eine Ex. Henrike machte das nicht die geringsten Schwierigkeiten. Die Schulzeit in Paris und London war ihren Sprachkenntnissen zugutegekommen.
Als sie von ihrem Blatt aufblickte, begegnete sie Fabian Rückerts Augen. Augenblicklich war sie wie gelähmt. Wäre sie nicht schon fertig gewesen, hätte sie kein Wort mehr zustande gebracht.
Nach dieser Stunde rief er sie zu sich. Die Übrigen verzogen sich schon in den Physiksaal.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie aus der Fassung gebracht habe«, sagte er entschuldigend.
»Warum haben Sie mich nicht wenigstens vorbereitet?«, fragte sie kleinlaut.
»Zuerst wusste ich ja nicht, dass Sie in meine Klasse kommen. Und dann, ich hatte Hemmungen«, gestand er mit einem verlegenen Lächeln. »Ich bin froh, dass Sie mit diesen beiden Fächern keinerlei Schwierigkeiten haben. Wie ich Ihren Zeugnissen entnehme, sind Sie in beiden sehr gut.«
»Nachhilfestunden brauche ich jedenfalls nicht, Herr Doktor«, sagte sie trotzig. »Ich muss jetzt gehen. Wo ist der Physiksaal eigentlich?«
»Ich zeige es Ihnen.«
Stella lief ihnen in den Weg. Ihre Augen weiteten sich, dann lächelte sie. »Das ist übrigens meine Schwester Stella«, sagte Fabian Rückert rasch. »Sie werden sich ja noch kennenlernen.«
Ich werde beiden aus dem Weg gehen, wo ich nur kann, dachte Henrike eigensinnig.
»Was hat denn der Dr. Rückert gesagt, als du plötzlich in der Klasse saßest?«, fragte Hannes grinsend, als sie heimwärts fuhren.
»Was soll er denn gesagt haben? Wahrscheinlich hat er mich gar nicht erkannt«, flüchtete sie sich in eine Notlüge.
»So, wie der dich neulich angeschaut hat«, meinte Hannes kichernd.
»Dass du ja nichts darüber sagst«, warnte sie ihn, »auch zu Hause nicht.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Meine Güte, ist das denn schlimm? Wir leben doch in einer Demokratie. Warum soll ein schicker Lehrer nicht mal einer hübschen Schülerin nachschauen. Ich finde gar nichts dabei.«
»Es kann für die Schülerin ebenso peinlich werden wie für den Lehrer«, erwiderte Henrike mit belegter Stimme.
»Ich finde das toll, wenn einer schon mit sechsundzwanzig Jahren Doktor ist«, begeisterte er sich. »Wir müssten nur so junge Lehrer haben, dann würde die Penne viel mehr Spaß machen. Und ich habe gedacht, er wäre ein Playboy.«
»Na, so sieht er aber nicht aus«, widersprach Henrike. »Du hast dich ja schon hinreichend über ihn informiert.«
»Na klar, schon wegen des Hundes. Amelie wohnt neben ihnen. Sein Vater ist Notar, und er hat ’ne nette Schwester, die auch bei uns auf der Schule ist.«
»Wer ist Amelie?«, lenkte Henrike ab.
»Meine Nachbarin. Sie ist okay. Sie lässt mich immer abgucken.«
»Verlass dich lieber auf deinen eigenen Grips, sonst gehst du baden, wenn du woanders hingesetzt wirst.«
»Da sind sie hier großzügig. Mit der Schule können wir ganz zufrieden sein, Ricky. Amelie findet dich schön.«
Man sah ihm an, dass er ungeheuer stolz darauf war. Henrike aber dachte daran, in welche Konflikte sie gestürzt worden war, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie schon seit Tagen nicht mehr an Percy gedacht hatte.
*
Nun ging schon die erste Woche, in der die Auerbachs im Sonnenwinkel lebten, zu Ende. Sie hatten sich schon eingelebt und fühlten sich rundherum glücklich. Doch ganz ohne Probleme ging es nicht ab.
Henrike war zu dem Entschluss gekommen, in Fabian Rückert nur ihren Lehrer zu sehen und ihre persönliche Bekanntschaft aus dem Gedächtnis zu streichen. Er schenkte ihr nicht mehr Beachtung als den anderen, wenngleich ihn dies große Selbstbeherrschung kostete.
