Patricia Vandenberg

Im Sonnenwinkel Staffel 1 – Familienroman


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Einsamkeit kann sie doch ungestört lernen, damit sie das erreicht, was Sie sich von Ihrer Tochter erhoffen. Ihre Freizeit vertreibt sie sich doch nur mit den Kindern. Bitte.«

      Oberstudiendirektor Lamprecht war wie erstarrt. Er schien nicht zu begreifen, dass sich nun noch jemand so leidenschaftlich für seine Tochter einsetzte.

      »Wir werden noch einmal mit Ulla alles durchsprechen«, sagte er tonlos. Doch dann kam die schreckliche Ernüchterung. Ulla war nirgendwo zu finden. Es war, als hätte der Erdboden sie verschluckt.

      Blindlings stürzte Ricky davon zum Schulhaus. Der Unterricht war beendet. In ihrer Klasse waren schon die Putzfrauen am Werk. Ihre Schultasche lag noch da, aber ihre Schlüssel konnte sie nirgends finden, und als sie dann auf den Parkplatz kam, war auch ihr Auto nicht mehr da. Völlig verstört blickte sie um sich. Das grüne Kabriolett war fort, einfach fort.

      Sie fasste sich an die Stirn, strich sich über die Augen. Nein, ihre innere Erregung spielte ihr keinen Streich. Der Hof war völlig leer!

      Sie rannte auf die Straße. Auch Hannes war nirgends zu sehen. Ein Junge aus seiner Klasse kam über den Marktplatz, sah sie und kam auf sie zu.

      »Der Hannes ist mit seinem Papi gefahren«, sagte er.

      »Und mein Wagen?«, fragte Ricky verwirrt, »hast du meinen Wagen vielleicht auch gesehen?«

      Er starrte sie an. »Den hat doch der Rosch weggefahren«, platzte er heraus. »Er hat sich reingesetzt und ist fortgefahren damit. Der Manfred Fiedler hat noch zu ihm gesagt, was er denn mache, aber er hat ihn ausgelacht und gesagt, dass Sie ihm die Schlüssel gegeben hätten.«

      »Weißt du das bestimmt?«, fragte Ricky entsetzt.

      »Aber sicher. Ich hab es ja gehört. Die andern waren schon alle weg, nur der Manfred war noch da. Ich kenne ihn genau, weil er neben uns wohnt. Er hat auch zu mir gesagt, dass er das nicht glaube. Nie hätten Sie ihm die Schlüssel gegeben. Er wollte auch gleich zur Polizei gehen. Gehen Sie da man auch hin, Frau Auerbach.«

      Zur Polizei? Dazu fühlte sich Ricky unfähig. Augenblicklich bewegte sie auch noch mehr der Gedanke, wo Ulla sein könnte, und wie von selbst lief sie zurück zu Rückerts Haus.

      Stella öffnete ihr die Tür. »Ricky«, rief sie entsetzt, »wie siehst du aus? Warum bist du nicht zu Hause?«

      Da kam auch schon Fabian, und seine Eltern folgten ihm auf dem Fuße. Zum ersten Mal erlebte die Familie, dass Fabian jegliche Hemmungen verlor, Ricky einfach in die Arme nahm und ihr tränenüberströmtes Gesicht an seine Schulter drückte. Taktvoll zogen sie sich sofort zurück.

      »Mein Kleines«, sagte er tröstend, »was ist denn geschehen? Beruhige dich doch.«

      »Ulla ist fort – und mein Wagen auch«, erwiderte Ricky stockend. »Träume ich, Fabian?«

      »Jedenfalls bist du hier«, flüsterte er. »Und wenn du wieder klar denken kannst, werden wir auch vernünftig miteinander sprechen können.«

      »Daheim werden sie auf mich warten«, schluchzte sie. »Oh, Fabian, ich mache dir nichts als Scherereien, aber ich wusste einfach nicht, was ich zuerst tun sollte.«

      »Du hast genau das Richtige getan, mein kleines Mädchen«, sagte er zärtlich, und dann küsste er sie, wie er sie noch nie geküsst hatte. Sie gehörten zusammen, und sie wussten es beide in diesem Augenblick.

      Ein Hauch von Glück mischte sich in den Schmerz, der sie bewegte, und sie fühlte, dass ihr ganzes Herz ihm gehörte.

      »Na, dann«, sagte drinnen Notar Dr. Rückert, »was uns auch noch bevorstehen wird, unsere Schwiegertochter kennen wir nun ja. Daran gibt’s nichts mehr zu rütteln.«

      »Wer würde das wollen«, meinte seine Frau.

      »Ich bestimmt nicht«, sagte Stella und zerdrückte ein paar Tränen. »Ach, so was möchte ich auch mal erleben.«

      »Lass dir Zeit, mein Herzblatt«, sagte ihr Vater. »Drück die Schulbank nur noch recht lange, damit du uns wenigstens erhalten bleibst.«

      »Dann bist du mir auch nicht böse, dass ich in Latein wieder eine Fünf geschrieben habe?«, nutzte sie seine rührselige Stimmung aus.

