Timothy Keller

Jesus


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Agnostiker gewesen. Während seines ganzen Studiums hatte er nie eine Bibel in der Hand gehabt. Dann kam der Erste Weltkrieg, und er musste als Soldat an die Front. Er schrieb: „Die absolute Unzulänglichkeit meiner Vorstellungen vom Menschen überwältigte mich schier. Was nützt dir ... das gepflegte Seminargeplänkel, wenn direkt vor dir dein Kamerad, der dir gerade von seiner Mutter erzählt, eine Kugel in die Brust kriegt und stirbt?“

      Dann bekam er selber eine Kugel ab. Es folgte ein langer Lazarettaufenthalt. Er las viel Literatur und Philosophie und bekam eine tiefe Sehnsucht „nach einem – ich muss es so sagen, egal wie komisch es klingt – Buch, das mich verstand.“ Da er kein solches Buch kannte, beschloss er, selber eines zusammenzustellen. Jedes Mal, wenn er bei seiner ausgiebigen Lektüre einen kurzen, prägnanten Abschnitt fand, der „in meine Lage hineinsprach“, notierte er ihn sorgfältig in einem in Leder gebundenen Notizbuch. Eines Tages, so nahm er sich vor, würde er die fertige Sammlung von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen. Er erwartete, dass sein Buch ihn „sozusagen von Angst und Qual über verschiedene Zwischenstufen hin zu Sätzen äußerster Befreiung und Freude führen würde.“

      Der Tag kam, wo er sich in seinem Garten unter einen Baum setzte, um seine kostbare Anthologie zu lesen. Er fing an – und seine Enttäuschung wurde immer größer. Jedes Zitat erinnerte ihn an die Umstände, in denen er es gewählt hatte, aber die Dinge hatten sich verändert. „Da erkannte ich, dass das ganze Unternehmen nicht funktionieren konnte, ganz einfach weil es auf meinem eigenen Mist gewachsen war.“

      Fast genau in diesem Augenblick kam seine Frau, die ihr Kind im Kinderwagen spazieren gefahren hatte. Sie hatte eine französische Bibel bei sich, die ihr ein Pastor, dem sie auf dem Spaziergang begegnet war, gegeben hatte. Cailliet nahm die Bibel und schlug sie bei den Evangelien auf. Er las und las, bis tief in die Nacht. „Und siehe da, während ich sie [die Evangelien] las, wurde der Eine, der in ihnen redete und handelte, für mich lebendig.“ Und es dämmerte ihm: „Dies war das Buch, das mich verstand.“10

      Als ich diesen Artikel las, erkannte ich, dass mir das Gleiche passiert war. Als Jugendlicher hatte ich geglaubt, dass die Bibel das „Wort des Herrn“ war, aber dem Herrn des Wortes persönlich begegnet war ich nie. Als ich die Evangelien las, wurde er für mich lebendig. Dreißig Jahre später hielt ich in meiner Kirche in New York City eine Predigtreihe über das Markusevangelium in der Hoffnung, dass noch viele andere in den Berichten der Evangelien Jesus finden würden.

      Dieses Buch ist durch diese Predigten angestoßen worden, und ich lege es meinen Lesern mit der gleichen Hoffnung vor.

      Dies ist die rettende Botschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Alles begann so, wie es der Prophet Jesaja vorausgesagt hatte: „Gott spricht: ,Ich sende meinen Boten dir voraus, der dein Kommen ankündigt und die Menschen darauf vorbereitet.‘“

      „Ein Bote wird in der Wüste rufen: ,Macht den Weg frei für den Herrn! Räumt alle Hindernisse weg!‘“

      Dieser Bote war Johannes der Täufer. Er lebte in der Wüste, taufte und verkündete den Menschen, die zu ihm kamen: „Kehrt um zu Gott, und lasst euch von mir taufen! Dann wird er euch eure Sünden vergeben.“ (Markus 1,1-4)

      O hne Umschweife kommt Markus zum Thema seines Buches. Geradezu abrupt stellt er fest, dass Jesus der „Christus“ und der „Sohn Gottes“ ist. Christos war ein griechisches Wort, das „eine gesalbte königliche Gestalt“ bedeutet. Es war ein anderes Wort für den „Messias“ – für den, der kommen würde, um Gottes Herrschaft auf Erden aufzurichten und Israel von all seinen Bedrückern und Nöten zu erretten. Nicht einfach irgendein König, sondern der König.

