Ernst Haeckel

Die Welträtsel


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größeren, gebildeten Leserkreise zugänglich zu machen. Dies geschah 1868 in der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« (Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen). Wenn der gehoffte Erfolg der »Generellen Morphologie« weit unter meiner berechtigten Erwartung blieb, so ging umgekehrt derjenige der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« weit über dieselbe hinaus. Trotz seiner großen Mängel hat dieses Buch doch viel dazu beigetragen, die Grundgedanken unserer modernen Entwickelungslehre in weiteren Kreisen zu verbreiten. Allerdings konnte ich meinen Hauptzweck, die phylogenetische Umbildung des natürlichen Systems, dort nur in allgemeinen Umrissen andeuten. Indessen habe ich die ausführliche, dort vermißte Begründung des phylogenetischen Systems später in einem größeren Werke nachgeholt, in der »Systematischen Phylogenie« (Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte). Der erste Band derselben (1894) behandelt die Protisten und Pflanzen, der zweite (1896) die wirbellosen Tiere, der dritte (1895) die Wirbeltiere. Die Stammbäume der kleineren und größeren Gruppen sind hier so weit ausgeführt, als es mir meine Kenntnis der drei großen »Stammesurkunden« gestattete, der Paläontologie, Ontogenie und Morphologie.

      Biogenetisches Grundgesetz. Den engen, ursächlichen Zusammenhang, welcher nach meiner Überzeugung zwischen beiden Zweigen der organischen Entwickelungsgeschichte besteht, hatte ich schon in der Generellen Morphologie als einen der wichtigsten Begriffe des Transformismus hervorgehoben und einen präzisen Ausdruck dafür in mehreren »Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und der phyletischen Entwickelung« gegeben: »Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung)«. Schon Darwin hatte (1859) die große Bedeutung seiner Theorie für die Erklärung der Embryologie betont, und Fritz Müller hatte dieselbe (1864) an dem Beispiele einer einzelnen Tierklasse, der Krebstiere, erläutert, in der geistvollen kleinen Schrift: »Für Darwin« (1864). Ich selbst habe dann die allgemeine Geltung und die fundamentale Bedeutung jenes Biogenetischen Grundgesetzes in einer Reihe von Arbeiten nachzuweisen versucht, insbesondere in der Biologie der Kalkschwämme (1872) und in den »Studien zur Gasträatheorie« (1873-1884). Die dort aufgestellte Lehre von der Homologie der Keimblätter, sowie von den Verhältnissen der Palingenie (Auszugsgeschichte) und der Zenogenie (Störungsgeschichte) ist seitdem durch zahlreiche Arbeiten anderer Zoologen bestätigt worden; durch sie ist es möglich geworden, die natürlichen Gesetze der Einheit in der mannigfaltigen Keimesgeschichte der Tiere nachzuweisen; für ihre Stammesgeschichte ergibt sich daraus die gemeinsame Ableitung von einer einfachsten ursprünglichen Stammform.

      Anthropogenie (1874). Der weitschauende Begründer der Abstammungslehre, Lamarck, hatte schon 1809 richtig erkannt, daß sie allgemeine Geltung besitze, und daß also auch der Mensch, als das höchst entwickelte Säugetier, von demselben Stamme abzuleiten sei, wie alle anderen Säugetiere, und diese weiter hinauf von demselben älteren Zweige des Stammbaums, wie die übrigen Wirbeltiere. Er hatte auch schon auf die Vorgänge hingewiesen, durch welche die Abstammung des Menschen vom Affen, als dem nächstverwandten Säugetiere, wissenschaftlich erklärt werden könne. Darwin, der naturgemäß zu derselben Überzeugung gelangt war, ging in seinem Hauptwerk (1859) über diese anstößigste Folgerung seiner Lehre absichtlich hinweg und hat dieselbe erst später (1871) in seinem Werke über »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« geistreich ausgeführt. Inzwischen hatte aber schon sein Freund Huxley (1863) jenen wichtigsten Folgeschluß der Abstammungslehre sehr scharfsinnig erörtert in seiner berühmten kleinen Schrift über die »Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur«. An der Hand der vergleichenden Anatomie und Ontogenie und gestützt auf die Tatsachen der Paläontologie zeigte Huxley, daß die »Abstammung des Menschen vom Affen« eine notwendige Konsequenz des Darwinismus sei, und daß eine andere wissenschaftliche Erklärung von der Entstehung des Menschengeschlechts überhaupt nicht gegeben werden könne.