      »Hauptsache, du bist gesund«, brummte er.

      Ein Gutes hatte dieser dramatische Zwischenfall also. Stella küsste ihren Paps stürmisch, und ihre Mama bekam auch noch etwas davon ab.

      Und dann, wieder einigermaßen ruhig geworden, erzählte Ricky.

      Eines stand schließlich fest. Conny von Rosch hatte Henrikes Autoschlüssel einfach an sich genommen und war mit dem Wagen weggefahren. Es erschien wie eine bodenlose Frechheit, aber es steckte noch mehr dahinter. Er rechnete sich aus, dass Henrike nichts gegen ihn unternehmen würde, um Fabian Rückert aus dem Spiel zu lassen. Es war seine Art der Rache, weil sie ihn links liegen ließ. Skrupel kannte er nicht. Solche Entgleisungen der Brüder von Rosch waren schließlich immer als Dummejungenstreiche vertuscht worden. Er hatte ja auch nicht die Absicht, den Wagen zu stehlen, er wollte Henrike nur ärgern und erschrecken, und er wollte auch Fabian Rückert herausfordern.

      Doch es sollte anders kommen. Zwei Stunden später erfuhren sie, dass Conny von Rosch mit Henrikes Wagen einen schweren Autounfall verursacht hatte, bei dem der entgegenkommende Wagen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde und der Fahrer schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden musste. Conny von Rosch war tot und Henrikes Wagen schrottreif.

      Fabian hatte es im Polizeirevier erfahren, wo er den Vorfall gemeldet hatte. Werner Auerbach kam zum zweiten Mal in die Stadt, diesmal um seine völlig aufgelöste Tochter heimzuholen. Es war wohl der kummervollste Tag in ihrem jungen Leben, denn auch Ulla war noch nicht wieder aufgetaucht.

      Ein Unglück kommt selten allein, wie wahr erwies sich diese Volksweisheit. Henrike fieberte, als sie daheim anlangte. Inge steckte sie gleich ins Bett. Hannes und Bambi schlichen betrübt durch das Haus, und auch nebenan bei den Ullrichs herrschte eine deprimierte Stimmung.

      In der Stadt gab es kein anderes Gesprächsthema. Man war von den Roschs zwar allerlei gewohnt im Laufe der Jahre, aber das setzte doch allem die Krone auf. Diesmal konnte sich Conny von Rosch nicht damit rechtfertigen, dass es ein Lausbubenstreich gewesen war. Er war tot, und im Krankenhaus kämpften die Ärzte um das Leben eines anderen jungen Mannes, der völlig schuldlos an diesem Unfall gewesen war. Dieser junge Mann war noch dazu der Cousin von Felix Münster, der eine Stellung in der Maschinenfabrik antreten sollte, die Münster den Roschs abgekauft hatte.

      Harald Herwig war erst vor wenigen Tagen aus Südafrika zurückgekommen, wo er sehr erfolgreiche Abschlüsse für den Konzern getätigt hatte. Felix Münster war restlos erschüttert, als er im Herrenhaus mit dieser Schreckensnachricht empfangen wurde, die das ersehnte Wiedersehen mit Sandra überschattete.

      Auch Manuel war tieftraurig. Er hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, und nun hatte niemand Zeit, sich um ihn zu kümmern. Sandra war auf der Suche nach Ulla. Sein Papi war sofort ins Krankenhaus gefahren.

      »Warum gibt es nur so viele böse Menschen, Teta?«, fragte er niedergeschlagen.

      Ja, warum? Teta wusste darauf auch keine Antwort. Dieser himmlische Frieden war gestört. Sie hatte gemeint, dass vor diesem Stück Erde alles Ungute haltmachen müsse.

      Der Gedanke an Ulla herrschte vor. Wo war sie? Wo konnte man sie suchen? Warum hatte sie nicht hier Zuflucht gesucht? Marianne von Rieding hatte das ganze Haus abgesucht und auch die Felsenburg, aber Ulla war nirgendwo zu finden.

      Am Abend kehrte Sandra erschöpft zurück, den Tränen nahe. Kurz nach ihr kam auch Felix Münster. Stumm reichten sie sich die Hände, beide von quälenden Sorgen bewegt, die alle anderen Gefühle zum Schweigen brachten. Die Dunkelheit sank herab. Eine lange Nacht lag vor ihnen, in der sie wohl kaum Ruhe finden würden.

      *

      »Nun ist Rickys Wagen hin. Wie sollen wir jetzt in die Schule kommen?«, fragte Hannes.

      »Wenn das deine einzige Sorge ist«, murmelte seine Mutter. »Wichtiger