      Doch Markus nennt Jesus nicht nur den „Christus“, er geht weiter. „Sohn Gottes“ ist ein erstaunlich gewagter Ausdruck, der über das volkstümliche MessiasVerständnis jener Tage hinausgeht. Er meint nicht weniger als Göttlichkeit. Und dann lässt Markus die Katze vollends aus dem Sack. Durch das Zitat aus dem Propheten Jesaja erklärt er, dass Johannes der Täufer die Erfüllung der Prophezeiung von dem „Boten in der Wüste“ ist, und indem er so Johannes mit dem gleichsetzt, der „den Weg frei für den Herrn“ macht, setzt er Jesus mit dem „Herrn“ selber gleich, mit dem allmächtigen Gott. Gott der Herr, der sehnlich erwartete Gottkönig, der sein Volk erlösen wird, und Jesus – sie sind irgendwie ein und dieselbe Person.

      Mit dieser mehr als mutigen Behauptung verankert Markus die Geschichte von Jesus so tief wie möglich in der historischen Religion des alten Israel. Der christliche Glaube, so deutet er an, ist nicht etwas vollkommen Neues. Jesus ist die Erfüllung all der Sehnsüchte und Visionen der biblischen Propheten; er ist der, der kommen wird, um über das gesamte Universum zu herrschen und es zu erneuern.

      Der Tanz der Realität

      Ein paar Sätze, nachdem er Jesus so vorgestellt hat, gibt Markus uns einen ersten Einblick in die Geschichte der Welt:

      In dieser Zeit kam Jesus aus Nazareth, das in der Provinz Galiläa liegt, an den Jordan und ließ sich dort von Johannes taufen. Als Jesus nach der Taufe aus dem Wasser gestiegen war, sah er, wie sich der Himmel über ihm öffnete und der Geist Gottes wie eine Taube auf ihn herabkam. Gleichzeitig sprach eine Stimme vom Himmel: „Du bist mein geliebter Sohn, der meine ganze Freude ist.“

      Kurz darauf führte der Geist Gottes Jesus in die Wüste. Vierzig Tage war er dort den Versuchungen des Satans ausgesetzt. Er lebte unter wilden Tieren, und die Engel Gottes dienten ihm. (Markus 1,9-13)

      Der Geist Gottes als Taube – uns heute ist dies ein vertrautes Bild, aber als Markus schrieb, war es ausgesprochen selten. In den heiligen Schriften des Judentums gibt es nur eine Stelle, wo der Geist Gottes mit einer Taube verglichen wird. Sie findet sich in den Targumen, der aramäischen Übersetzung der jüdischen heiligen Schriften, die zu Markus’ Zeiten in Umlauf war. Im biblischen Schöpfungsbericht heißt es in 1. Mose 1,2, dass der Geist auf dem Wasser schwebte. Das hier verwendete hebräische Wort bedeutet so viel wie „flattern“; der Geist flatterte über den Wassern. Um dieses Bild wiederzugeben, übersetzten die Rabbis diesen Abschnitt für die Targume folgendermaßen: „Und die Erde war ohne Gestalt und leer, und Finsternis war auf der Oberfläche der Tiefe, und der Geist Gottes flatterte über der Oberfläche der Wasser wie eine Taube, und Gott sprach: ,Es werde Licht.‘“ Bei der Erschaffung der Welt gibt es drei aktive Beteiligte: Gott, Gottes Geist und Gottes Wort, durch das er erschafft. Die gleichen drei Personen sind bei der Taufe von Jesus zugegen: der Vater, der die Stimme ist, der Sohn, der das Wort ist, und der Heilige Geist, der wie eine Taube flattert. Markus führt uns ganz bewusst zurück zur Schöpfung, zum Uranfang der Geschichte: So wie die Erschaffung der Welt ein Projekt des dreieinigen Gottes war, so ist auch ihre Erlösung, die Errettung und Erneuerung aller Dinge ein Projekt des dreieinigen Gottes. Und dieses Projekt beginnt jetzt mit der Ankunft des Königs.

      Das will Markus uns also mit seiner Darstellung von Jesu Taufe zeigen. Aber was soll daran so wichtig sein? Warum ist es wichtig, dass wir begreifen, dass beide, Schöpfung und Erlösung, das Werk einer Trinität sindeines Gottes in drei Personen?

      Die christliche Trinitätslehre ist nicht einfach; sie ist Schwerarbeit für unsere grauen Zellen. Sie besagt ja, dass Gott ein Gott ist, der jedoch von Ewigkeit an in drei Personen existiert. Dies ist kein Tritheismus, bei dem drei separate Götter harmonisch zusammenwirken. Es ist auch kein Unipersonalismus, also die Vorstellung, dass Gott mal die eine, mal die andere Gestalt annimmt, die dabei immer Manifestationen des einen Gottes sind. Nein, die Trinitätslehre besagt, dass es einen Gott gibt, der gleichzeitig in drei Personen existiert, die einander kennen und lieben. Gott ist nicht prinzipiell mehr Einer als Drei, und er ist nicht prinzipiell mehr Drei als Einer.

      Das ist ein Mysterium und eine Herausforderung für unseren Verstand. Doch so „schwierig“ sie auch ist, die Trinitätslehre ist eine wahre Schatzkammer des Lebens. Denn