieg. Du musst dein Leben verändern. Oder es verändert dich. Wenn du herausgefunden hast, ob du bereit bist, die Fenster zu öffnen und frischen Wind in dein Leben zu lassen, ruf mich an. Bis dahin wünsche ich dir alles Gute.« Sie lächelte ihm schmerzlich zu und verließ dann das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
*
Im gleichen Takt tönten die Schritte der beiden Läufer auf dem Asphalt. Und auch der Atem, der in der Kühle des Morgens in weißen Wölkchen vor ihren Mündern stand, ging gleichmäßig.
»Na los, schneller!«, forderte Raphael Hagedorn seinen Vater übermütig auf und zog das Tempo an. »Wenn ich den Marathon gewinnen will, muss ich mich ein bisschen mehr anstrengen.«
»Du musst doch nicht unbedingt gewinnen. Ich bin schon stolz auf dich, wenn du überhaupt ins Ziel kommst«, rief Stephan atemlos und spurtete hinter seinem Sohn her. Obwohl seine Schritte weit ausgriffen, hatte er Mühe, ihm zu folgen.
»Das glaub ich dir nicht«, sagte Raphael seinem Vater auf den Kopf zu.
Seit der Trennung seiner Eltern vor einem halben Jahr war sein bis dahin sorgloses Leben aus den Fugen geraten. Wie so viele Kinder und Jugendliche suchte auch Raphael die Schuld bei sich, litt unter Verlustängsten und wollte sich mit allen erdenklichen Mitteln unentbehrlich machen. Aus diesem Grund trainierte er auch heimlich härter, als sein Vater im Trainingsplan festgelegt hatte. Er wollte den Marathon unbedingt als jüngster Läufer gewinnen und Stephans unbändigen Stolz fühlen. »Du bist doch sonst so ehrgeizig.« Im Laufen drehte er sich um.
Stephan lag schon einige Meter hinter ihm, und Raphael lachte.
»Nicht so schnell. Ein alter Mann ist kein Schnellzug«, verlangte Stephan keuchend. »Außerdem will ich mich noch mit dir unterhalten. Ich muss dir unbedingt was erzählen.« Trotz der Atemlosigkeit klang seine Stimme gewichtig, und Raphael horchte auf.
Er drosselte das Tempo, bis sein Vater auf dem gekiesten Weg, der gesäumt war von Bäumen und lichten Sträuchern, neben ihm her trabte.
»Was gibt’s?«, fragte er mit belegter Stimme.
Stephan wusste, dass das, was er zu sagen hatte, nicht leicht sein würde für seinen Sohn. Trotzdem musste es sein.
»Ich habe eine neue Frau kennengelernt.«
Unbeirrt lief Raphael weiter. Doch Stephan kannte seinen Sohn gut genug, um zu wissen, dass ihn diese Neuigkeit zutiefst erschütterte. Bis zuletzt hatte Raphael gehofft, dass die Trennung nur vorübergehend sei, seine Eltern irgendwann wieder zusammenfinden würden.
»Na und? Was geht mich das an?«, fragte der junge Mann denn auch unfreundlich. »Ist doch deine Sache.«
»Das finde ich ganz und gar nicht«, gab Stephan zurück. »Auch wenn wir nicht mehr zusammenleben, möchte ich, dass du an meinem Leben teilhast. Genauso, wie ich auch weiterhin an deinem teilhaben möchte.«
Unwillkürlich hatte Raphael das Tempo wieder gesteigert, und Stephan hatte Mühe, ihm zu