Daphne Niko

DAS URTEIL


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      »Ihr wagt es, so mit dem König zu sprechen, der von Gott selbst auf Israels Thron gesetzt wurde? Die Gunst des Allmächtigen gehört mir immerdar. Dies war das Versprechen des Herrn an meinen Vater.« Er hob die Stimme. »Wenn sich jemand gegen mich auflehnt, so lasst ihn kommen. Ich werde ihn mit dem Stab der göttlichen Macht zerquetschen und zusehen, wie er um Gnade winselt. Niemand stellt die Herrschaft König Salomons infrage.«

      Basemat schauderte ob der Genauigkeit von Zadoks Traum. Kurz darauf war Jerobeam als Widersacher des Königs in Erscheinung getreten. War er auch in der Tat niedergeschlagen worden, so erhob er sich wieder und schwang den Stab und den Hammer des Herrn. Wäre Salomon nicht so hochmütig gewesen, sich für unbezwingbar zu halten, wäre das Ergebnis vielleicht ein anderes gewesen.

      Oder vielleicht auch nicht.

      Sie seufzte und schloss die Augen. So gern wollte sie vom Schlaf übermannt werden. Sie wollte nichts fühlen, wenn auch nur für einen Moment, wollte von den Fesseln ihrer Erinnerung befreit sein. Sie ließ ihre Tränen in die Fasern des alten Teppichs fließen, während sich die Worte von Jerobeams Ultimatum in ihren Verstand einbrannten.

       Ihr könnt nach Ägypten geschickt werden, um dem Pharao zu dienen, oder Ihr könnt in Eurem Heimatland hingerichtet werden.

      Als sie ihre Augen wieder öffnete, fühle sie sich ausgeruht und klar, obwohl sie sicher war, dass sie nicht geschlafen hatte. Sie setzte sich auf und spähte durch den Spalt des Zelteingangs. Das Firmament hatte die Farbe von Techelet und war von großen Wolken aus Violett und Purpur durchzogen, die sich wie ein Gebet bis zum Himmel erstreckten. Ein goldener Streifen erschien zwischen den Gipfeln der Berge im Osten und verkündete den neuen Tag.

      Der Moment ihres Urteils war gekommen.

      Kapitel 4

      Jerusalem, 965 v. Chr.

      Zadok, der Sohn von Achitub, stand auf dem Berg Moriah und sah auf die Stadt hinunter, die sich zu seinen Füßen erstreckte. Nachdenklich betrachtete er die Fundamente des Königspalastes, mit deren Entstehung vierzig Steinmetze, die besten in Israel und Tyros, seit einem Jahr beschäftigt waren. Es stand noch viel Arbeit bevor, aber schon jetzt waren sein Ausmaß und seine Substanz furchteinflößend.

      Ein Stück entfernt befand sich die Zitadelle, die Schutzbefestigung, die zwischen den Schmuckstücken der Stadt und den quadratischen, steinernen Flachdachgebäuden stand, in denen die Menschen wohnten. Am Fuß der Stadtmauern lag die lebensspendende Gihonquelle, die die trockene Wüste nährte und die Bewohner des heiligsten aller Orte Israels versorgte.

      Es war ein prächtiger Anblick, dieses Jerusalem, das sein König erbaute. Niemals zuvor in der Geschichte der Hebräer hatte es eine Stadt von solcher Größe gegeben, eine Stadt, die Jahwe gewidmet war. Jerusalem war mehr als eine Festung und ein Machtsitz; es war auch der Ort, den der Herr zum Bau Seines Hauses auserkoren hatte, eine gewaltige Aufgabe, die allein dem Würdigsten übertragen worden war. Obwohl ihre Erfüllung mehrere Jahre und immense Mittel beanspruchen würde, war der König unerschrocken und begann den Bau mit Eifer.

      Das gefiel Zadok, der Hohepriester des vereinten Königreichs von Israel und Juda unter König Salomon war und davor getreuer Priester König Davids. Als Nachkomme Eleasars, des dritten Sohnes Aarons, verfolgte Zadok seine väterliche Abstammung zurück zum Bruder des Mose und des ersten Hohepriesters des Volkes. Seine Linie war seit dem Auszug ins Gelobte Land von Gott selbst begründet und er hatte sich seiner auferlegten Pflicht vollständig verschrieben, die für ihn mehr als nur ein Geburtsrecht war: Sie war ein Privileg.

      Zadok spürte die feste Berührung einer Hand auf seiner Schulter und drehte den Kopf. Den Blick auf die Stadt gerichtet stand König Salomon zu seiner Linken. Er trug eine weiße Flachsrobe mit langen Ärmeln und großzügig verziertem, mit Fransen besetztem Rock, der in der Taille von einem Ledergürtel gehalten wurde. Darüber lag ein roter Wollumhang, an der Schulter mit einer Goldnadel gesichert, die das Ebenbild eines Löwenkopfes war. Seine schulterlangen Locken, die in der Mittagssonne glänzten wie geölter Onyx, wurden von einer spitz zulaufenden, aus gelber Seide gewebten Scheitelkappe gekrönt.

