die man angeben kann«, wehrt sie seinen Einwurf ab. »Vielleicht rufen Sie erst mal bei Frau Bothe an, ob er sich dort aufhält?«
»Gut!« entscheidet er. »Jetzt ist es noch etwas früh. Aber in einer Stunde rufe ich wieder bei Ihnen an.«
»Ich danke Ihnen!« Eva-Maria legt den Hörer auf.
Ulrich Karsten frei! Selten noch hat sie ein so großes Glücksgefühl empfunden. Sie weiß ihn nicht mehr hinter Mauern versteckt. Er ist wieder frei. Darf tun und lassen was er will. Er ist wieder Mensch.
Und nun hat sie so viel zu denken, so viel, daß sie kaum merkt, wie der Zeiger der Uhr weiterrückt. Sie schreckt zusammen, als die Glocke des Fernsprechers anschlägt.
»Ja, Herr Doktor!« spricht sie hinein in die Muschel.
»Er war da, gestern gleich«, hört sie die Stimme des Anwaltes an ihr Ohr schlagen. »Frau Bothe hat zuerst sehr zurückhaltend geantwortet und dann zugegeben, daß er sie verstört verlassen hat. Wollen wir gemeinsam zu der Pension gehen?«
»Ja, Herr Doktor«, stimmt sie ohne sich zu bedenken zu. »In einer Stunde bin ich bei Ihnen. Sie wollen mich abholen. Gut! Ich halte mich bereit.«
*
Ulrich Karsten weiß genau, daß es sinnlos ist, was er tut. Die Dämmerung bricht herein, und noch immer irrt er umher. Er hat die Stadt bereits hinter sich gelassen und eine baumbestandene Straße, schnurgerade, liegt vor ihm.
Von den Wiesen steigt Kühle hervor. Ein ganz feiner Nebel, wie duftiger Schleier, zieht darüber hin.
Müde, hungrig, innerlich zerrissen, lehnt er sich gegen den Stamm einer hohen Birke, die die Straße umsäumen. Er schließt die Augen und hat das Bedürfnis zu schlafen. Schlafen, schlafen – und nichts mehr denken.
Wohin? Zu Milli Bothe? Er sieht ihr gutmütiges, kummervolles Gesicht mit den aufmerksamen Augen vor sich. Es zieht ihn zu ihrer wohltuenden Mütterlichkeit, aber vor ihrem Mitleid sträubt sich alles in ihm.
Geh zu ihr – rät eine Stimme in ihm. Dort findest du Ruhe und zu dir selbst zurück.
Rein mechanisch, wie unter einem Zwang, macht er kehrt und geht mühevoll den Weg zurück.
Er erreicht das Zentrum der Stadt, als die Kinos die Vorstellungen beendet haben und die Menschen Straßen und Gehsteige bevölkern. Autos reihen sich hintereinander. Lichtreklamen flammen auf und sinken wieder ins Dunkel. Es ist ein Bild lebendigen, anmutigen Lebens, und unwillkürlich spürt er eine Welle der Freude durch seinen Körper strömen.
Er kann wieder an diesem Leben teilnehmen. Es liegt nur an ihm. An ihm und seiner jungen Kraft, die er einsetzen muß.
Unter solchen Gedanken erreicht er die Pension Bothe. Die Tür ist noch offen, als habe man auf ihn, den verspäteten Gast, gewartet.
In der Halle brennt ein warmes, gedämpftes Licht, und der dicke Teppich fängt den Laut seiner Schritte auf. Er steigt die Treppe empor, hinauf zu den Wohnräumen, und da steht sie vor ihm, Milli Bothe. Wortlos nimmt sie ihn am Arm und führt ihn in eines der ruhigsten Zimmer.
»Wie schön, daß Sie da sind«, sagt sie nur. Nichts davon, daß sie sich maßlos um ihn gesorgt, daß man nach ihm gefragt hat, und daß ein neuer Gast, eine bildschöne, anmutige Frau ein Wohn- und Schlafzimmer bezogen hat.
An seiner erschlafften Haltung, an seinem Schuhwerk und dem durchweichten Kragen sieht sie, daß er eine große Wanderung hinter sich hat.
»Machen Sie es sich bequem, Herr Karsten«, fordert sie ihn auf und öffnet die Tür zum Badezimmer. Sie läßt das Wasser in die gekachelte Wanne laufen.
Karsten hört diese vertrauten Geräusche und hat das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Mit geschlossenen Augen genießt er die Wärme des Wassers. Ganz ruhig liegt er, und langsam, ganz langsam kommen seine aufgepeitschten Nerven zur Ruhe. Dann reibt er den Körper ab, als müsse er unsaubere Dinge wegwaschen, und frottiert sich so lange, bis die Haut krebsrot anläuft.
