Ernst Haeckel

Die Welträtsel


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letzteren und den niederen Affen.« Die angeblichen »Beweise gegen die nahe Blutsverwandtschaft des Menschen und der Affen« ergaben sich bei genauer Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse auch hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zugunsten derselben.

      Jeder Naturforscher, der mit offenen Augen in diese dunkeln, aber höchst interessanten Labyrinthgänge unserer Keimesgeschichte eindringt, und der imstande ist, sie kritisch mit derjenigen der übrigen Säugetiere zu vergleichen, wird in denselben die bedeutungsvollsten Lichtträger für das Verständnis unserer Stammesgeschichte finden. Denn die verschiedenen Stufen der Keimbildung werfen als Vererbungs-Phänomene ein helles Licht auf die entsprechenden Stufen unserer Ahnenreihe, gemäß dem Biogenetischen Grundgesetze. (Kap. 5.) Aber auch die Anpassungserscheinungen, die Bildung der vergänglichen Embryonalorgane — der charakteristischen Keimhüllen, und vor allem der Placenta — geben uns ganz bestimmte Aufschlüsse über unsere nahe Stammverwandtschaft mit den Primaten.

      Fünftes Kapitel. Unsere Stammesgeschichte.

       Inhaltsverzeichnis

      Monistische Studien über Ursprung und Abstammung des Menschen von den Wirbeltieren, zunächst von den Herrentieren.

      Der jüngste unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie ist diejenige Naturwissenschaft, welche wir Stammesgeschichte oder Phylogenie nennen. Sie hat sich noch weit später und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt als ihre natürliche Schwester, die Keimesgeschichte oder Ontogenie. Diese hatte zur Aufgabe die Erkenntnis der geheimnisvollen Vorgänge, durch welche sich die organischen Individuen, die Einzelwesen der Tiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeschichte hingegen hat die viel dunklere und schwierigere Frage zu beantworten: »Wie sind die organischen Spezies entstanden, die einzelnen Arten der Tiere und Pflanzen?«

      Die Ontogenie konnte zur Lösung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächst unmittelbar den empirischen Weg der Beobachtung betreten; sie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die sichtbaren Umbildungen zu verfolgen, welche der organische Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel schwieriger war von vornherein die Aufgabe der Phylogenie; denn die langsamen Prozesse der allmählichen Umbildung, welche die Entstehung der Tier- und Pflanzenarten bewirken, vollziehen sich unmerklich im Verlaufe von Jahrtausenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beobachtung ist nur in sehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Teil dieser historischen Vorgänge kann nur indirekt erschlossen werden: durch vergleichende Benutzung von empirischen Urkunden, die sehr verschiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morphologie. Dazu kam noch das gewaltige Hindernis, welches der natürlichen Stammesgeschichte durch die enge Verknüpfung der »Schöpfungsgeschichte« mit übernatürlichen Mythen und religiösen Dogmen bereitet wurde; es ist daher begreiflich, daß die wissenschaftliche Existenz der wahren Stammesgeschichte erst unter vielen Mühen und schweren Kämpfen errungen und gesichert werden mußte.

      Mythische Schöpfungsgeschichte. Alle ernstlichen Versuche, welche bis zum Beginne des 19. Jahrhunderts zur Beantwortung des Problems von der Entstehung der Organismen unternommen wurden, blieben in dem mythologischen Labyrinthe der übernatürlichen Schöpfungssagen stecken. Einzelne Bemühungen hervorragender Denker, sich von diesem zu befreien und zu einer natürlichen Auffassung zu gelangen, blieben erfolglos. Die mannigfaltigsten Schöpfungsmythen entwickelten sich bei allen älteren Kulturvölkern im Zusammenhang mit der Religion, und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrschaft gelangte Christentum, welches die Beantwortung der Schöpfungsfrage für sich in Anspruch nahm. Da die Bibel als die unerschütterliche Grundlage des christlichen Religionsgebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen. Auf dieses stützte sich auch noch der große schwedische Naturforscher Carl Linné, als er 1735 in seinem grundlegenden »Systema Naturae« den ersten Versuch zu einer systematischen Ordnung, Benennung und Klassifikation der unzähligen verschiedenen Naturkörper unternahm. Als bestes, praktisches Hilfsmittel derselben führte er die bekannte doppelte Namengebung ein; jeder einzelnen Art von Tieren und Pflanzen gab er einen besonderen Artnamen und stellte diesem einen allgemeinen Gattungsnamen voran. In einer Gattung (Genus) wurden die nächstverwandten Arten (Species) zusammengestellt.

