»Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich eine Rosinenschnecke esse?«, fragte sie und griff gleichzeitig nach der Tüte. »Wenn du eh keinen Hunger hast …«
»Toll, jetzt isst du deine Geschenke auch noch selbst auf«, fuhr Danny sie entrüstet an.
Diesmal hatte Tatjana keine Lust mehr, sich provozieren zu lassen. Unbeirrt biss sie in das süße Gebäck und verspeiste es in aller Seelenruhe. Erleichtert spürte sie, wie der Hunger nachließ. Sie klopfte sich die Brösel von der schmalen gelben Sommerhose und stand auf.
»So schaffe ich es wenigstens in die Krankenhauscafeteria, ohne einen Schwächeanfall zu erleiden«, erklärte sie leichthin und beugte sich über ihren Freund, der mit leidender Miene im Bett lag. »Du hast übrigens noch vier süße Teilchen. Das sollte reichen, um genügend Endorphine für bessere Laune auszuschütten.« Damit drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Ach, nur zur Erinnerung: Endorphine sind übrigens Glückshormone.«
»Wo willst du hin?«, rief Danny, der ihre Absicht durchschaut hatte.
»Ich muss was Richtiges essen. Das solltest du auch tun, damit deine Laune besser ist, wenn ich wiederkomme.« Mit diesen Worten schlüpfte sie aus dem Zimmer.
Danny blieb allein zurück. Kaum hatte sich die Tür hinter Tatjana geschlossen, als er es auch schon bedauerte, seine schlechte Laune an ihr ausgelassen zu haben. Doch im Augenblick war es zu spät. Er musste sich gedulden, bis sie freiwillig zu ihm zurückkam. Dass das dauern konnte, wusste er aus Erfahrung. In der Zwischenzeit hatte er bereits mehrfach Bekanntschaft mit Tatjana Bohdes Stolz gemacht.
*
Nachdem Daniel Norden weggefahren war, blieb Olivia eine ganze Weile vor dem Haus stehen und betrachtete es sinnend. Sie bemerkte die schiefen Fensterläden, sah die Farbe, die von der Haustür abblätterte. Schon von außen erinnerte sie das ganze Haus an den trostlosen Ort, dem sie gerade den Rücken gekehrt hatte. Das Schlimmste aber war, dass es wirkte, als lebte dort jemand. Nach und nach verließ sie der Mut. Da sie aber nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte, gab sie sich schließlich einen Ruck und klingelte.
Eine ganze Weile geschah nichts, und schon überlegte Olivia, ob sie einfach versuchen sollte, irgendwie ins Haus zu kommen, als es drinnen verdächtig rumpelte. Ein unfeiner Fluch folgte, und schließlich wurde die Tür geöffnet.
Entgeistert starrte sie den unrasierten Mann im Bademantel an, der ebenso neugierig zurückstarrte. Er sah aus, als hätte er sich tagelang nicht aus dem Bett bewegt. Trotzdem lagen seine Augen in dunklen Höhlen.
»Dachte ich mir, dass du irgendwann hier auftauchst«, sagte der Mann rau und kratzte sich verlegen am Bauch. »Tut mir leid wegen deiner Mutter. Du siehst ihr ziemlich ähnlich.«
»Schön! Und wer bist du?«, fragte Olivia unbeeindruckt zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden vorzufinden, und schon gar nicht einen, der sie offenbar kannte. Dementsprechend enttäuscht war sie und funkelte den Fremden wütend an.
»Ich bin Paul, ein Freund von Christine. Hab sie gepflegt, bis sie vor ein paar Jahren ins Heim musste. Aber auch da hab ich sie regelmäßig besucht.« Während er das erzählte, winkte er Olivia durch das Erdgeschoss des kleinen Hauses direkt in die Küche.
»Hier sieht’s ja nett aus«, bemerkte sie ironisch und sah sich ungläubig in dem Chaos um, das sie überall empfing.
Paul folgte ihrem Blick und grinste schief.
»Tja, danke, ich geb mir auch alle Mühe.«
Olivia schnaubte und sah hinaus auf das verwilderte Grün vor dem Küchenfenster, das erholsam war im Vergleich zu den schmutzigen Schränken und den Zwiebeln, die in von der Decke hängenden Körben lagen und die grünen Triebe verzweifelt in alle Richtungen streckten.
Als Olivia Pauls forschenden Blick auf sich ruhen fühlte, drehte sie sich wieder zu ihm um.
»Ich nehme an, du weißt, was mit dem Haus ist«, bemerkte er.