      Er rieb sich den kurzen schwarzen Bart, der auf seinem kantigen Kinn wuchs und seine fleischigen Lippen umschloss. »Prachtvoll, nicht wahr?« Er drehte sich zu Zadok um und sah ihn mit lächelnden Augen an. »Ich wünschte, mein Vater hätte das noch erlebt.«

      »Er wäre ein stolzer Vater gewesen. Sein Sohn tut genau, was von ihm verlangt wurde.«

      Salomon sah über seine Schulter hinweg zum Bauplatz am höchsten Punkt des Berges Moriah. »So viele Jahre sind vergangen, seit der Herr König David auf diesem Berg erschien und zu ihm sagte: Erbaue mir ein Haus. Es erfüllt mich mit Zufriedenheit, die Schuld meines Vaters zu tilgen und seinem Namen Ehre zu bereiten.«

      Zadok gefiel das bescheidene Wesen des Königs. Obwohl Salomon erst dreiundzwanzig Jahre alt war und kaum sein fünftes Jahr auf dem Thron vollendet hatte, war er weder hitzköpfig noch prahlerisch wie die meisten seinesgleichen. Er besaß eine Bescheidenheit, die nur von wahrer Selbstsicherheit stammen konnte. Der jüngste Sohn König Davids, von seiner Frau Batseba geboren, war mit Königlichkeit gesegnet, einer gewissen Aura. Selbst bevor er zum Herrscher wurde, waren die Menschen zu ihm hingezogen und von seiner Ausstrahlung fasziniert. Es schien, als wäre er für die Rolle, die er übernommen hatte, vorherbestimmt: Gottes auserwähltes Volk in ein neues Zeitalter von Größe und Wohlstand zu führen.

      Zadok sah zum Bauplatz. »Dann entwickelt sich alles gut.«

      »Kommt. Geht ein Stück mit mir.«

      Die beiden erklommen eine Reihe grober Steinstufen, die behelfsmäßig in den Hang gehauen worden waren, damit die Arbeiter die Vielzahl an Baumaterialien für den Tempel des Herrn einfacher transportieren konnten. Sobald dieses heiligste aller Gebäude fertiggestellt wäre, würden richtige Stufen geschaffen werden, damit jeder Israelit, selbst der älteste und gebrechlichste, die Reise zum Hause des Herrn sicher antreten konnte.

      Zadok nutzte seinen Stab als Stütze. Er war achtundfünfzig Jahre alt und seine körperlichen Fähigkeiten hatten begonnen, sich zu verschlechtern. Silberne Strähnen hatten sein hüftlanges schwarzes Haar gefärbt, das er unter einem blauen Turban feststeckte, und sein grauer Bart reichte ihm bis zur Brust. Er aß wenig, denn er betrachtete Maßlosigkeit als Sünde, und das zeigte sich deutlich an seiner mageren Gestalt. Trotz seines fortschreitenden Alters besaß er die Energie eines deutlich jüngeren Mannes. Er war fest entschlossen, die Fertigstellung des Tempels zu erleben und den Herrn in seinen geheiligten Kammern zu ehren. Lange hatten er und seine Vorfahren für diesen Moment gebetet.

      Am höchsten Punkt des Berges Moriah arbeiteten hunderte Männer. Die Aufseher brüllten eindringliche Anweisungen, während schwitzende Arbeiter unter der Last der Steine ächzten, die sie mithilfe von Seilzügen bewegten. Die Quader waren von den besten Steinmetzen direkt im Kalksteinbruch geschlagen und behauen worden, damit kein Hammer oder Meißel oder sonst ein Eisenwerkzeug in der Nähe des heiligen Hauses verwendet würde. Die äußeren Mauern waren dreißig Ellen hoch gebaut worden und ragten zum Himmel hinauf. Um das Hauptgebäude herum begannen mehrere Kammern und ein Vorhof, der zum Eingang hinführte, Form anzunehmen.

      Zadok neigte sein Haupt vor dem im Entstehen begriffenen Gebäude und sprach ein stummes Gebet.

      »Kommt, alter Freund«, sagte Salomon. »Lasst uns auf den Spuren unserer Väter wandeln.«

      Der König und der Priester gingen zum Eingang und blieben vor dem Vorhof stehen. Der König sagte: »All jene, die zum Tempel des Herrn kommen, werden durch diese Pforte schreiten. Hier werden zwei bronzene Säulen stehen, mit Abschlüssen aus geschmolzener Bronze, die Lilienmuster und Granatäpfel zieren. Ich fand den geschicktesten Kunsthandwerker im ganzen Land, einen Mann aus Naftali, der einer langen Reihe von Bildhauern entstammt. Er hat die Arbeit an den Säulen und dem Ehernen Meer schon aufgenommen.« Er wandte sich vom Eingang ab und deutete auf den leeren Platz. »Das Becken wird dort stehen. Zehn Gebote wurden uns vom Herrn auferlegt, und so wird es zehn Ellen messen, von Rand zu Rand. Es wird auf den Rücken von zwölf Ochsen