Als er, in frische Wäsche gehüllt, das Zimmer betritt, verharrt er sekundenlang starr in der Tür. Die Schlafcouch ist für die Nacht zurechtgemacht. Ein Tisch ist daneben aufgestellt und einladend gedeckt. Schönes, im Schein der Stehlampe blitzendes Geschirr. Eine Vase mit süßduftenden Federnelken. Die Teekanne steht auf dem silbernen Wärmeöfchen, eine Platte mit appetitlichen Schnitten.
Der Schein eines ersten Lächelns huscht über seine ernsten Züge. Liebe, gute Milli Bothe, denkt er dankbar und gerührt.
Er ist bereit, alles zu vergessen! Alles was er in den langen Monaten gelitten und das, was ihn heute zerbrochen hat.
Er schläft im Handumdrehen ein, tief und traumlos. Es ist der Schlaf eines körperlich und seelisch Erschöpften.
*
Als Ulrich Karsten am nächsten Morgen die Augen öffnet, da sitzt Milli Bothe neben seinem Lager. Sie ist verlegen.
»Verzeihen Sie, Herr Karsten, stören wollte ich Sie nicht. Ich wollte nur da sein, wenn Sie erwachen. Haben Sie gut geschlafen? Ja? Man sieht es Ihnen an.«
Er blinzelt sie aus verschlafenen Augen an. »Wie spät ist es?«
Milli Bothe lächelt. »Gleich zwölf Uhr.«
»Lieber Himmel«, fährt er entsetzt empor. »Wie kann man nur so verschlafen.«
»Haben Sie etwas Besonderes vor?« erkundigt sie sich wie nebenbei und zieht die grüne Übergardine zur Seite, damit das Tageslicht in den Raum fallen kann.
»Nur einige Besuche«, erwidert er. »Ich denke da an einige Freunde. Vielleicht können sie mir raten. Natürlich will ich sobald wie möglich wieder in meinem Beruf arbeiten.«
Nachdenklich kehrt sie zu ihm zurück. »Sie haben ja genügend Geld, Herr Karsten. Sie brauchen bestimmt keine Freunde, die Ihnen helfen sollen. Sie eröffnen ein neues Büro – und alles ist gut.«
Sie bemerkt sofort den Schatten, der seine Züge verdüstert. Er schweigt und blickt an ihr vorbei.
»Vorläufig würde ich an Ihrer Stelle ein paar Tage ausruhen. Meinen Sie nicht auch?«
Er schüttelt heftig den Kopf. »Ich brauche Arbeit, viel Arbeit.«
Und dann muß ich Marion suchen – setzt er in Gedanken hinzu. Eher habe ich keine Ruhe.
»Na schön«, sagt Milli Bothe. »Aber zuerst frühstücken Sie, Herr Karsten. Mit gefülltem Magen kann man wesentlich leichter Entschlüsse fassen.«
Sie kann so behutsam auftreten, wie eben jetzt. Man traut es der molligen Frau nicht zu. Er huscht indessen ins Bad und macht sich fertig.
Als er zurückkehrt, erscheint auch Milli wieder.
Sie balanciert ein Tablett vor sich her und deckt ihm den Frühstückstisch, nicht minder fürsorglich als am Abend vorher.
»Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?«
Sie muß darauf gewartet haben, denn sie zaubert eine zweite Tasse herbei und bedient ihn und sich.
»Heute gefallen Sie mir schon viel besser«, plaudert sie, während sie nicht müde wird, ihm die Brötchen, die goldgelbe Butter und das Glas mit der Konfitüre zu reichen. »Gestern hatte ich Angst um Sie.«
»Ich auch«, erwidert er kurz, und dann macht er eine schneidende Handbewegung durch die Luft. »Das Kapitel ist für mich auch noch nicht abgeschlossen. Zuerst muß ich etwas Abstand von den Dingen gewinnen. Seien Sie mir nicht böse. Aber noch glaube ich nicht an Marions Schlechtigkeit. Noch nicht ganz –«, setzt er leise und einschränkend hinzu. Er hebt den Blick, und sie ist erschüttert von der stummen Qual, die darin liegt, von der stummen Bitte, ihm nicht jeden Glauben zu rauben.
»Ich verstehe Sie, Herr Karsten. Sie müssen sich selbst Gewißheit holen. Aber wo wollen Sie sie suchen?«
Ratlos hebt er die Schultern. »Das weiß ich auch noch nicht.«
Karsten