David Signer

Die Ökonomie der Hexerei


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Bruder oder gar den Vater überholen

       Die Entwertung der greifbaren Realität

       Hexerei versus Entwicklung („Arbeiten bringt nichts“)

       Der afrikanische Autoritarismus

       Der freigebige Chef

       Magischer Schutz vor Hexerei

       Opfer und Gewalt

       Allgegenwart der Opferlogik

       Neid, Sündenbock, Opfer

       Die unsichtbare Gewalt

       Die Hexerei als Teil der Kultur

       Die Unantastbarkeit des Gegebenen

       Bitte – Drohung – Hexerei (Eingeforderte Gaben)

       Kredit und Schulden

       Korruption und Nepotismus

       Vermeidung von offenen Konflikten

       Selbstlosigkeit

       Liebe und Sexualität

       Geiz ist schlimmer als Verschwendung

       Eine zirkuläre und hierarchische Zeitauffassung

       Die Hexerei als Fluchtpunkt

       Literatur

      Die afrikanischen Heiler waren für mich geradezu der Inbegriff des Geheimnisvollen und Fremden, und damit dürfte ich in unserer Kultur kaum alleine dastehen.

      Schon als Kind faszinierten mich Geschichten über Zauberer, Medizinmänner, Schamanen, Geisterbeschwörer und Wundertätige. Als Jugendlicher sah ich „Der Exorzist“, mit der Passage, wo nach all den fehl geschlagenen Versuchen, das besessene Mädchen zu beruhigen, ein Priester geholt wird, von dem man munkelt, er hätte viele Jahre im Busch verbracht, wo er von den Afrikanern in ihre geheimen Riten eingeweiht worden sei. Später hielt ich mich ein Jahr in Ostafrika auf, kam jedoch nie wirklich in die Nähe eines nganga oder witchdoctor, wie sie dort genannt werden.

      Als ich 1994 dann zum ersten Mal in der Elfenbeinküste zu einer Féticheuse gebracht wurde, ging für mich damit ein langer Traum in Erfüllung, und erst recht, als ich später Coulibaly, einen Heiler aus Mali, auch persönlich kennen lernte. Endlich konnte ich in diesen so lange verschlossenen Raum eintreten und mich in dieses Andere versenken. Während dreier Jahre hatte ich Gelegenheit, mich mit der Gedankenwelt, dem Leben, den Methoden und der Umgebung der Heiler und Heilerinnen in Westafrika vertraut zu machen. Und obwohl mir diese Welt heute in gewisser Weise vertrauter ist als beispielsweise die Schweizer Bankenwelt (die Struktur des Sandorakels ist mir klarer als jene der Börse), ist sie in anderer Hinsicht auch immer rätselhafter geworden.

      Denn im Prinzip hat ein afrikanischer Heiler denkbar wenig mit einem Arzt in unserem Sinne zu tun. Wenn man sich bloß auf die traditionellen Pflanzenmedizinen konzentriert, die verschrieben werden, dann hat man von der Welt, die den Patienten und den Heiler verbindet, wenig wahrgenommen und verstanden. (Und deshalb spreche ich im Folgenden auch nicht vom Heiler, sondern vom Féticheur, um diese Andersheit sogleich zu signalisieren.) Für uns ist ein Arzt ja eine Art Feinmechaniker, der den Körper gewissermaßen als eine weiche Maschine auffasst, die irgendwo eine Störung aufweist, die aufgefunden und repariert werden muss. Sucht in Afrika jemand aufgrund von Problemen einen Spezialisten auf, so wird dieser (abgesehen von den bloßen Herbristen) die Konsultation nicht etwa durch eine Befragung und Untersuchung des Patienten beginnen, sondern im Allgemeinen gleich zum Orakel übergehen, auf dessen Offenbarungen er dann sowohl die Diagnose wie die Therapie stützen wird. Das kann in Form von Kaurischnecken geschehen, die geworfen werden, wobei ihre Konstellation interpretiert wird. Vielleicht zeichnet der Féticheur auch Muster in den Sand, die dann verbunden und „gelesen“ werden. Handelt es sich um einen islamischen Marabout, kennt er vielleicht Techniken, die Steinchen seiner Gebetskette abzuzählen, um die resultierenden Zahlen sodann in Aussagen zu übersetzen. Oder handelt es sich um eine Geisterpriesterin, wird sie von diesen besessen und gibt dann in Trance deren Aussagen wieder. Aber immer handelt es sich um Methoden der Wahrheitsfindung, die wir kaum als rational, empirisch oder überprüfbar betrachten.

      Meist weist die afrikanische Diagnose jedoch auf Ursachen hin, die unseren Tests und Instrumenten entgehen würden. Ursachen, die aus der „anderen Welt“ kommen, jener der Hexerei und der Geister. Auch die Behandlung ist entsprechend vor allem auf jene ausgerichtet. Natürlich spielen Medikamente eine Rolle; aber auch diesen wird erst Wirksamkeit zugeschrieben in Verbindung mit einer vorgängigen rituell-magischen Behandlung (die Pflanzen müssen zum Beispiel „besprochen“ werden). Wichtiger sind die verschriebenen Opfer (in Mali zum Beispiel oft ein bestimmtes Huhn und eine bestimmte Anzahl bestimmter Kolanüsse) sowie die Maßnahmen zur künftigen Abwehr des Bösen (zum Beispiel die gris-gris, in Leder eingenähte Schutzobjekte).

      Wie man sieht, ist der afrikanische Féticheur zugleich weniger und mehr als unser Arzt. Er ist ebenso Psychologe, Familientherapeut, Seelsorger, Priester, Schiedsrichter, Zeremonienmeister, eine Art Performance-Künstler und last but not least eine Art Ökonom, Spezialist für Fragen der Lastenverteilung, Lastenumverteilung, Kosten, Schulden, Rückzahlung, Ausgleich. Dieser ökonomische Aspekt seiner Analysen und Behandlungen hängt zusammen mit Vorstellungen von Hexerei, die wiederum viel mit dem Problem des Neides zu tun haben. Ein großer Teil der Störungen, die zum Aufsuchen eines Heilers führen, wird mit den Phänomenen des zu schnellen Wachstums, der raschen Bereicherung, des überraschen Erfolgs und des überraschenden Sturzes in Verbindung gebracht, mit Fragen des Gebens und Verteilens beziehungsweise der Weigerung, genug abzugeben und den Folgen der daraus erwachsenden Missgunst. Opfer sind unter diesem Blickwinkel Geschenke des Wiedergutmachens, eine archaische Besteuerung, ein Wiedereinkauf ins Soziale.

      Und damit ist man bereits im Herzen des afrikanischen Psycho- und Sozialsystems.

      Im Oktober 1994 führte ich in Man, einer Stadt im Westen der Elfenbeinküste, ein sehr interessantes Gespräch mit einem jungen Mann namens Jean-Claude.

      „Hexerei“, sagte er mir, „ist das größte Hindernis für Entwicklung in Afrika.“