»Keine Ahnung.«
»Dann lass mich das mal klarstellen.« Paul ließ sie nicht aus den Augen. Er machte einen Schritt auf sie zu, und instinktiv wich sie zurück, bis sie die Kühlschranktür im Rücken spürte. »Das Haus …, ich wohne hier, wie gesagt, schon eine ganze Weile. Deine Mutter war seit Jahren nicht hier. Kurz vor ihrem Tod hat sie sich gewünscht, dass es uns beiden gehören soll.«
Ungläubig schnappte Olivia nach Luft. Mit einem Schlag zerfielen ihre schönsten Träume zu Staub.
»Wie bitte?« Um Pauls stechendem Blick zu entkommen, schlüpfte sie an ihm vorbei und setzte ihre Wanderung durch das Erdgeschoss fort.
Sie verließ die Küche und schlenderte hinüber ins Wohnzimmer. Überall lag Müll herum, der Boden hatte schon lange keinen Staubsauger, und die Möbel auch schon bessere Tage gesehen. Einzig die Regale an den Wänden waren tadellos in Ordnung und wirkten wie Eindringlinge in diesem Durcheinander. Rücken neben Rücken standen die Bücher ordentlich in Reih und Glied, und Olivia trat heran, um eines davon herauszuziehen.
Paul war ihr gefolgt. Mit verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen.
»Warum hat sie das getan?«, fragte Olivia und blätterte in dem Buch.
»Na ja, Christine dachte eben, du hättest kein Interesse, hier zu wohnen«, erwiderte Paul und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Bademanteltasche. Er wollte sie gerade anzünden, als ihn Olivias scharfer Blick traf.
»Im Haus wird nicht geraucht«, wies sie ihn so entschieden zurecht, dass ihm die Zigarette vor Schreck aus dem Mund fiel. »Im Übrigen lag meine Mutter schon immer gern falsch.« Olivia ärgerte sich, dass ihre Stimme ihre Bitterkeit verriet. Während sich Paul nach der Zigarette bückte, steckte sie das Buch zurück ins Regal und holte ein anderes heraus.
Doch Paul hatte sie durchschaut.
»Olivia, ich werde vielleicht nicht hier drin rauchen. Aber ausziehen werde ich bestimmt nicht!«, erklärte er mit Nachdruck. »Das hier ist mein Zuhause. Aber ein Mädchen wie du, das gehört nicht hierher.« Er wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, seufzte er demonstrativ.
»Na schön, ich koch dann mal Kaffee.« Zu Olivias Erleichterung verließ er das Wohnzimmer und kehrte in die Küche zurück. Eine Weile hörte sie ihn rumoren, Wasser rauschte, eine Schranktür fiel zu. »Übrigens habe ich mit deinem Freund telefoniert«, rief Paul ihr irgendwann zu. »Sein Kopf ist offenbar nicht sein bestes Stück, was?«
Olivia wusste längst, dass Thorsten nicht der Klügste war. Trotzdem ärgerte sie sich über diese Bemerkung. Denn auch Paul machte einen alles andere als intelligenten Eindruck, verwahrlost, wie er und das Haus waren.
»Du weißt nichts über mich und mein Leben«, fauchte sie wütend. Schon hatte sie beschlossen, nicht zu bleiben, und wollte das Buch zurück ins Regal stellen, als ihr Blick auf eine handschriftliche Notiz auf dem Vorsatzblatt fiel. Christine, Deine Worte haben eine Saite in mir zum Klingen gebracht. Dafür danke ich dir. In Liebe, Paul. Ungläubig starrte Olivia auf die Buchstaben, bis sie vor ihren Augen zu tanzen begannen.
»Das wird sich ja sicher bald ändern, wenn wir hier eine Wohngemeinschaft haben«, rief ihr Paul ahnungslos zu. Als sie nicht antwortete, tauchte er in der Tür auf. Die Kaffeedose hielt er in der Hand. Olivia starrte ihn an wie eine Erscheinung. Dieser Blick verwirrte ihn. »Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen, Kind«, gestand er verlegen. »Bist groß und hübsch geworden.«
Olivias Herzschlag setzte einen Moment lang aus.
»Du kennst mich?«
Paul lachte rau.
»Natürlich kenne ich dich. Sag bloß, du weißt nicht mehr, dass du bei deiner Mutter gelebt hast?«
Olivia schüttelte den Kopf, und Paul fuhr fort.
»Du warst ungefähr vier Jahre alt, als das mit den Depressionen losging. Christine konnte sich nicht länger um dich kümmern und hat dich deshalb