      Höchst verhängnisvoll wurde für die Wissenschaft das theoretische Dogma, welches schon von Linné selbst mit seinem praktischen Speziesbegriffe verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Spezies-Begriffes, nach Inhalt und Umfang desselben. Und gerade diese Grundfrage beantwortete sein Schöpfer in naivster Weise, in Anlehnung an den allgemein gültigen Mosaischen Schöpfungsmythus: »Es gibt so viel verschiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind«. Mit diesem Dogma war jede natürliche Erklärung der Artentstehung abgeschnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig existierende Tier- und Pflanzenwelt; er hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgestorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der Erdgeschichte unseren Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert haben.

      Erst im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden diese fossilen Tiere durch Cuvier näher bekannt. Er gab in seinem berühmten Werke über die fossilen Knochen der vierfüßigen Wirbeltiere (1812) die erste genaue Beschreibung und richtige Deutung zahlreicher Versteinerungen. Zugleich wies er nach, daß in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte eine Reihe von ganz verschiedenen Tierbevölkerungen aufeinander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an Linnés Lehre von der absoluten Beständigkeit der Spezies festhielt, glaubte er ihre Entstehung nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von großen Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen in der Erdgeschichte auf einander gefolgt sei; im Beginne jeder großen Erdrevolution sollten alle lebenden Geschöpfe vernichtet und am Ende derselben eine neue Bevölkerung erschaffen worden sein. Obgleich diese Katastrophentheorie von Cuvier zu den absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten Wunderglauben hinauslief, gewann sie doch bald allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin (1859) herrschend.

      Transformismus. Goethe. Daß die herrschenden Vorstellungen von der absoluten Beständigkeit und übernatürlichen Schöpfung der organischen Arten tiefer denkende Forscher nicht befriedigen konnten, ist leicht einzusehen. Daher finden wir denn schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einzelne hervorragende Geister mit Versuchen beschäftigt, zu einer naturgemäßen Lösung des großen »Schöpfungsproblems« zu gelangen. Allen voran war unser größter Dichter und Denker Wolfgang Goethe durch seine vieljährigen und eifrigen morphologischen Studien schon am Ende des 18. Jahrhunderts zu der klaren Einsicht in den inneren Zusammenhang aller organischen Formen und zu der festen Überzeugung eines gemeinsamen natürlichen Ursprungs gelangt. In seiner berühmten »Metamorphose der Pflanzen« (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der Gewächse von einer Urpflanze ab, und alle verschiedenen Organe derselben von einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbeltheorie des Schädels versuchte er zu zeigen, daß die Schädel aller verschiedenen Wirbeltiere — mit Inbegriff des Menschen! — in gleicher Weise aus bestimmt geordneten Knochengruppen zusammengesetzt seien, und daß diese letzteren nichts anderes seien als umgebildete Wirbel. Grade seine eingehenden Studien über vergleichende Knochenlehre hatten Goethe zu der festen Überzeugung von der Einheit der Organisation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüst des Menschen nach demselben Typus zusammengesetzt sei wie das aller übrigen Wirbeltiere — »geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet« —. Diese Umbildung oder Transformation läßt Goethe durch die beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden Bildungskräften geschehen, einer inneren Zentripetalkraft des Organismus, dem »Spezifikationstrieb«, und einer äußeren Zentrifugalkraft, dem Variationstrieb oder der »Idee der Metamorphose«; erstere entspricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir Anpassung nennen. Wie tief Goethe durch diese naturphilosophischen Studien