Sie ahnte auch nicht, wie viel Neckereien er von Stella hinnehmen musste. Henrike war ein vernünftiges Mädchen. Sie sagte sich, dass es ihn in große Verlegenheit brächte, wenn jemand nur das Geringste merken würde.
Viel war sie mit Ulla zusammen, die sich ein wenig einsam fühlte. Manchmal gesellte sich Manfred zu ihnen, der wirklich ein außerordentlich netter Junge war, wegen seines etwas unglücklichen Aussehens aber vor allem von den Mädchen links liegen gelassen wurde. Die vier anderen Klassenkameradinnen betrachteten Henrike offensichtlich als einen Eindringling. Jede von ihnen machte Fabian Rückert offene Avancen, die er aber nicht wahrzunehmen schien oder nicht wahrnehmen wollte.
Daheim konnte man sich nur wundern, wie intensiv Henrike ihre Hausaufgaben machte. Sehr fleißig war sie eigentlich nie gewesen. Was ihr nicht zufiel, erledigte sie recht und schlecht. Das war jetzt alles anders.
»Henrike wird ein richtiger Streber«, bemängelte Hannes.
»Sie will anscheinend ihr Abitur mit Glanz und Gloria bestehen«, stellte Inge fest.
»Oder dem Dr. Rückert imponieren«, entfuhr es ihm. Hinterher tat’s ihm leid, denn eine Klatschbase wollte er nicht sein.
»Wieso Dr. Rückert?«, fragte Inge ihren Sohn. »Den hat sie doch nur in den modernen Sprachen, und da ist sie ohnehin gut.«
»Aber er ist ihr Klassenlehrer«, wich er vorsichtig aus.
Inge kannte ihre Kinder, so schnell ließ sie sich nichts vormachen. »Wie ist er denn eigentlich?«, fragte sie. »Du hast ihn doch auch.«
»Nur in Englisch. Er ist schon in Ordnung«, erwiderte Hannes verlegen.
»Er ist wohl noch ziemlich jung?«, fragte Inge nun nebenbei.
»Mächtig jung«, gab Hannes ehrlich zu.
Soso, dachte Inge, sollte Ricky deswegen Percy vernachlässigen? Ihres Wissens hatte sie ihm noch nicht einmal geschrieben, seit sie hier waren.
»Dürfen wir mal nach dem Bau sehen, Mami?«, fragte Hannes nun. »Meine Hausaufgaben habe ich schon gemacht, und außerdem haben wir morgen frei.«
»Wieso denn?«, wollte sie wissen.
»Jeden zweiten Samstag im Monat haben wir doch frei.«
»Dann geht nur, aber pass auf Bambi auf«, mahnte sie.
»Ich pass schon selber auf, Mamilein«, versicherte die Kleine.
Sie gingen zur Baustelle hinüber und schauten interessiert zu, wie der Bagger das Erdreich aushob, das sich schon zu Bergen türmte.
Lange blieben sie nicht die einzigen Zuschauer. Unbemerkt hatte sich eine kleine Gruppe genähert.
»Das schreitet ja schnell fort«, tönte eine Männerstimme an Hannes’ Ohr, und überrascht fuhr er herum. Er hatte sich nicht getäuscht, es war Dr. Rückert.
»Guten Tag, Herr Doktor«, grüßte er höflich und warf einen raschen Blick auf das ältere Ehepaar und Stella.
»Das ist ja der Hannes«, sagte Fabian Rückert freundlich. »Grüß dich.« Er streckte ihm die Hand hin, und Hannes machte eine verlegene Verbeugung.
»Ein Schüler von mir«, erklärte Fabian seinen Eltern. »Der Sohn von Professor Auerbach.«
»Und das ist meine kleine Schwester Bambi«, beeilte sich Hannes zu sagen.
»Gott, ist die süß«, raunte Stella aus dem Hintergrund.
Bambi machte ihr Knickschen. »Ich geh noch nicht zur Schule«, verkündete sie. »Wir wohnen da drunten.«
»Da sind wir ja beinahe Nachbarn. Wenigstens am Wochenende«, erklärte Rosemarie Rückert mit einem freundlichen Lächeln. Hannes riss die Augen auf und sah Fabian Rückert fragend an.
»Das haben wir nicht gewusst«, murmelte er. Am liebsten wäre er gleich heimgelaufen, um es Henrike zu berichten, aber Bambi hätte dann wieder Fragen gestellt, denn sie wollte gar zu gern noch zuschauen.
»Da