      Als weitere Folgerung dieser wichtigen Erkenntnis ergab sich die schwierige Aufgabe, nicht nur die nächstverwandten Säugetier-Ahnen des Menschen in der Tertiärzeit zu erforschen, sondern auch die lange Reihe der älteren tierischen Vorfahren, welche in früheren Zeiträumen der Erdgeschichte gelebt und während ungezählter Jahrmillionen sich entwickelt hatten. Die hypothetische Lösung dieser großen historischen Aufgabe hatte ich schon 1866 in der Generellen Morphologie versucht; weiter ausgeführt habe ich dieselbe 1874 in meiner Anthropogenie (I. Teil: Keimesgeschichte; II. Teil: Stammesgeschichte). Die fünfte umgearbeitete Auflage dieses Buches (1903) enthält diejenige Darstellung der Entwickelungsgeschichte des Menschen, welche bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Urkundenkenntnis sich dem fernen Ziele der Wahrheit nach meiner persönlichen Auffassung am meisten nähert; ich war dabei stets bemüht, alle drei empirischen Urkunden, die Paläontologie, Ontogenie und Morphologie (oder vergleichende Anatomie), möglichst gleichmäßig und im Zusammenhange zu benutzen. Sicher werden die hier gegebenen Deszendenz-Hypothesen im einzelnen durch spätere phylogenetische Forschungen vielfach ergänzt und berichtigt werden; aber eben so sicher steht für mich die Überzeugung, daß der dort entworfene Stufengang der menschlichen Stammesgeschichte im großen und ganzen der Wahrheit entspricht. Denn die historische Reihenfolge der Wirbeltierversteinerungen entspricht vollständig der morphologischen Entwickelungsreihe, welche uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die silurischen Fische folgen die devonischen Lurchfische, die karbonischen Amphibien, die permischen Reptilien und die mesozoischen Säugetiere; von diesen erscheinen wiederum zunächst in der Trias die niedersten Formen, die Gabeltiere (Monotremen), dann im Jura die Beuteltiere (Marsupialien) und darauf in der Kreide die ältesten Zottentiere (Plazentalien). Von diesen letzteren treten wieder zunächst in der ältesten Tertiärzeit die niedersten Primatenahnen auf, die Halbaffen, darauf die echten Affen, und zwar von den Catarrhinen zuerst die Hundsaffen (Cynopitheken), später die Menschenaffen (Anthropomorphen); aus einem Zweige dieser letzteren ist während der Pliozänzeit der sprachlose Affenmensch entstanden (Pithecanthropus alalus), und aus diesem endlich der sprechende Mensch.

      Viel schwieriger und unsicherer als diese Kette unserer Wirbeltier-Ahnen ist diejenige der vorhergehenden wirbellosen Ahnen zu erforschen; denn von ihren weichen skelettlosen Körpern kennen wir keine versteinerten Überreste; die Paläontologie kann uns hier keinerlei Zeugnis liefern. Um so wichtiger werden hier die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie. Da der menschliche Keim denselben Chordula-Zustand durchläuft wie der Embryo aller anderen Wirbeltiere, da er sich ebenso aus zwei Keimblättern einer Gastrula entwickelt, schließen wir nach dem Biogenetischen Grundgesetze auf die frühere Existenz entsprechender Ahnenformen (Vermalien, Gastraeaden). Vor allem wichtig aber ist die fundamentale Tatsache, daß auch der Keim des Menschen, gleich demjenigen aller anderen Tiere, sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle entwickelt; denn diese Stammzelle (Cytula) — die »befruchtete Eizelle« — weist zweifellos auf eine entsprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes Protozoon.

      Für unsere monistische Philosophie ist es übrigens zunächst ziemlich gleichgültig, wie sich im einzelnen die Stufenreihe unserer Vorfahren noch sicherer feststellen lassen wird. Für sie bleibt als sichere historische Tatsache die folgenschwere Erkenntnis bestehen, daß der Mensch zunächst vom Affen abstammt, weiterhin von einer langen Reihe niederer Wirbeltiere. Die logische Begründung dieses Satzes habe ich schon 1866 im siebenten Buche der »Generellen Morphologie« betont (S. 427): »Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst aus echten Affen, entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktionsschluß, der sich aus dem generellen Induktionsgesetze der Deszendenztheorie mit absoluter Notwendigkeit ergibt.«

      Von größter Bedeutung für die definitive Feststellung und Anerkennung dieses fundamentalen Satzes sind die paläontologischen Entdeckungen der letzten Dezennien geworden; insbesondere haben uns die überraschenden Funde von zahlreichen ausgestorbenen Säugetieren der Tertiärzeit in den Stand gesetzt, die Stammesgeschichte dieser wichtigsten Tierklasse, von den niedersten, eierlegenden Monotremen bis zum Menschen hinauf, in ihren Grundzügen